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Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt : 24.01.1908
- Erscheinungsdatum
- 1908-01-24
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1841109282-190801247
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1841109282-19080124
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1841109282-19080124
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungHohenstein-Ernstthaler Tageblatt
- Jahr1908
- Monat1908-01
- Tag1908-01-24
- Monat1908-01
- Jahr1908
- Titel
- Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt : 24.01.1908
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lehnen. Gestern sind eS nicht bloß Arbeitslose gewesen. Wenn die Sozialdemokratie in der Marseillaise singt von dem „Unverstand der Massen", so spottet sie ihrer selber. DaS Schwert des Geistes ist in der Rüstkammer der Sozialdemokratie nicht zu finden. (Zurufe rechts: Aber Ziegelsteine!) Wie steht es mit der „harmlosen Detona- twn", durch die gestern beinahe ein seinen Dienst ver sehender Schutzmann erschossen worden wäre? Schutz leute sind doch nicht abschießbar wie schußsrcie Tiere! (Sehr gut!) Wo war gestern die sozialdemokratische Intelligenz, die sonst immer das große Wort führt? Der Ehrenplatz in erster Reihe ist Unbeteiligten eingeräumt worden! (Lebhaftes Bravo !) Die Führer handelten nach dem Grundsatz: Körperliche Abwesenheit ist besser als Geistesgegenwart. (Große Heiterkeit.) Wo es sich um Gefahren handelt, da haben sich die Junker immer noch in erster Reihe befunden; ahmen Sie den Junkern nach! (Lebhafter Beifall.) Mit Entrüstung weise ich darauf hin, daß Frauen und Kinder ausgcfordert wurden, mit in die Versammlungen zu kommen — um als Schild gegen die Polizei zu dienen. (Tosender, andauernder Lärm bei den Sozialdemokraten. Abg. Bebel droht dem Redner mit der Faust, Abg. Stadthagen ruft andauernd: Verleumder Gemeinheit, elender Schuft!, der Vizepräsident Kämp bleibt mit einer Bemerkung in dem Lärm unverständlich. Ich erwarte, daß die Behörden mit aller Rücksichtslosig keit vorgehen, dann sollen Sie sehen, daß in Preußen mit derartigen Straßendemonstrationen nichts zu machen ist. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen rechts, Zischen bei den Sozialdemokraten.) Abg. Graf Homprsch (Zentr.) verliest eine kurze Erklärung des Inhalts: In einem Staatswesen der all gemeinen Schulpflicht, der allgemeinen Wehrpflicht, der allgemeinen Steuerpflicht muß es als ein Widerspruch er scheinen, wenn einzelne Teile der Bevölkerung durch das Wahlsystem von einer Vertretung ihrer Rechte und Interessen ausgeschlossen sind. Dieser Widerspruch muß um so peinlicher wirken, je länger er aufrechterhalten wird. Das Zentrum erachtet darum die Ausdehnung des Reichs- lagswahlrechts auf Preußen als Notwendigkeit. (Beifall im Zentrum und links.) Abg Kassermanm (natl.): Im Reiche halte seine Partei an dem bestehenden Wahlrechte fest. Der Gegen stand der vorliegenden Interpellation, das preußische Wahlrecht, sei Landessache. Deshalb lehne seine Fraktion es ab, in die einschlägigen Erwägungen ihrer Freunde im preußischen Landtage hineinzureden. Nun zu Punkt 2 der Interpellation: Die „Leipz. Volksztg." sagte neulich mit Recht, die Demonstrationen seien ein Musterbeispiel dafür, „wie Revolutionen entstehen können". Auf dem „Sozialdemokratischen Preußentage" ist vom Genossen Adler-Kiel und anderen Genossen