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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.11.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021128012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902112801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902112801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-11
- Tag1902-11-28
- Monat1902-11
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Vezug-«Preis t» d«r Haupt-xpedttto» oder de» t» Stadt» b«trf >md d« Vororte» errichtet« >»»- ^oeftell« «bgeholt: vtettiljührltch 4.«^ — zweimalig« IL-licher A» stell»», ins Ha»4 LL0. Durch di« Post bezogen für Deutschiaad ». Oesterreich vierteljährlich ^4 S, ftr di« übrig« Läuder laut ZeitungSpreisllste. Le-aktilm im- Lrve-ition: 2ob««t»,affe 8. Fer»jprecher ISS mrd LSL Alfke» Hab», BuLha»dl,„ U»w«rMtIstr.^ L. Lösch«, Kathart»«str. 14, ». Küst-Ipl. r» Havvt-Filiale Vrerd«: Strehle«r Straße st. Fernsprecher Katt I Nr. 1715, Yauvt-Filiale Serlin: Süatggrätzer Straße IIS. Feruj-rrcher Amt VI Nr. 8SVL. Nr. 605. Morgen-Ausgabe. MpMcrTaMM Anzeiger. ÄmtsAatt des Königlichen Land- und des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, -es Rates und des Volizei-Ämtes -er Ltadt Leipzig. Anzeigen-Pret- dte «gespaltene Petitzeile SS H. Nektameu a»trr dem Nedatnonlßu^ (4g«ipatt»n) 7K vor dro Familteunmh- kickte» (6 gestalt«) KO Lz. 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Die gegenwärtige Kom mission, in der Geheimrat Lchwancbach, einer der hervor ragendsten Mitarbeiter des Ministers Witte, den Vorsitz führt, hat sich die Vorbereitung der Alters-, Kranken- und Unfall-Versicherung für Arbeiter zur Aufgabe gesetzt. Bis her existierte so gut wie nichts in dieser Hinsicht, wie über haupt der Begriff der Sozialpolitik der Regierung und der Gesellschaft im Zarenreiche nur theoretisch bekannt war. In den 60er Jahren des verflossenen Jahrhunderts, also noch während -er Regierung Alexanders II., hatte man zwar einen sozialpolitischen Anlauf genommen nnd eine Kommission gebildet, die unter der Leitung des BaronS v. Stackclbcrg ein ausführliches Projekt über die Einschränkung der Arbeit von Frauen und Jugendlichen, das Verbot der Kinderarbeit, die Zustände in den Fabriken usw. ausarbcitetc. Aber die Entwürfe blieben, wie so manches andere, liegen und erlangten nie die nötige Gesetzeskraft. Einen schlimmen Einfluß haben nach dieser Richtung stets die Fabrikanten in Rußland geübt, die jede sozialpolitische Anordnung der Regierung, wenn sie ihnen unbequem schien, zu unterdrücken verstanden. Die maß gebenden Kreise Petersburgs stehen im allgemeinen in »oller Abhängigkeit von dem Unternehmertum nnd letz teres pflegt in wirtschaftlichen Fragen den Ausschlag zu geben. So kam cs, daß beim Wachstum der Fabriken die Besitzer derselben an Ansehen und an Einfluß gewannen, aber ihren Arbeitern kaum das Notwendigste gönnten. Eigentlich war es erst der große Ausstand vom Mai 1800, gleich nach der Krönung des Kaisers Nikolaus, der der Regierung die Augen darüber öffnete, daß unter den Angehörigen des vierten Standes eine tiefgehende Un zufriedenheit verbreitet war. Man stellte damals Er hebungen an, die zahlreiche Mißstände ausdcckten, und die Folge war die Wiederaufnahme der fast in Vergessenheit geratenen Arbeiten der Stackclvcrgschen Kommission. Die Verwirklichung des