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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.11.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-11-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19031103028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903110302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903110302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
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Vor dem äußersten Schritte, die liberale Theologie überhaupt von den Lehrstühlen der Uni versitäten zu verbannen, hat man sich gehütet. Schon in der Kommission hatte man sich bemüht, die scharfen Forde rungen einzelner Provinzialsynoden und anderer kirchlicher Bereinigungen herabzumildern, aber doch war in ihrem Be schlüsse noch genug des Bedenklichen übrig geblieben, denn eS wurde darin die Gleichberechtigung der theologischen Rich tungen vollständig abgeleugnet. Nach dem nunmehrigen Be schlüsse der Generalsynode hat sich diese zur biblischen Lehre bekannt und der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß zu Pro fessoren der Theologie nur Männer berufen werden, welche in diesem Glauben und in dem Bekenntnisse deS SohneS GotteS stehen. An dem Wunsche einer Mitwirkung des Generalsynodalvorstandes bei der Berufung der theologischen Dozenten hat man festgehalten und dies ausdrücklich ausgesprochen. In diesem Teile des Beschlusses wird man dessen Hauptbedeutung zu suchen haben. Wenn freilich der Vizepräsident des Evangelischen OberkirchenratS vr. Freiherr v. d. Goltz, der als königlicher Kommissar fungierte und ganz wesentlich zu dem Zustandekommen des Beschlusses mitwirkte, der entscheidende Mann wäre, so würde die Mitwirkung deS Generalsynodalvorstandes bei Berufung der theologischen Dozenten nicht viel zu sagen haben. Denn er führte während der Beratung in tief durch dachter Rede aus der Geschichte der protestantischen Theologie und der evangelischen Kirche den schlagenden Betyei---: nicht nur, daß die Theologie unbedingter Freiheitlich erfreuen mutz, wie jede andere Wissenschaft, sondern auch, daß dieselben Erscheinungen im wissenschaftlichen nnd im kirchlichen Leben deS Protestantismus, welche wir heute beobachten und von denen eine beschränkte Orthodoxie den Untergang von Glaube und Kirche fürchtet, nun schon zum vierten Male seit der Reformation wiederkehren und immer noch zum Segen für die Kirche und die theologische Wissen schaft ausgeschlagen sind. Er sagte u. A.: „vr. Martin Luther war es, der am 31. Oktober 1517 an die Schloßkirche zu Wütenberg die Sätze anschlug, die in lebhaftem Widerspruch standen mit den in der damaligen Kirche herrschenden Anschauungen. Zweihundert Jahre später gab es eine neue Ve- wegung (der Pietismus) zum Segen für unsere Kirche, die besonders von den Professoren in Halle getragen wurde. Wieder hundert Jahre danach ist durch die Kraft des Wortes ein Strom geistiger Bewegung von der neuen Universität Berlin aus- gegangen, ich brauche da nur den Namen Schleiermacher zu nennen. Jedesmal ist das Neue mü Mißtrauen aus genommen worden und hat zu lebhafter Abwehr seitens der im Amte der Kirche Wirkenden Veranlassung gegeben. Und doch ist jedeSmal hier bei aller menschlichen Schwäche und Unvollkommen heit eine Wirksamkeit des heiligen Geistes zu spüren gewesen, der anregend, klärend und neue Bahnen weisend in die Wissenschaft und in die Kirche hineingetragen wurde... Wir stehen nun mitten drin in einem Kampfe, in einem neuen Kampfe, der innerhalb der theologischen Wissenschaft ausgefochten wird, nicht allein um den Gegensatz von Glauben und Unglauben, von naturalistischer und christlicher Welt- anschauung, sondern