ganz treffend dargelegt worden, welchen Gefahren man sich durch solches Hinaus gehen auf die Straße aussetze. Und trotz solcher Erkennt nis zieht man jetzt auf die Straße. Wenn das geschieht, so tragen offenbar diejenigen die Verantwortung, die zu solchen Demonstrationen raten und die als Führer durch ihre Hetzreden die Leute zu so etwas verleiten. Es kann ihnen doch wohl auch nicht entgangen sein, daß unter solchen Straßendemonprationen sich die Aussichten eines guten Vereins- und Versammlungsrechts sehr verschlechten haben. Daß in diesem Falle die Demonstrationen plan mäßig organisiert wurden, ist zweifellos, und da hätte die Polizei unverantwortlich gehandelt, wenn sie nicht eben falls planmäßig vorgegangen wäre, um ein Eindringen so großer Massen in die innere Stadt zu verhüten. Auch die Konsignation der Truppen kann nur unsere Billigung finden. Wir hoffen, daß auch in Zukunft bei uns alles geschehen wird, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. (Lebhafter Beifall.) Abg. Träger (sreis. Volksp.) erklärt, seine Freunde stünden auf dem Standpunkte, daß das gleiche, geheime und direkte Wahlrecht das richtigste Wahlrecht sei, und daß das gegenwärtige preußische Wahlrecht Mängel habe, die jeder Beschreibung spotten. Redner sucht dann die Reichskompetenz in dieser Frage damit zu begründen, daß die Ausführung auch der Reichsgesetze durch einzelstaat liche Behörden geschehe, und daß, wenn in den Einzel staaten die Fundamente der Verfassung mangelhaft seien, die Gefahr bestehe, daß die Reichsgesetze schlecht auS- geführt würden. Die Erklärung dcS Reichskanzlers am 10. Januar sei jedenfalls hinter allen Hoffnungen seiner Freunde weit zurückgeblieben. Nicht einmal ein einziges persönliches — Zitat habe die Erklärung enthalten. (Große Heiterkeit.) Befremdlich sei es doch, wenn der höchste Reichsbeamte, der Mann, der mit dem Reichstagswahl rechte doch sehr zufrieden sein könne, behaupte, datz dieses Reichswahlrecht dem Staatswahle widerspreche. Redner wendet sich dann gegen die Demonstrationen, mit denen nicht Anhänger für ein besseres Wahlrecht geworben, sondern verscheucht würden. Vrbprink Koheulohr-Lauyrndyrg (Hosp der Reichsp.) wendet sich mit Rücksicht auf den föderativen Charakter des Reiches gegen einen Eingriff des Reiches in wichtige Rechte der Einzclstaaten und verurteilt die Straßendemonstrationen. Abg. Kokle (wirtsch. Ver.) billigt mit seinen Freunden die Erklärung des Reichskanzlers in jeder Beziehung. Als Mitglied des preußischen Landtags würde er sich eine solche Einmischung des Reichstags verbitten. (Redner muß wegen einer Herzaffektion seine Rede abbrechen und tritt wankend von der Tribüne ab, was anscheinend in folge eines Mißverständnisses große, langandauernde Heiterkeit (!) hervorruft.) Abg. Schrader (freis. Ver.) tritt für Uebcrtrogung des Reichstagswahlrechts auf Preußen ein. Auch die Sozialdemokraten würden wohl einsehen, daß die Straßen demonstrationen keinen Nutzen haben. Abg. Lieberman« o. Oouaeaberg (wirtsch. Ver.) teilt mit, sein FraktionSgenosse Kölle sei herzleidend und soeben auf ärztliche Anordnung im Siechkorbe nach Hause gebracht worden. Abg. Payer (Südd. Vp.) erklärt, in Süddeutschland herrsche große Entrüstung über die despektable Behand lung, die Fürst Bülow am 10. Januar dem Reichstags wahlrechte habe angedeihen lassen. Redner fordert für ganz Deutschland ungefähr gleichartige Wahlrechte. Ueber die