Gesetzes, welches namentlich eine Nor mierung des übermäßig langen, in manchen Fabriken bis 15, ja 18 Stunden dauernden Arbeitstages bezweckte, zog sich übrigens sehr hin. Da brach im Jahre 1807 ein neuer Ausstand unter den Arbeitern in Petersburg aus; hierauf wurde nicht weiter gezögert, und im Juni erschien ein Er laß, welcher 11*/-» Stunden für die Dauer der täglichen Fabrikarbcit festsctzte. Damit war wenigstens etwas gewonnen. ES I erwies sich aber bald, daß dieses in den Augen der Regierung noch zu viel war. Als die Sorge wegen des Umsichgreifens des Streits geschwunden war, erschien eine Verordnung des Finanz ministers, welche das Gesetz in eigentümlicher Weise er gänzte. Ter Minister bezeichnete mehrere Gewerbe, bei welchen Ueberstnndcn statthaft seien, und diese Gewerbe stellten schließlich eine solche Summe dar, daß diejenigen, welche sich nach dem Wortlaut des Gesetzes zu richten hatten, in entschiedener Minderzahl blieben. Infolge dessen war die Wirkung des Gesetzes vom Juni 1807 eigent lich illusorisch geworden. Seitdem hat man zum Besten der Arbeiter fast nichts getan. Namentlich blieb die Frage einer obligatorischen Versicherung wider die Folgen von Unfällen, Krankheit und Alter völlig offen. Es gibt in Rußland lediglich einige private Unternehmungen, welche in dieser Hinsicht den Arbeitern nützen; aber mit denen hat der Staat nichts zu tun. Die Krankenkassen in den Ostsccvrovinzen nnd in den Bergwcrksbetrieben Polens sind entschieden nutz bringende; aber sie werden durch private Mittel unter halten nnd stehen unabhängig voll der Regierung da. Sind die Arbeiter in den Fabriken zu Schaden gekommen, so haben sic nur die eine Möglichkeit, auf gerichtlichem Wege gegen den Arbeitgeber vorzugehen. Aber aus natürlichen Gründen, die hier nicht dargclcgt zu werden brauchen, er leiden sie lieber häufig Unrecht, bevor sic sich entschließen, die Gerichte in Anspruch zu nehmen. Was die Kranken fürsorge anbctrifft, so ist cs allmählich Gebrauch geworden, daß die Fabriken sich Aerzte halten, die ihre Arbeiter und deren Familien kostenlos behandeln. Aber niemand ist verpflichtet, für erwerbsunfähige Arbeiter zu sorgen, mag dieser Zustand vorübergehend oder dauernd sein. Nur die sogenannten Strasfonds, welche aus Beiträgen der Ar beiter für kleine Versäumnisse gebildet werden, gewahren den Kranken und Invaliden zeitweilige Unterstützung; da sie aber über keine sonderlich großen Mittel verfügen, so ist diese Unterstützung in jedem Falle nur ganz gering. Schon aus diesen Tatsachen läßt sich ersehen, daß die Stellung der Arbeiter in Rußland keine beneidenswerte ist. Die Einberufung der Vcrnchernngskonfercnz ist des halb als ein. Fortschritt zu begrüßen. Noch läßt sich aller dings nicht bestimmen, was bei der Lache hcranskommen wird; aber die ersten Sitzungen haben den Beweis er bracht, daß man gründlich vvrgearbcitct hat nnd wirklich etwas Gntes zu stände bringen will. Ist die Arbeitcrversichcrung fertig, so wird man wahrscheinlich weiter gehen und die Besserung der Zu stände in den Fabriken, die Fortbildung der Arbeiter, die Kontrolle der Fabrikinspeltvrcn und das gegenseitige Ver hältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu re formieren beginnen. Es ist in dieser Hinsicht noch viel zu tun. Die Inangriffnahme der Arbeitcrversichcrung spricht jedenfalls dafür, daß die