es handelt sich darum, die christliche Wahrheü ausfdem Weltbilde der antiken und mittelalterlichen Kultur hineinzuarbeiten in das Weltbild desr modernen Welt. Die theologische Wissenschaft hat also den Beruf, eine Vermittlung nicht zwischen Glauben nnd Unglauben, sondern zwischen antiker und moderner Weltanschauung zu finden." Der Vertreter deS Kirchenregiments setzte sich endlich die Aufgabe, der Generalsynode klar zu machen, baß der Kom missionsantrag, welcher die Regierung deutlich beschuldigte, ihre Pflicht bei der Besetzung der theologischen Professuren nicht erfüllt zu haben, ein Attentat auf die notwen dige Freiheit der theologischen Wissenschaft sei und die evangelische Kirche in katholische Zustände hineindränge. Die betreffenden Ausführungen lauten im wesentlichen: „Die theologische Wissenschaft hat einen göttlichen Beruf, den sie nur auf dem Wege der Freiheit erfüllen kann. Das ist ja auch von allen Seiten hier anerkannt worden (sogar von Stöcker), aber es ist vielleicht nicht allen Herren klar genug, daß das Ein greifen einer Instanz, die Gewalt hat, in dieses Gebiet der Freiheit, des Forschens, des Lehrens, dock, den Charakter der Freiheit beeinträchtigen muß. Es ist zwar auch von denen, die ein Mehreres im Inter esse der Kirche tun wollen, gesagt, sie denken nicht daran, die Er ziehung der jungen Theologen den Universitäten zu entziehen, aber die Absicht tut es nicht allein. Man darf auch nicht Schritte unternehmen, die in ihrer Konsequenz schließlich dazu führen, daß die Erziehung in die Bahn der Seminarien hineingeleitet wird. Nach meiner Ansicht wäre es die unvermeidliche Folge, daß man — wenn auch ungewollt und auf Umwegen — zu einer missio vanonlen auch in den protestantischen Fakultäten käme. Mit Notwendigkeit würde dann das Ende das sein: Der Staat könnte den theologischen Fakultäten dann nicht medr ihre ebenbürtige Stellung mit den andrreu'Falnltäten lassen." Aber Frhr. v. d. Goltz ist, so einflußreich er sein mag, nicht die ausschlaggebende Person, was schon daraus hervor geht, daß der preussische Evangelische Oberkirchenrat gegen die Pläne des Grafen Bülow bezüglich des Iesuitengejetzes vorstellig geworden ist und daß die maßgebende Stelle jenes Abkommen wegen der neuen Straßburger katholisch-theo logischen Fakultät getroffen hat, daS dem Bischof Gewalt über die Fakultät einräumt und damit die Freiheit der katho lisch-theologischen Wissenschaft vernichtet. Es fragt sich also, welche Mitwirkung diese maßgebende Stelle dem General synodalvorstande bei der Berufung der theologischen Dozenten einräumt. Und da ist es nach allem, was in den letzten Jahren geschehen ist, nicht allzu unwahrscheinlich, daß die theologischen Fakultäten in Preußen ziemlich frei gehalten werden von Leuten, die durch ihre kritische und wissenschaft liche Tätigkeit dem Generalsynodalvorstande Aergernis geben könnten. Gewerkschaftliches. Das Zentralorgan -er sogenannten neutralen Gewerkschaften, die in Wirklichkeit sozialdemo kratisch sind, beurteilt den Frankfurter Arbeiter kongreß völlig im Stile des „Vorwärts": es verhöhnt den Gedanken, Arbeiterforderungen auf dem Boden der Monarchie und -er bestehenden Gesellschaftsordnung im Gegensätze zur Sozialdemokratie und ihren Gewerk schaften vertreten zu wollen. Aus diesem Geiste partei ischer Selbstüberhebung, vor dem selbst die sozialdemo kratische „Frankfurter Volks stimme" eindring lich gewarnt und den sie nach der Frankfurter Tagung als -urchaus fehlerhaft bezeichnet hat, entspringen jene verwerflichen Ausschreitungen gegen Nicht- oder Anders organisierte, wie sie soeben Lurch die „Einigkeit , dem Organ der lokalen Verbände, festgestcllt werden. „Bedrohung