Der Querschnitt

DAS PHÄNOMEN RACHILDE Von SIR GAL AH AD M onsieur Venus, la Marquise de Sade, l’Heure sexuelle, 1’Animale, Ma dame Adonis, les Hors-Nature heißen Bücher der Rachilde und sie heißen nicht nur, sie sind so. Auch Skandal gab es genug, Anklage, Ver urteilung durch entfesselte Behörden, sittliches Empfinden, gesunden Menschen verstand, öffentliche Meinung und andere Unbefugte. Trotz alledem bleiben ihre Auflagen — wenigstens nach französischem Maß — nobel niedrig, gleich denen der Dichter, weil diese sonderlich ungemeine Frau sich nie ohne weiteres zur literarischen „vendeuse de frissons“ hergegeben hat für allerhand curios kon struierte Rüsseltiere; vielmehr stammt das Gegeneinanderwerfen erotischer Tem peramente zu noch nie dagewesenen Kon stellationen bei ihr aus einer schlechthin genialen Zone. Diesem phantastischen Hochland entwachsen die Gipfel ihrer ver wegenen Enthusiasmen, erst dort liebkost sie die Chimäre. Ihr Werk, geprägt vom fiebernden Bereich hochkurviger Be gabung, hält Form und durchaus mehr als es verspricht: ist Kunst, nicht Cochonnerie. Enttäuscht läßt das breite Publikum somit die faunisch froh gespitzten Ohren wieder hängen. „Aktivistische“ Zeitalter pflegen eben, dem Grad ihres veräußer lichten Fanatismus nach, innerlich stumpf, feig, vor allem fühlfaul zu sein. Nein, dieser ist entschieden kein Aeon der Liebe! Er boxt, duscht, fliegt, jazzt in einsilbiger Betriebsamkeit, und Geschlecht ist ihm Andri Derain e i ne hygienische Maßnahme verschiedenen Systems, doch ohne seelische Nebenspesen. Nichts fürchtet er so sehr, wie ein melodramatischer Esel zu scheinen; das ver söhnt wieder mit ihm. Für das Phänomen Rachilde ist er allerdings um eine Dimension zu gering geraten -— für einiges andere auch. Wer jenem nahekommen will, hat zu bedenken, daß so ganz einzigartig eigenwillige Talente sich nur erfüllen können kraft eines breiten Erbgutes, das ihnen zum Grunde liegt. Sein Halt erlaubt ihnen beinahe alles, ohne Gefahr, dabei strampelnd ins Geschmacklose zu fallen. Wundervoll nun und mehrfacher Art ist das Erbgut der großen fran zösischen Epik. Sie hat in sich die Weite heidnischer Weisheit und die hohe Trunkenheit des Kathedralenhaften, nüchterne Fülle von den Enzyklopädisten und, unzerstörbar, durch alles hindurch, das Urlachen der Unzucht. Ihr stellt sich zur Hand eine Sprache, durchsichtig moduliert, wie dünn gearbeitete 344