Straßendemonstrationen urteilt er ähnlich wie Träger. Man sollte nicht mit dem Feuer spielen. Wir lehnen es ab, der an uns ergangenen Aufforderung zu folgen, und zu einer rein oppositionellen Stellungnahme zurückzu- kehren, weil wir die Schattenseiten einer solchen Stellung kennen gelernt haben. (Heiterkeit.) Aber wir werden für jede einzelne Entschließung, die wir demnächst zu fassen haben werden, aus diesen letzten Vorgängen eine Lehre ziehen. Abg. Korfanty (Pole) erklärt, seine Freunde würden in dem Verlangen nach einem Wahlrechte noch bestärkt durch die Enteignungsvorlage in Preußen. Abg. Zimmerman« (Reformp.) sührt auS, daß die preußische Wahlrechtsfrage nicht vor bas Forum des Reichstages gehöre und verurteilt die Demonstrationen auf den Straßen. Abg. Wettert» (Elsässer) rät den Sozialdemokraten, sich künftig bei solchen Anlässen immer auf Elsaß- Lothringen zu beziehen, da immer, wo das Reich zuständig sei, der Reichskanzler zu antworten gezwungen sei. (Große Heiterkeit.) Hierauf wird ein Antrag auf Vertagung an genommen. Ein Antrag Singer, die Besprechung der Inter pellation morgen fortzusetzen, wird gegen Polen, Zentrum, Sozialdemokraten und einige Freisinnige abgelehnt. Donnerstag: Scheckgesetz und andere Vorlagen. Aus dem KeiAe. Matrikularbetträge. Dem Reichstage ist eine Besprechung der nach dem ReichShaushaltSetat für 1908 aufzubringen- den Matcikularbeitiäze zugegangen. Danach haben die deutschen Staaten insgesamt fast 320 Mill. Mk. an Matrikularbeiträgen aufzubringen; das ist über 28 Millionen mehr, als im Etat für 1907 ange- etzt waren. Die geplante Erhöhung der Beamten- ;ehälter ist dabei noch nicht berücksichtigt. Rationalliberale Anträge im Reichstage. Dem Reichstage gingen folgende nationalliberale Resolutionen zu: 1) den Reichskanzler zu ersuchen, >m Anichluß an den zu erwartenden Entwurf für sie Strafprozeßordnung den Emwur eines Gesetzes vorzulegen, durch den der Straf» o o l l zu g einheitlich für das deutsche Reich ge regelt wird ; 2) den Reichskanzler zu ersuchen, einen Gesetzentwurf betreffend Strafrecht, Straso.-ifahren und Strafvollzug hinsichtlich der von fügend- ichcn Personen begangenen Straftaten vorzu legen. Eine osfiziöfe Erklärung zur Oftfeefrage. Die Nachricht von der Einleitung diplo matischer Verhandlungen zwischen den Ostseemächten hat sogleich wieder die bekannten Federn in Bewegu >g gesetzt, die fortdauernd bemüht ind, die internationale Stellung Deutschlands durch Aufstellung gewagter Kombinationen oder unbegrün deter Verdächtigungen zu erschweren. In einer offiziösen Zuschrift der Süddeutschen Reichtkocrespon- oenz wird dazu angeführt: Der Deutschland so vielfach unterstellte Gedanke, dar Ostscebecken den Anliegerstaaten oorzubehalten und gegen andere Matte abzuschließen, hat an keiner amtlichen deutschen Stelle bestanden und ist niemals von berufener Seite geäußert worden. Alles was man über cemsche Sondierungen bei Rußland oder an anderen Stellen im Sinne des wäre dausum (S. h die Abschließung der Ostsee) erzählt hat, ist auf Irreführung der öffentlichen Meinung be- rrchnet. Unsere Diplomatie hat gar keinen dahin gehcndkn Antrag gestellt. Dasselbe gilt von der in englischen Blättern schon behandelten Nordsee» frage. W r sind aber der Einladung zu einem Ge» aankenaustausch zwischen den Uferstaaten bereit willig gefolgt. ES ist ja schon öffentlich bekannt geworden, daß diese Besprechungen eine E r » klärung über