91 Für ein gemeinsames Erinnern Gespräch der Dresdner Hefte mit Heinz-Joachim Aris, Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde Dresden Lühr: Sehr geehrter Herr Aris, Sie kennen die Vorträge, die beim Herbstkolloquium des Dresd ner Geschichtsvereins zur jüdischen Kultur in Dresden im 19. und 20. Jahrhundert gehalten wur den. Es ging dabei auf der einen Seite um die Emanzipation der jüdischen Gemeinde, anderer seits um die verhängnisvolle Tradition des Antisemitismus und die Katastrophe der Nazizeit. Auf diesem Hintergrund wollen wir uns über zwei Themenbereiche unterhalten, die bei dem histo rischen Rückblick noch keine Rolle spielten - die Geschichte der jüdischen Gemeinde Dresden nach 1945 und das, was man heute jüdisches Selbstverständnis nennen könnte. Ich möchte beginnen mit einer Erinnerung an Helmut Eschwege, der von den schockierenden Repressalien gegen jüdische Gemeinden in der DDR an der Jahreswende 1952/53 berichtet. Im Gefolge des Slansky-Prozesses kam es damals zu antisemitischen Aktionen, zu kurzzeitigen Verhaftungen und einer extremen Beunruhigung, die zur West-Flucht von fast 30 Prozent der Mitglieder der jüdischen Gemeinden führte. Was bedeutete für Sie dieser Schock, welche Er innerungen haben Sie persönlich an dieses Trauma von neuen Restriktionen? Aris: Ich kann dazu etwas mehr aus heutiger Beurteilung sagen, als aus eigener Erfahrung. Ich bin Jahrgang 1934, war also damals noch recht jung und als 17jähriger mit anderen Dingen be schäftigt. Als Sternträger bin ich ja das erste Mal 1945 mit 11 Jahren in eine Schule gekommen und hatte immensen Nachholebedarf und, mit dem 4. Schuljahr beginnend, nicht wenig Schwie rigkeiten, Anschluß zu finden. Ich war während der gesamten Schulzeit bis zum Abitur daher sehr auf mich und meine Entwicklung fixiert. Aber natürlich habe ich die Zeitumstände mitbe kommen, die Angst vor der neuen antisemitischen Gefahr, obwohl sie mir in meinem schuli schen Umfeld nicht begegnete, die Flucht von Leon Löwenkopf. Auch der Friedhofsgärtner der jüdischen Gemeinde hat zum Beispiel alles stehen- und liegengelassen und ist Anfang 53 mit Familie in den Westen geflohen. Nach den Jahren des Holocaust waren das beängstigende Er scheinungen. Ganz unerwartet kamen sie aber auch wieder nicht. Mein Vater, auch im Gemeinde vorstand, wurde 1949/50 zweimal wegen vermeintlicher Unregelmäßigkeiten in dem von ihm geleiteten Betrieb verhaftet, wobei ein antisemitischer Hintergrund eben nicht auszuschließen war. Sicher ging es aber auch um den Besitz der noch nicht dem Staat gehörenden Betriebe. Lühr: Wurden diese Repressalien von Ihnen primär antisemitisch empfunden oder hat man dies auch auf den Kalten Krieg und seine Absurditäten zurückgeführt?