mit Gewaltmaßregeln oder mit Boykottie rung" sind nach der „Einigkeit" die Mittel „fanatisierter Verbändler", Arbcitsgenossen zum Beitritt in die gewerk schaftliche Zcntralorganisation zu zwingen oder mindestens der Beitragsleistung für dieselbe geneigt zu machen. Angesichts solchen Treibens fordert die „Einigkeit" die Lokalorganifierten zum Verzicht auf gerichtliche Anzeige auf, „so lange sie sich noch anders helfen können", weil durch die Erstattung von An zeigen ein Agitationsgrund gegen die Lokalorganifierten als vermeintliche Denunzianten gegeben werde. Trotz dieser Zurückhaltung der „Einigkeit" wettert der „Vor- wärts" über die „skandalöse Denunziation der eigenen Kampfgenofsen" und klagt die „Einigkeit" an, Material zu Zuchthausvorlagen herbeizutragcn. sachlich sind die Anschuldigungen des sozialdemokratischen Zentralblattcs haltlos. Aber vom sozialdemokratischen Parteistandpunkt aus erscheinen sie recht begreiflich. Denn die gewalt tätigen Verbändler sind ja die Märtyrer des Klassen- kampfes, die als solche bei jeder Gelegenheit verherrlicht werden. Und außerdem hat die „Einigkeit" das Ver brechen begangen, von den fanatisierten Verbändlern zu sagen, daß sie ihre Gewalttätigkeit verübten, „aufgeregt durch die Schimpfereien und Hetzereien gewißer ge- wifsenloser Preßbanditen und ketzerischer Agitatoren". — Eine derartige Sprache muß natur- gemäß -en „Vorwärts" besonders ansbringen und ihm zur Abschwächung der erhobenen Borwürfe die giftigsten Beschuldigungen als die besten Waffen erscheinen lasten. Das haben die Lokalorganisierten davon, daß sie, die gleich den zentralen Gewerkschaften durchaus auf dem Boden des Klassenkampfes stehend, ihre Freiheit gegenüber den „Genossen" wahren wollen! In der Praxis deS 'politischen nnd des geincrkfchaftlichen Lebens bat für die Sozialdemokratie die Freiheit nur insofern eine Berech tigung, als sie dazu dient, die spezifisch sozialdemokratischen Ansichten und Ziele zu fördern. Tiszas Programm Das Programm, ans Grund besten Graf Tisza die Kabinettsbildung in Ungarn übernommen hat, ist nun mehr bekannt. Es unterscheidet sich in nicht unerheblichen Punkten von dem Programm des militärischen Comitvs der liberalen Partei, indem es sich auf diejenigen militäri schen „Reformen" beschränkt, welche die Krone im Lause der letzten Monate bereits in Aussicht gestellt hatte. Nach dem Entwürfe des Grafen Tisza sollen die Abzeichen der Armee im Sinne des Dualismus abgeändert, im neuen Militärstrafprozestc die magyarische Verhandlungssprache eingeführt, die Stiftsplätze an den ungarischen Militär bildungsanstalten vermehrt und an ihnen in einer be deutenden Anzahl von Fächern die magyarische Unter richtssprache eingcführk, die Verfügung über Milttär- diensterleichterungen vom Kriegsministerium an!f das Honvedministerinm übertragen und endlich die ungar. ländischen- Offiziere, die noch in österreichischen Regi mentern dienen, nach Ungarn zurückversetzt werden. Das Comit6 der liberalen Partei hatte außerdem noch verlangt, daß nur ungarische Offiziere zu Leitern der Mili» tärbildungsan st alten in Ungarn ernannt wer den, daß die vollständige Beherrschung dermagya. rischen Sprache die Voraussetzung für die Ber- leihung deS Offizierspatentes in Ungarn bilde» und endlich die militärischen Majestätsrechte bezüglich der nngarländischcnRegimenter nur mittels eines dem ungarischen Reichstage verantwort lichen Ministeriums ausgeübt werden können. Auf diese letzteren Forderungen hat das Comit« schließlich verzichtet. Hierzu wird der „Schles. Ztg." aus Wie» geschrieben: „Obgleich das TiSzafche Programm keine Konzession enthält, die nicht der Kaiser bereits im Sommer zugestanden