den 3tatu 8 ezuo zum Ziel nehmen. Der Begriff Status czuo bezieht sich aber nicht auf das Ostseebecken als Meer und auf seine Ein» und AuSgänge, sondern auf den Territo rialbesitz der Uferstaaten an den Rändern deS Beckens . . »ahlrechtSdemo«stralio«eG. Anläßlich der Eröffnung deS braunschwei gischen Landtags wurden gestern abend gegen 6 Uhr lärmende Demonstrationen zugunsten des allgemeinen Wahlrechts vor dem Schlöffe und dem Landschaftshause veranstaltet. Die Polizei zerstreute die Menge, die sich dann unter Johlen und Pfeifen nach dem GewerkschaftShause begab, wo eine Ver sammlung stattfand. Nach einem weiteren Telegramm kam eS gestern abend am Bohlweg in Braunschweig zu einem wetteren Zusammenstoß zwischen Demonstranten und Polizei. Die Schutzleute wurden mit Flaschen und Steinen beworfen. Die Polizei nahm eine Reihe Verhaftungen vor. Eine Anzahl Personen wurden verletzt. Die lokale sozialdemokratische Partei- leitung soll aus Anordnung des Berliner Zen- traloerbaudes die Demonstration inS Werk gesetzt haben. Der Herzog verließ bereits gegen >/,8 Uhr das Hoflhealer und begab sich inS Schloß, weil die Absicht bestand, nach Schluß des Theaters eine Kundgebung gegen den Herzog zu veranstalten. Um 10 Uhr war alles ruhig. Zu de« »erliner Stratzenkrawalle«. Wegen der Zusammenrottung am Schiff» bau er dämm in Berlin sind gestern mittag vier Personen im Alter von 18 bis 20 Jahren, zwei Arbeiter, ein Tischler und ein Bäcker, als Rädels- fühiec und weil sie von dem Neubau am Schiff dauerdumm Steine auf die Schutzleute geworfen haben, wegen Aufruhrs dem Staatsanwalt vor geführt worden. ES ist sitzt im Polizeipräsidium eine Aufruhrkommission gebildet worden, die die Personen feststellen soll, die unter Anklage zu stellen sind. Die Arbeiter von dem Bau .deS neuen Operettentheaters, der der Schauplatz blutiger Auf tritte war, erklärten sich bei der Vernehmung sämt lich als nichtschuldig. Nur „aus Versehen" wollen sie die Schutzleute, die Demonstranten aus dem Versteck des Baues hervorholten, bei der Arbeit mit den Spaten an den Beinen getroffen haben. Es wurden aber auch Balken und Steine gegen die Beamten geschleudert. Am ReichstagSgebäude waren zistern mit Kreide hergcstcllte Pfeile entdeckt worden, sie noch der Richtung deS Schlosses zeigten. Die Pfeile wurde auf Veranlassung der Polizei entfernt Der Straßenverkehr zeigte im übrigen keine Ver änderungen gegen dar gewohnte Alltagsleben. Aus dem rheinisch westfälischen Kohlenrevier. In der gestrigen Versammlung der Verlierer fast sämtlicher Grubenoerwaltungen des rheinisch westfälischen JndustriebezirkeS wurde der seit Anfam der 1830i r Jahre bi stehende A n s st a n d S v e r- sicherungS verband, dessen Vertragsperiode mii dem 1. Februar dieses Jahres abläufl, nach einig n Satzungsänderungen auf die Dauer von fünf Jahren verlängert. Das Urteil im Prozeß Peters. DaS gestern nachmittag vom Schöffengericht in Körn verkündete Urteil in der Prioatklage Dr. PeterS gegen die „Kölnische Zeitung" lautet gegen den Redakteur Brüggemann auf G und § 21 Absatz 2 dcS PceßgesetzeS auf Freisprechung. Der Angekiagre v. Bennigsen wurde wegen öffentlicher Beleidigung zu 100 Mk. Geldstrafe oder 20 Tagen Haft verurteilt. Dem Prioatkläger wird die Befugnis zugesprochen, binnen vier Wochen auf Kosten deS Angeklagten v. Bennigsen daS Urteil in der „Kölnischen Zeitung" bekanntzumachen. In der Begründung heißt eS, daß der