Das Märchen vom Harem Von Suad Derwisch „Ein Praline gefällig, gnädige Frau, ein ganz kleines?“ „Vielen Dank, aber ich liebe keine Süßigkeiten!“ „ ... Sagen Sie, gnädige Frau, wie kommt es dann, daß die Türkinnen so korpulent sind?“ „Die Türkinnen sind korpulent? — Aber, mein Herr, ich wiege nur 45 Kilo!“ „Nun ja, Sie sind eben eine Aus nahme. Aber ich meine . . . das ruhige Leben in einem Harem, der Luxus, das Nichtstun, das gute Essen und alles das, da wäre es doch erklärlich, wenn . . „Was für einen Harem meinen Sie denn? So etwas gibt es ja gar nicht! Der Harem hat in der Türkei niemals in dem Sinne bestanden, den man ihm in Europa beigemessen hat: — ein Harem, in dem der Pascha eine Frau nach der anderen geliebt hätte.“ „Aber die Paschas,... die Paschas hatten doch viele Frauen!?“ „Wissen < Sie denn überhaupt, was ein Pascha ist?“ „Ja, ein Pascha ist ein reicher und mächtiger türkischer Aristokrat, der viele Paläste, Frauen, Sklaven usw. hat.“ „Das ist nicht grade die richtige Definition. Ein Pascha ist ein Offizier!“ „Ein Offizier? . . .“ „.. der türkischen Armee, der Jahre und Jahre hindurch alle militärischen Ränge durchlaufen und General wer den muß, um den Titel eines Pascha zu erhalten. Man gab diesen Titel auch bedeutenden Zivil-Persönlichkeiten des Staates. Aber heute gibt es das nicht mehr.“ „Nun, und ist ein Pascha denn nicht reich?“ „Wenn er nicht grade das per sönliche Glück hat, dann ist es wohl schwierig, mit einem Offiziersgehalt Reichtümer zu ersparen. Aber früher war es wohl für einen Türken von guter Abstammung leicht, diesen Titel zu bekommen. Dann gab es auch Pa schas, die in besonderer Gunst standen, die Häuser mit 30 bis 40 Zimmer hatten, aber... es gab auch eine große An zahl von Paschas mit kleinen beschei denen Häusern, die nicht besser als die eines kleinen Zivilbeamten eingerichtet waren. Denn in der militärischen Lauf bahn lebt man bekanntlich nicht lange in ein und derselben Stadt; und wie soll man dann plötzlich all die schönen Möbel zusammenpacken, und vielleicht noch 30 Frauen in seinem Gefolge haben? ,Ein Pascha mit mehreren Frauen!' — aber oft genug wäre er sehr glücklich gewesen, wenn er nur eine gefunden hätte, die ihm überallhin folgte . . .“ „Aber, Sie sagten doch, daß die Polygamie in der Türkei niemals be standen hat!?“ „Nein, . . . das heißt, sie ist den noch, wenn auch selten, vorgekommen, obwohl das Gesetz dem türkischen Mann gestattete, vier legitime Frauen zu haben und so viele Odalisken, wie er brauchte.“ „Warum nutzte das der Mann nicht aus?“ „Vielleicht konnte es der Arbeiter und Kleinbürger nicht, weil es ihn zu viel Geld gekostet hätte, und der Mann aus besseren Kreisen tat es nicht aus Edelmut und Rücksicht gegen seine Gattin, aus Kultur und Zivilisation. Trotzdem liebten es die türkischen Frauen zu glauben, daß es ein Triumph ihrer Schönheit sei, und daran zu denken, daß sie geschickte und liebliche, anmutige Wesen sind, die die Kunst geliebt zu werden sehr gut beherrschen.“ „Aber nun kann ich mir unter einem Harem gar nichts mehr vor stellen. Erzählen Sie mir doch bitte, was das in Wirklichkeit gewesen ist!“ „Das Wort ,Harem' bedeutet so viel wie ,Interieur'. Der Harem ist das Innere eines türkischen Hauses . . . 773