maßgebenden Kreise des Zaren reiches die Notwendigkeit der Einführung der Sozial reform erkennen und dem vierten Stande die Rechte, die er in Westeuropa längst besitzt, cbenialls znzuwenden be absichtigen. , Deutsches Reich. -l— Berlin, 27. November. (Der Gerstenzoll.) Je wabrscheinlicher es wird, daß trotz des bekannten „Unannehm bar!" eine Erböbung des Zolls für Braugerste aus 4 -L von der Regierung bewilligt wird, um so mehr ist eS an gezeigt, an die Ausführungen des Hallenser Professors vr. Conrad über den Gerstenzoll zu erinnern. Conrad bat sich im ersten Bande der vom Verein für Sozialpolitik berauSgcgebenen „Beiträge zur neuesten Handels politik" (Leipzig lOOl, Duncker L Humblot) zwar gegen eine Erhöbung der Zölle für Brotgetreide über die geltenden Sätze hinaus ausgesprochen, ist aber zugleich für eine Erböbung des Gcrstenzolls eingetreten, indem er u. a. ausführte: „Daß für die deutsche Land- wie Volks wirtschaft eine AuSdebnung deS GerstenbaueS wünschenswert ist, kann keinem Zweifel unterliegen. Wenn nun doch, ob wohl die offiziellen Durchschnittspreise sich im Verhältnis zu den anderen Getreidearten gehoben haben, der Gersten bau einen Rückgang zeigt, so ist dieses daraus zurückzu- sühren, daß eS sich, wie bekannt, um zwei ganz verschiedene Arten mit ungleichen Zwecken bandelt, deren Preise außer ordentlich von einander abweichen, so daß in dem Durchschnitt das Bild verschoben wird. Die Braugerste siebt sehr hoch im Preise und wird besonders von Oesterreich bezogen. Die Futtergerste dagegen, mit welcher unS hauptsächlich Rußland versorgt, repräsentiert eine geringe Sorte, deren Preis natürlich auch niedrig ist. Die erstere Sorte kann nicht überall gebaut werden, dock ist nach Meinung der Sachverständigen eine erbebliche Ausdehnung deS Anbaues in Deutschland sehr wobl möglich und zu wünsche». Sic bat aber unter der österreichischen Konkurrenz zu leiden, sodaß hier ein erhöhter Zoll günstig zu wirken vermöchte, und die Verteuerung des Malzes für die Brauereien, verschärft durch eine Erhöhung des MalzzolleS, würde wobl von der Gesamtheit leicht zu tragen sein. Auch die Konkurrenz der ausländischen, namentlich österreichischen Brauereien, würde schwerlich schädlich zu wirken vermögen, zumal schon jetzt durch dir beschlossene Erhöhung des Zolls auf Pilsener Bier eine Erleichterung für die beimische Brauerei geschaffen ist. Die Frage ist nur, ob auch derselbe Zoll für Futtergerste aufrecht zu erhalten ist, die rbrer Natur nach durch denselben un verhältnismäßig stärker belastet würde. Man hat deshalb schon mehrfach angeregt, verschiedene Zollsätze für die beiden Qualitäten zu normieren. Ob sich dieses leicht durchführen läßt, ist eine rein praktische Frage, über welche wir uns eines Urteils enthalten müssen. Ist eS durchführbar, ohne zu aroße Miß stände mit sich zu führen, so wird es jedenfalls der zweckmäßigste Ausweg sein. Erweist er sich als un zugänglich, so würden wir die Belastung der Futter gerste nickt für so schädlich halten, um daran eine Zollerhöhung scheitern zu lassen! Es würde da durch die Verfütterung des Brotgetreides ver mindert, und der Bau des Roggens und der Gerste auf Kosten deS Hafers gefördert." — Die Scheidung der Gerste in Brau- und Futtergerste ist in der Begründung zum Zoll tarif als undurchführbar angeseben worden. Man muß ab warten, auf welche Weise