76 Nora Goldenbogen Nationalsozialistische Judenverfolgung in Dresden seit 1938 - ein Überblick 1. 1938 - Der Beginn des Infernos 1 ’ Victor Klemperer zog in seinen Tagebüchern dieser dunkelsten Zeit jeweils am Jahresende Resümee über das vergangene Jahr. Unter dem Silvesterabend 1938 hat er eingetragen: »Ich las gestern flüchtig das Tagebuch 1938 durch. Das Resümee von 37 behauptet, der Gipfel der Trostlosigkeit und des Unerträglichen sei erreicht. Und doch enthält das Jahr mit dem heuti gen Zustand verglichen noch soviel Gutes, soviel (alles ist relativ!) Freiheit ... Gewiß ging es im Lauf des Jahres immer deutlicher abwärts. Erst der österreichische Triumph ... Dann im September die gescheiterte Hoffnung auf den erlösenden Krieg. Und dann eben der entschei dende Schlag. Seit der Grünspan-Affäre das Inferno. Aber ich will nicht voreilig behaupten, daß wir bereits im letzten Höllenkreis angelangt sind ...«. 2) Nicht nur für Victor Klemperer, sondern für viele deutsche Juden markierten die letzten Monate des Jahres 1938 den Beginn des »Infernos«. Waren die Jahre seit 1933 bereits durch eine Kombination von gesetzlichen und außergesetzlichen Schritten des nationalsozia listischen Regimes zur Ausgrenzung, Austreibung und Verfolgung der Juden in Deutschland gekennzeichnet, so vollzog sich 1938 auf dem so vorbereiteten Boden der Übergang zum öffentlichen Pogrom und letztlich zur Vorbereitung der »Endlösung der Judenfrage«. Bereits am 31. Januar 1938, so berichtete der Dresdner Anzeiger vom 01.02.1938, fand in Dresden, Bad-Weißer Hirsch, im »Weißen Adler«, eine Massenkundgebung mit Gauleiter Mutschmann und über 2 000 Funktionären und Mitgliedern der NSDAP statt, die zum Ziel hatte, eine »umfassende Abrechnung mit dem Judentum« vorzubereiten. Gleichzeitig wurden Maß nahmen bekanntgegeben, die der Vertreibung der jüdischen Kurgäste vom Weißen Hirsch dienten, mit dem Ziel, »dieses Bad zu einer durch hebräische Anmaßung nicht mehr gestörten Erholungsstätte« zu machen. 31 Martin Mutschmann forderte dort: »Wenn wir das deutsche Volk den Weg zu einer hohen Kultur und der ihm gebührenden Stellung in der Welt führen wollen, dann müssen wir uns frei machen von der jüdischen Weltpest«. 4 ’ Die Kundgebung war nur der Vorbote einer antisemitischen Propagandawelle, die ab 28. Februar 1938 unter der Bezeichnung »Aufklärungsfeldzug Völkerfrieden oder Judendiktatur« ganz Sachsen überrollte. Allein im Kreisgebiet Dresden fanden am 4. März 1938 »110 überfüllte Massenkundgebungen« statt, die die Bevölkerung auf den Beginn der Entfesselung des Infernos einstimmen sollten. 5 ’ Danach folgten die ersten »gesetzlichen« Schritte zum Entzug der materiellen Existenzgrund lagen der jüdischen Einrichtungen und der jüdischen Bürger. So wurde im »Freiheitskampf«