Wahr» heitSbeweiS für die Behauptung, daß Petert in dem Brief an den Bischof Smithies geschlechtliche Motive für die Hinrichtung des Mabruk und Ke Jagodja zugestanden habe, mißlungen sei. Petert habe im Gegenteil das bestritten. Auf Grund der Behauptungen der Zeugen und Sachverständigen kommt das Gericht zu der Ansicht, daß geschlechtliche Motive bei den Hinrichtungen nicht erwiesen seieu. Auf Grund der §8 186 und 200 deS Strafgesetz, buche- sei der Angeklagte v. Bennigsen daher zu bestrafen. Der Schutz des 8 193 sei ihm nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht zuzubillige». AIS strafmildernd komme jedoch in Betracht, daß v. Bennigsen nicht aus unedlen Motiven gehandelt habe, deshalb sei der Angeklagte nur wegen übler Nachrede zu bestrafen. DaS Gericht sei der Ueber- zeugung, daß o. Bennigsen bei der Abfassung der Behauptungen von deren Wahrheit überzeugt gewesen sei. Straferschwerend komme aber immerhin die Schwere der Beleidigung in Betracht. Sine lehrreiche «egenüverstellumg. Ein neckischer Zufall hat eS gefügt, daß die Berliner Anwaltskammer ein disziplina» rische« Einschreiten gegen den wegen seiner anti militaristischen Wühlereien verurteilten Rechtsanwalt Liebknecht fast im selben Augenblicke abgelehnt hat, als der DiSziplinarrat der Pariser Adoo- taten kammer beschloß, den Antimilitaristen Gustav Hero6, der wegen seiner Beleidigung der Armee zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde, von der Adookatenliste zu streichen. So be wertet man den Antimilitarismus im republika nischen Frankreich. «Äuv dem Zustande. Das frauzSfifche Doppelspiel i« Marokko. Dem „Matin" zufolge hat der Ministerpräsident Clemenceau mehreren politischen Persönlich keiten gegenüber bezüglich der marokkanischen Frage erklärt, dem General d' Amade sei genaue und einfache Weisung gegeben worden, nämlich in der Gegend von Casablanca Ordnung zu schaffen. Zu diesem Zwecke habe der General völlig freie Hand erhalten. In den Häfen werde Frankreich, entsprechend dem ihm erteilten Mandate, die Ruhe aufrechterhalten und zu diesem Zwecke seine Schiffe daselbst belassen. In die inneren Streitigkeiten Marokkos werde sich Frankreich nicht einmischen. d'Amade habe den Befehl bekommen, unter keinen Umständen seine Truppen in den Dienst Abdul Aziz' zu stellen. Allerdings könne Frankreich nicht vergessen, daß der einzige, tatsächlich anerkannte Sultan Abdul Aziz sei, dessen Unterschrift sich auf der AlgeciraS-Akte befinde. Ebenso könne die französische Regierung nicht vergessen, daß Muley Hafid den heiligen Krieg gegen Frank reich angekündigt und Steuerfreiheit versprochen habe, wodurch die finanzielle Unordnung im Lande noch vermehrt w^rde, und daß er ferner die Absicht kundgegeben habe, keinen Fremden in Marokko zu dulden und keinerlei Beziehungen zu fremden Regie- rungen zu unterhalten, daß er also die von Marokko in AlgiciraS übernommenen Verpflichtungen zerreißen wolle und an olle zivilisierten Nationen eine wahre Herausforderung gerichtet habe. Das alle« könne Frankreich ebensowenig vergessen, wie daß in diesem gegenwärtigen Augenblick sämtliche Mächte Abdul Aziz als den einzig gesetzmäßigen Sultan in Ma- -okto ansehen. — Wenn General d'Amade wirklich von der fcunzöstschen Regierung Befehl erhalten hat, unter keinen Umständen seine Truppen in den Dienst deS abgesetzten Sultans zu stellen, so hat er diesem Befehl gröblich zuwidergehandelt, denn er hat soeben