nunmehr jene Scheidung ermöglicht werden soll. Berlin, 27. November. (Die Stadtverordneten wahlen und die Sozialdemokratie.) Tie diesjährigen Stadtverordnetcnwahlen, die in Deutschland an sehr vielen Orten im laufenden Monat stattfinden, haben wäh rend der verflossenen Woche der Sozialdemokratie manchen Erfolg gebracht. Es sei nur an den Wahlausfall in Leipzig und Crimmitschau, um von kleineren Städten zu schweigen, erinnert. In dieser Woche aber bat die Sozialdemokratie recht herbe Enttäuschungen erleben müssen. Freilich darf sie sich in Stettin neuer Erfolge rübmen; doch sind die letzteren nicht danach angetan, für die zahlreichen in Bayern erlittenen Schlappen zu trösten. Die Zurückdrängung der Sozial demokratie bei den Gemcindewahlcn rn Fürtb, Nürnberg und Würzburg ist in dreifacher Hinsicht recht be merkenswert. Vor allem lehrt der Sieg der bürgerlichen Parteien, wie überlegen sie der Sozialdemokratie auch der Zahl nach sind, wenn sie nur zusammenhalten und sich an der Wahl lebhaft beteiligen. Selbst in einer Industriestadt wie Nürnberg betrug die Mebrheit der bürgerlichen Parteien über 32v0 Stimmen, in Fürth annähernd 500. Daß gerade in diesen beiden Städten die Sozialdemokratie im Vergleich mit dem Ergebnis früherer Jahre gegenüber den bürgerlichen Parteien einen starken Slimmenrückgang erlitt, ist besonders deshalb lehrreich, weil man die sozialdemokratische Praxis in den Ge meindeverwaltungen von Fürth und Nürnberg gespürt bat. Darin besteht der zweite Grund, aus dem das Ergebnis jener bayerischen Stadtverordnetenwahlen von her vorragendem Interesse ist. Der dritte Grund aber liegt in deut Umstande, daß vaS Zurückgeben der sozialdcmokratiichen Gemeindewäbler gegenüber den bürgerlichen beweist, wie sehr man im Irrtum wäre, wollte man dem Geschrei überBrot- wucker und Flei sck Wucher eine übertriebene Bedeutung beunesscn. Im Hinblick auf die bevorstehenden ReickStugö- wahlcn predigt der Erfolg der bürgerlichen Parteien in Nürn berg und Fürth auf das Eindringlichste die Notwendigkeit und die Ersprießlichkeit des Zusammengehens gegenüber der Sozialdemokratie. Ganz wie bei diesen bayerischen Gemeinde wahlen könnte in einer Reihe von ReichstagSwahlkreisen die Sozialdemokratie zurückgedrängt werden, wenn die bürger lichen Parteien sich zu einmütigem Zusammenschluß und zu reger Wahlbeteiligung aufzuraffen vermöchten. Der „Vor wärts" tut jetzt so, als ob sich für 1003 gegen die Sozial demokratie ein „neues Ordn ungS karte ll" zusammen- scklösse, dem auch die Freisinnige Volkspartei ange- börte. So weit sind wir leider noch lange nicht! Aber kommt es einmal dazu, dann wäre der Sozialdemokratie ein ganz gehöriger Denkzettel sicher. D Berlin, 27. November. (Telegramm.) Der Kaiser, welcher gestern Abend bier eingetrosfen ist, begab sich heute früh in die Technische Hochschule zu Cbarlottenburg zu den Vorträgen ter SchiffSbaulechiuschen Gesellschaft. Später nahm der Kaiser Besichtigungen in der Kauer Wildelm- Gedächtniekircke vor und empfing mittags uu Königlichen Schlosse den amerikanischen Botschafter in Abschieds- Fsnrllstsn. Der Herzog von Reichstadt. ii. Mit dem fünften Jahre wurde der Unterricht des Herzogs schulmäßig ausgenommen. .Zu Foresli trat noch der Professor Eollin, der schon die Erziehung einiger Prinzessinnen geleitet hatte. Dieser Teil des Buches Wert hauers, der von dem