9 Simone Lässig Vom Mittelalter in die Moderne? Anfänge der Emanzipation der Juden in Sachsen Das »lange 19. Jahrhundert« war für alle Menschen, aber für die jüdische Minderheit ganz besonders, die Zeit rasanter und einschneidender Veränderungen. Kaum eine andere soziale Gruppe wurde von dem allgemeinen Modernisierungsprozeß so tieferfaßt: Aus »Juden«, die seit Jahrhunderten am Rand der ständischen Ordnung eine rechtliche, soziale und kulturell religiöse Sonderexistenz führten, wurden - formal juristisch - gleichberechtigte »Bürger«, die sich in die entstehende moderne Gesellschaft integrierten, ohne mit ihr gänzlich zu ver schmelzen. Dieser ambivalente Prozeß verlief in den einzelnen deutschen Staaten sehr unterschiedlich. Während die Juden in Baden oder Preußen bereits in der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts Bürgerrechte erhielten, waren sie in Sachsen noch bis 1837/38 absolutistisch motivierten Son dergesetzen unterworfen. Diese Disproportionen resultierten primär aus dem Stand der all gemeinen bürgerlichen Emanzipationsbewegung, die in Sachsen erst nach 1830 politische Erfolge verbuchen konnte. Während diese Problematik von der Forschung mehrfach thematisiert wurde", ist noch weit gehend ungeklärt, welche Konsequenzen der phasenverschobene Beginn der Emanzipation für sozio-kulturelle Wandlungen im Judentum hatte und inwiefern es auch hier regionale Spezi fika gab. Dieses Desiderat erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß sich die Forschung vornehmlich auf Länder konzentrierte, für die eine aufgeklärt-absolutistische loleranzpolitik und/oder ein frühes Ringen um bürgerliche Gleichstellung charakteristisch war. So entsteht der Eindruck, als sei die Annäherung der Juden an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft - wie sie etwa durch Moses Mendelssohn oder die Berliner und Wiener Salonkultur symbolisiert wird — bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert eine zumindest für besitzende und gebildete Schichten typische Erscheinung gewesen. Die Analyse der Entwicklung in Sachsen gibt in diesem Kontext einige neue Aufschlüsse, wobei sich das Land nicht nur als noch »weißer« Fleck auf der deutsch-jüdischen Geschichtskarte auf drängt, sondern vor allem als eine theoretisch interessante Region: Sachsen nämlich steht für jenen Typus deutscher Staaten, der sich der Judenemanzipation vergleichsweise spät, d. h. noch nicht in der ersten - von 1780 bis 1814 reichenden - Phase zuwandte. Das wirft die Frage auf, inwieweit Interdependenzen zwischen Rechtsstellung und Integration bestanden: Behinderte bzw.