alle französischen Kräfte aufgebotcn zu einem Vor stoß. der keinen anderen Zweck hatte als den, Muley Hafid zugunsten seines den Franzosen dienstbaren Bruders Abdul Aziz von Fez abzuschneiden. WaS die Behauptung angeht, Abdul Aziz sei der einzige talsächlich anerkannte Sultan, so ist auch an ihr nichts zu bewundern als die Unbefangenheit, mit der Herr Clemenceau sie zum besten gibt. Nach marokkanischem Recht ist Muley Hafid ein durch aus rechtmäßiger Sultan. Leute, die sich angeblich „nicht in innermarokkanische . ngelegen- heiten einmischen" wollen, müßten also dem arm» eligen Sultan Abdul Aziz eS überlassen, sich mit Muliy Hafid auSeinanderzusetzen, so gut der Schwäch ling eS kann. Die Franzosen tun aber daS Gegen- nii, sie brechen täglich die AlgeciraS-Akte aufs gröb- Mittellose Mädchen. Roman von H. Ehrhardt. 41. Fortsetzung. (Nachdruck verdoren., Und eine unendliche, tiefe Zärtlichkeit ließ ihn innige Liebesworte finden, die er leise in das kleine, rotglühende Ohr unter dem schwarzen Pelzmützchen raunte. Suse hatte noch kein Wort gesprochen. Nur das Erzittern des dicht an ihn gedrängten Mäd chenkörpers gab ihm Antwort auf seine Zärtlich keiten. Da sagte er endlich neckend: „Nun ist's aber genug, mein Süßes, Du weinst mir ja den ganzen Aermel naß. Na, schnell, guck mich mal an." Unter Tränen lachend folgte sie seinem Wunsche. Im Laternenschein sah er deutlich das ungläubig glückselige Leuchten der geliebten Augen, den noch vom Weinen zuckenden roten Mund. Rasch neigte er sich zu ihr herab und drückte einen flüchtigen Kuß auf die halbgeöffneten Lippen. Es genügte, sie beide in einen Wonnerausch zu ver- sitzen. „Hast Du mich denn noch lieb, Fritz?" jauchzte Suse, die erst allmählich zum Bewußtsein ihres Glückes kam, und hing sich mit beiden Armen in den seinen. „Ich hab' Dich sehr, sehr lieb, Suse!" bestätigte er ernst. Sie verschluckte die Frage, die unwillkürlich in ihr aufstieg, warum er sie dann damals im Stich gelassen habe, weun er ihr sogar heut noch gut sei. Sie hatte ein schlechtes Gewissen in diesem Punkte und schob ganz gern die Erörterung dar- über noch ein wenig hinaus. So fragte sie zunächst nur: „Wie kommst Du denn hierher, Liebster? Bist Du etwa nur auf der Durchreise?" Er schüttelte glücklich lachend den Kopf. „Nein, so bald wirst Du mich nicht wieder los, Liebling, ich bin auf drei Jahre zur Kriegsakademie kommandiert." Sie schlug in Hellem Jubel die Hände zu sammen. „Ach, Fritz, wie mich das für Dich freut. Es war ja schon damals Dein Wunsch." Die Erinnerung an die Vergangenheit warf einen leichten Schatten über beide hin, den sie ver gebens bekämpften. „Ich muß jetzt nach Haus!" flüsterte Suse be fangen, „hier ist meine Tür." Er hielt sie am Arme fest. „Bleib noch! Wir haben uns ja noch so viel zu sagen, so vieles aufzuklären — Suse, ich war mal sehr böse auf Dich und sehr unglücklich —" „Ich werd' Dir schreiben!" stotterte das ver wirrte Mädchen, von jäher Angst befallen, „sag mir Deine Adresse — ich kann jetzt nicht länger bleiben, Ruth ist so streng, sie rechnet mir genau die Zeit nach, in der ich zu Hause sein muß. Und da ich ihr doch nicht sagen darf —" setzte sie in halber Frage hinzu Er runzelte flüchtig die Brauen. „Nein, sage noch nichts, Sus', erst müssen wir beiden uns völlig ausgesprochen haben. Wann und wo treff' ich Dich wieder, Lieb?" Eine tiefe Betrübnis huschte über ihre beweg lichen Züge. „Das wird schwer