hätte, hat es in der Wiener Presse doch fast durchweg eine ablehnende Besprechung erfahren, ohne daß man den Acnderungcn gerecht wird, die Graf Tisza an d«n Programm des liberalen Comites vorgenommen hat. Wenn man bedenkt, daß die ungarische Krisis sich in den letzten Wochen in einen schweren staats rechtlichen Konflikt, nämlich in den Streit um die m i l i t äri s che n M a j e st ä t s re ch t e, zugespitzt hatte, dann sollte man doch nicht vergessen, daß die Ver änderung, die das Programm des liberalen ComitsS durch Tisza gerade in diesem Punkte erfahren hat, von außerordentlicher Bedeutung ist, zumal da die Majestätsrechte die einheitliche Leitung der Armee verbürgen. Wenn diese Tatsache in den Betrachtungen -er Wiener Blätter mehr in den Hintergrund tritt, so kann eine Erklärung dafür nur darin gefunden werden, -aß die Presse dieser Wahrung der Hoheitsrechte einen mehr theoretischen und des halb problematischen Wert beimißt angesichts -er praktischen Zugeständnisse, die Ungarn auch in dem Tiszaschen Programm in militärischer Beziehung gemacht werden. Obgleich nämlich die Konzessionen -en Rahmen -er bereits im Juni d. I. bekannten Absichten -er Krone nicht überschreiten, weisen sie doch deutlich eine entschieden magyarisierende Tendenz auf und eröffnen damit den hiefigen politischen Kreisen die Aus sicht auf die praktische Zweiteilung der Armee bei theoretischer Aufrechterhaltung ihres ein heitlichen Charakters. Verstärkt werden diese Besorg nisse durch die Rede, -ie Herr von Gzell — also -er ge- mätzigresten einer — in der liberalen Parteikonferenz gehalten und in der er erklärt hat, -aß er zwar dem mili tärischen Programm des liberalen Comites aufrichtig zu gestimmt habe, jedoch aus Opportunitätsgründen da- Tiszasche Programm acceptiere; -. h. man nimmt daS derzeit Gebotene an, um zu gelegenem Zeitpunkte -a- Uebrige zu fordern." — Man kann tatsächlich nicht um hin, festzustellcn, daß die Krone zwar ihr letzte- Bollwerk, die Majestätsrechte, mit knap per Not noch gerettet hat, daß sie aber wieder um, fast alle Autzenschanzen prcisgebend, ein be deutendes Stück zurückgcwichen ist, und daß eS beinahe so aussieht, als sei nicht Tisza, sondern Kostuth Ministerpräsident. Die drohende Ministerkrisis in Frankreich. Der „Figaro", welcher die erste Nachricht von der Demissionsabsicht des Ministerpräsiden ten Combes gebracht hatte, behauptet, daß Combes besonders verstimmt sei durch die Streichung des Postens für die Unterpräfckten im Budget -es Innern, welche am Freitag mit drei Stimmen Mehrheit durch die Vereini gung der äußersten Linken mit der Rechten beschlossen wurde. Der Ministerpräsident habe einem Freunde gegenüber erklärt, er wolle in diesem Augenblick die Budgetberatung nicht unterbrechen, er werde aber den Mehrheitsparteien zu verstehen geben, -aß er sofort nach dem Abschluß der Budgetdebatte, also zwischen Weih nachten und Neujahr, demissionieren werde. Die repu- wcsen mar, daß Marion, die eitle, oberflächliche, herzlose Marion, ihn im Bann ihrer Sensationslust so ganz und gar hatte mit fortreißen können — da stieg mit der tiefen Beschämung wieder jener Haß gegen sie in ihm auf, der schon einmal in seinem Leben eine Schicksalswen-mig ver ursacht hatte. Damals war er vor Marion geflohen. In seinem militärischen Dienst, bei seiner Soldatenpflicht hatte er Rettung und Halt gesucht. Und -och hatte sie mit all ihrem Glanz, ihrer Ber- fübrungskunist wieder Gewalt über ihn zu gewinnen ge- mußt — über ihn, den weltfremden, bis dahin nur der Pflicht, der Arbeit lebenden Soldaten! Wenn ihm noch einmal die Wahl freistünde, wenn ihm Westernbagen noch einmal seinen Schutz gewährtel , .... Aber dazu