2 Günter Jäckel Victor Klemperers Botschaften vom Tage (Januar 1933 bis Dezember 1945) Vi Was war jüdisches Leben in Dresden vor 150 Jahren, nachdem Gottfried Semper die Syn agoge gebaut hatte; und was war es vor 57 Jahren, als sie verbrannt wurde? Und wer waren wir an jenem 10. November 1938; wer sind wir heute, die damals vielleicht zusahen? - Sollte man, wenn danach gefragt wird, dem Rat Wolfgang Hildesheimers folgen und das Wort »viel leicht« häufiger benutzen oder »durchweg im Konditional schreiben« 11 , zumal, wenn es um diese Vergangenheit geht? Denn zu unfaßbar und unerklärbar, zumindest unverstehbar ist es noch heute: wie in einem kultivierten Land gegenüber einer Bevölkerungsgruppe, die - zwi schen Moses Mendelssohn, Karl Marx und Albert Einstein, Rahel Varnhagen, Stefan Zweig oder Nelly Sachs - maßgeblich an der deutschen Kultur teilhatte, ein so primitives, mörde risches Feindbild entwickelt, in Haß oder Gleichgültigkeit akzeptiert und als perfektes Ver brechen praktiziert wurde; ein Feindbild, das - im »Stürmer« etwa - die finstersten Visionen des Mittelalters übertraf. Zu seiner Überwindung bedarf es der Mühe und des guten Willens von Generationen. So steht es uns heute nicht an, besserwisserisch in einer Art »rückwärts gekehrter Prophetie« über die Vergangenheit zu sprechen. Was not tut - und immer not tun wird -, ist Betroffenheit als Selbstbefragung; die Überwindung jener »Unfähigkeit zu trauern«, die Alexander und Margarete Mitscherlich als Makel der Unmenschen beschrieben haben; die n i Einübung von Toleranz und Brüderlichkeit als den Gegenpolen zu Vorurteilen und Gleich- Lt gültigkeit. di Die Tagebücher Victor Klemperers 2 » sind nicht im Konditional geschrieben, sondern im Indi- Z: kativ. Sie bemühen nicht das Wort »vielleicht«; sie registrieren Fakten. Er war Beobachter und w Opfer eines Verhängnisses, an dem diese Stadt teilhatte und dem sie zuletzt erlag. Er schildert zt den Alltag jener dantesken Höllenfahrt, die Thomas Mann am Schluß seines »Doktor Faustus« n i ins Bild erhoben hat, und er beschwört noch einmal die Toten: als Opfer und Mörder, als so Gleichgültige und Anteilnehmende, - Menschen, die längst zu Staub zerfallen sind wie er Z t selbst, wie die Häuser, in denen sie gelebt haben, die Straßen, durch die sie gegangen sind. In dt der suggestiven Kraft seiner Aufzeichnungen wird alles wieder lebendig; lebt die Gegenwelt ni der alten Barockstadt fort als »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt), werden die Ereignisse Si des Dresdner Alltags zu Zeichen, die Schuld und Verschuldung zu benennen vermögen. Nie S c ist das Dresden jener verhängnisvollen Jahre aus einer so engen, ganz persönlichen Perspektive in gesehen und nie ist es so aufschlußreich dargestellt worden. Klemperer, der geschulte Journa- E: list aus den Jahren 1905 und 1912, erkennt immer das Treffende und Atmosphärische, wenn H