halten, ich weiß wirklich nicht — " „Wo kamst Du denn heut her?" „Ich gebe Klaoierstunden", sagte sie leise, „es geht uns sehr schlecht, Fritz, seit auch Mama iot ist." Er biß sich auf die Lippen. Seine Nasenflügel zuckten in verhaltenem Schmerz. „Mein armes Kleines!" Er war neben ihr in den matterhellten Haus flur getreten und legte nun zärtlich Ken Arm um ihre junge Schultern. „Komm, laß Dir den traurigen Zug um den Mund fortkllssen — mir ist's auch nicht gut er gangen, ich erzähl' Dir davon das nächste Mal —" Er küßte immer wieder den rosigen Mund, der sich ihm willig darbot, und als sie sich endlich trennten, hatte er ihr das Versprechen abgeschmeichelt, daß sie nächsten Mittwoch ihre Klavierstunde um 2 Uhr absagen und ihn an der Ecke der Pots- damerstraße treffen wolle. * * * Suse MeridieS verlebte die folgenden Tage wie im Rausch. Der schäumende Becher ihres Glücks lief beständig über, was sich in plötzlichen Zärtlich- keitsausbrüchen gegen die ältere Schwester und in tollen Neckereien der beiden Brüder offenbarte. Sie sprach wieder sehr viel von dem Glück, das sie sich doch noch erzwingen werde, und trug eine Zuversicht und einen Uebermut zur Schau, der Ruth förmlich beängstigte. Am Montag erklärte sie, früh direkt von der Klavierstunde aus Tante Hertz- berg einen Besuch abstatten zu wollen, schlüpfte zu diesem Zweck in ihren ältesten Rock und die abge tragene Winterjacke, stülpte die stark mitgenommene Pelzmütze auf das Blondhaar und machte sich in diesem schäbigen Aufzuge triumphierend hinter Ruths Rücken davon. Als sie nach drei Stunden (die Geschwister saßen schon beim Mittagsbrot) zurückkehrte, führte sie einen wahren Indianer-Freudentanz auf, dem endlich die Mitteilung folgte, daß Tante Hertzberg ihr als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk heut ein voll ständiges Kostüm, Ruck, Bluse und Jacke gespendet und daß sie selbst sich aus eigenen Mitteln einen neuen Hut dazu gekauft habe. „Na; es war höchste Zeit!" warf Heinz spöttisch lächelnd ein, „hab' Dich man nicht so — die Olle merkt so was ja gar nicht an ihrem Geldbeutel — sie wird sich wohl nicht zu arg angestrengt haben." „Schweig!" schrie Ruth empört auf, „Du bist noch viel zu jung, um in solchem Tone von einer alten Frau zu reden, die uns nur Gutes und Lieber erwiesen hat — im übrigen müßte es unser Stolz verbieten, daß wir bei gesunden Gliedern zu anderen Leuten betteln gehen, mögen die's auch tausendmal im Ueberfluß haben." Während Heinz von der Schroffheit ihres Auf tretens momentan eingeschüchtert schwieg, brauste Suse auf: „Ich habe gar nicht gebettelt. Tante hat mich gebeten, eine Besorgung mit ihr zu machen und im Laden hat sie dann ein Kleid für mich »erlangt. Sollte ich da vielleicht vor allen Leuten erklären, ich brauche keins oder ich ließe mir keins schenken? — Nee, i§ nicht, um den Hals bin ich ihr gefallen und hab' sie halb totgekllßt. Aber da klingelt's, das ist sicher der Bote aus dem Geschäft." Wie ein Sturmwind fegte sie aus der Tür und kam gleich darauf strahlend mit ihren Schätzen zurück. Ruth stand machtlos vor der vollendeten Tatsache — sie sagte kein Wort mehr. In diesem Punkte kämpfte sie vergebens, das wurde ihr sünd- lich klarer, sie mußte sich zufrieden g ben, daß Suse wenigstens ihre Klavierstunden ernst nahm und zur Zufriedknheit der verschiedenen Eltern auL- führte. Fortsetzung folgt.
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