war es zu spät Als ihm endlich der Verband von der Schulter abge- nommcn werden konnte, machte ihm der Arzt die traurige Eröffnung, daß eine Schwäche in seinem Schultergelenk dauernd zurückbleiben werde, daß er ein für allemal auf zwei Dinge werde verzichten müssen — den Säbel zu führen und ein Automobil zu steuern. Ten ersten Tag außer Bett verbrachte er in trübseliger Stimmung. Sein Leben schien ihm vernichtet. Als man ihm Besuch meldete, erklärte er, daß er nie mand seben wolle. Der Arzt erhoffte indessen von einer Anregung einen bessernden Einfluß. So ließ er den Besuch eintrcten. Es war Ernst Mittwald. „Sie entsinnen sich meiner wohl nicht mehr?" fragte der Zeichenlehrer zögernd, als der bleiche, junge Mann, der unbeweglich im Lehnstuhl am Fenster saß, ihn mit einem hoffnungslosen Blick streifte, und nur matt seinen Gruß crw'derte. Endlich hielt ihm Donat die schmal gewordene Linke bin. „Gewiß, Herr Mittwald. Die Tage von Chateau- Lanney damals haben ja eine so bedeutsame Rolle in meinem Dasein gespielt." Unter einem trüben Lächeln fragte Donat dann nach Liselotte. Und da kamen denn die grausamen Vorfälle jenes un glückseligen Renntages zur Sprache. „Frau Capitant hat eine schwere Schicksalsschule durch. gemacht", versicherte Mittwald dem Rekonvalenszenten, als er dessen sofort bitter und trotzig werdenden Ausdruck gewahrte. „Wenn Sic ihr gegrollt haben, dann müssen Sie ihr angesichts der harten Prüfungen, die über sie hcrcingebrochen sind, vergeben." Donat schwieg darauf. Düster vor sich niederblickend, hörte er der Schilderung der trostlosen Lage, in der sich die junge Frau befand, zu. Ueber ihrem Gatten und den irdischen Ueberresten ihres kleinen Töchterchens wölbte sich der Hügel — ein junges Reis grünte bereits auf Ediths winzigem Grab. Die Wanderung dorthin bildete Marions täglichen Weg. Auch sonst gab es keinen Lichtblick in ihrem mit dem einen Schlag so von Grund aus gewandelten Dasein. Raoul kränkelte noch immer — und Liselotte, die große Mühe mit der vom Schicksal so schwer geprüften, rasch gealterten Mutter hatte, vermochte sich der hülfloS nnd auch als Witwe noch unfertig im Leben stehenden Schwester nicht zu widmen. „Was die Lage der unglücklichen Frau nun noch be sonders mitleiderregcnd macht", sagte Mittwald, „das sind die ganz trostlosen pekuniären Verhältnisse, in denen Capitant seine Familie zurückgelastcn hat." Zornig blitzte es in Donats Augen auf. „O — ich weiß. Capitant war ein skrupelloser Spieler. Er hat ohne Bedenken alles auf eine Karte gesetzt, die Existenz seines Hauses ebenso, wie die seiner Freunde. Er hat auch meinen ehrlichen Namen gcinißbraucht, indem er mich veranlaßt hat, mich an seiner Sette an dieser un seligen Wettfahrt zu beteiligen." „Er hoffte eben als unverbesserlicher Optimist auf eine gute Lösung", schaltete Mittwald versöhnlich ein, „im Fall des Sieges wäre sein Glück gemacht gewesen — denn die Wetten, die er cingcgangen war, stellten ein Ver mögen dar." „Und er war so vorsichtig, sie mit Kavalieren abzu schließen, auf deren Wort er bauen konnte. Ich verachte jedes Spiel, das gewerbsmäßige Glücksspiel vollends er. scheint mir geradezu als ein Verbrechen» Aber da schimpflichste von allem, — das ist doch daS Falschspiel, das Capitant getrieben hat. Im Fall deS Verlustes hätte er die Wetten ja überhaupt nicht einlösen können!" (Schloß folgt.) Feirilletsn. Das neue Modell. 2Sj Roman von Paul OSkar Höcker. vloNwrutt verboten. Hevesy, der, nachdem sein erster Schreck vorüber war, di« Vorbereitungen für di« Bergung der Maschine und di« Ueberführung der Leiche Capitants getroffen hatte, ward nun aufmerksam. Mit erregten Worten drang er in den jungen Deutschen, der Weisung des Arztes nach zukommen und sich möglichst zu schonen. „Wer soll denn jetzt di« Geschäfte führen, wenigstens den technischen Teil -er Fabrik, wenn nicht Sie?" stellte er ihm vor. Donat hatte, in Decken gepackt, weil es ihn fröstelte, auf dem nur mit Mübe reauirierten Leiterwagen Platz genommen, mittels -essen Capitants sterbliche Reste fort geschafft wurden. Im Schritt fuhr man nach St. Vith! eln Knecht begleitete den Kondukt, das Pferd am Halfter haltend, weil noch immer alle paar Minuten ein Auto mobil den Wagen überholte. Stumpf ließ Donat alles über sich ergehen. Das Leben war ihm so gleichgültig, so wertlos. Auf Hevesys Vor stellungen hatte er nur ein müdes Kopfschütteln. Was galt ihm die Capitantsche Fabrik? Was war ihm Hevesys Geld? Was ging ihn der Nachlaß dieses starr vor ihm im Stroh gestreckt liegenden Toten an? Er hatte nur das eine schmerzliche, demütigende Be wußtsein, daß diese Fahrt um das Glück ihn um sein «dclstes Gut, um ein Heiligtum gebracht hatte, das ihm bis dahin unantastbar in der Brust gewesen war. Die Geldgier Capitants, die Sensationslust der Frau Marion hatten ihn, den ehrlichen Soldaten, den be geisterten Arbeiter, auf einen Posten gebracht, der seiner unwürdig war. Im Angesicht ber Denkmalsvvramide von Champigny, im Angesicht des Ehrenseldes von Sedan, Auge in Auge mit Liselotte hatte er das voll wachsender Qual un brennender Scham empfunden. ... ES war HevesyS Absicht gewesen, Donat persönlich Ais nach Aach«n zu bringen. Da der Transport -er Leich« aber eine bahnpolizeilich vorgeschriebenc Begleitung er forderte, so mußten sie sich in St. Vith trennen: Hevesy be nutzte, nachdem die irdischen Ueberreste eingesargt waren, den Nachtzug nach Chateau-Lonney zur Witwe seines Ge schäftsfreundes — ziemlich zu gleicher Zeit gelangte Donat nach Aachen. Als ihn der Wagen nach dem durch den Arzt von St. Vith bereits telegraphisch benachrichtigten Kranken hause brachte, erhob er plötzlich einmal den Kopf, sich für eine Sekunde aus der Apathie aufraffend. Man fuhr am Kurgarten vorbei: lustige Militärmusik klang aus dem Kiosk, der ganze Garten war feen haft illuminiert. Tausende von Lämpchen erhellten mit ihrem flackernden Schein die Wege, die Bosquets und die Weiher, bunte Lampions baumelten über den Köpfen der schwatzend und lachend die Promenade füllen den geputzten Menge. .... Da feierte man den ersten Tag des epoche machenden Rennens Paris—Berlin * * * Im St. Augustus-Hospttal lag Donat mehrere Tage lang öfters in starkem Fieber. NlS er wieder zur Besinnung kam, währte cs noch immer eine geraume Weile, bis er sich all der Vorgänge ent sinnen konnte, die zu seiner Erkrankung geführt hatten. Das eine wollte ihm auch hernach, als er sich mit dem Anstaltsarzt, der Oberin und der Schwester schon wieder ganz normal verständigen konnte, noch immer nicht in den Sinn, daß er nicht mehr aktiver Offizier war, daß er seinen Abschied genommen hatte. Tie beiden Episoden in Paris waren in seinem Ge dächtnis so zusammcngeschrumpft, daß er sich mancher Er lebnisse nur noch ganz dunkel zu entsinnen vermochte. Eine sonnige Erinnerung war ihm geblieben — die an die Hellen, klaren, stimmungsvollen Spätherbststunden, die er mit Liselotte damals draußen am Wasser verlebt hatte. Alles andere ging wirr in seinem Kopfe durch einander: die rastlose Arbeit in der Fabrik, die aufreiben den, nervenerregcnden Probe- und Uebungsfahrten, die Feste, die Geschäfte — und Marion. Während er so, zur Untätigkeit verurteilt, in den langen Tagen und noch längeren Nächten sich Rechenschaft I gab, während er sich überlegte, wie eS denn möglich ge-
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