Unterricht handelt, ist ältßcrst an ziehend. Mit unverkennbarer großer Liebe zn seinem Gegenstände schildert der Verfasser die Schulzeit des Prinzen und läßt uns einen Blick in die Seele des Knaben tun, der, wie bemerkt, viel zu reif für seine Jahre war. Beim Antritt seiner neuen Stellung fand Collin schon einen Teil -er Schwierigkeiten überwunden, die die Er ziehung des kleinen Napoleon bot. Forcsti hatte bereits die bisherige Unterrichtsmethode abgeündert. Wohl sollte man meinen, daß ein erst 4>/> Jahre altes Kind überhaupt noch nichts hätte lernen müssen. Aber am Hose Napo leons I., wo alles mit Riesenschritten ging, war man auch in dieser Beziehung anderer Meinung. Leit seinem zweiten Lebensjahre war der König von Rom mit den Regeln der französischen Sprache nnd dem ihm noch un verständlichen Katechismus gequält worden. Er mußte ganze Reden aus Racine hcrsagen nnd kannte schon 1« Lafontatnesche Fabeln auswendig. Ebenso ward er zum Lesen und Erlernen der Elemente der Geographie und Geschichte angchaltcn. Ties naturwidrige Vorgehen hatte die böse Folge, daß der Prinz einen Ekel vor allem Lernen bekam und cs nun sehr schwer ward, ihn dauernd für irgend einen Gegenstand zu interessieren. Die Ueber- ladung mit Arbeit hatte eine auffallende Ermüdung seiner Geisteskräfte hcrbeigesührt. Die Französinnen waren be müht, die in Paris begonnene Art des Unterrichts auch in Vien fortzuseyen. Stets entzückt von ihm, merkten sic gar nicht, daß sic ihn dadurch abstumpftcn, wie er denn manchmal selbst zu sagen pflegte: „Die Faulheit geht mit mir durch." Immer zerstreut, weil er den an ihn gestellten Anforderungen noch nicht genügen konnte, ist er damals trotz aller Anstrengung nicht übers Buchstabieren hinaus gekommen. Trotzdem waren Madame Soufflot und deren Tochter von seinen großen Fortschritten überzeugt. „Sie werden sehen" — sagten sie eines Tages zu Dietrichstein — „wie rasch der Prinz liest." Er las aber gar nicht, sondern riet nur herum und sprach alles falsch aus, was diese Frauen nicht hinderte, ihn mit Lobpreisungen über leime KeMtntffe zu überschütten. Foresli crtanntc sofort, daß mit solcher Methode ge brochen und in einer dem Älter des Kindes entsprechen deren Weise vorgegangen werden müsse. Er war bemüht, jede Ucberbürdung zu vermeiden, ihn allmählich zu größerer Ausdauer und mehr Ausmertsamkeit anzuhalten. Allein der Prinz, hieran nicht mehr gewohnt, weinte gleich bei der ersten Lektion. Zn Anfang der Unterrichtsstunde sagte er meist zn sich selber: „Ah, ich will gut lernen, da ich vernünftig werden muß", aber schon nach einigen Minuten war er unaufmerksam und begann zu weinen. Selbst da bei blieb cs nicht immer; zuweilen suchte er durch un bändige Zornausvrüche seine Unrgebung einznschüchtcrn, was ihm wohl mit den Frauen, aber nicht mit Foresli ge lang. Als er einmal, sich schaukelnd, von seinem kleinen Lehnstuhle herabfiel und der Hauptmann ihm sagte, welch gefährliche Folgen eine derartige Unachtsamkeit haben könne, erhob er die Hand gegen diesen. Hierauf faßte ihn Forcsti scharf ins Auge, fragte ihn, ob er denn glaube, cs mit Weibern zu tun zn haben, und führte ihn in einen Winkel des Zimmers. Diese Strafe demütigte den stolzen Knaben. Um ihn zu größerem Flciße anzuspvrncn, ward auch sein Spiclgenvssc Emile zu den Unterrichtsstunden hcrangezogcn. Er zeigte viel mehr guten Willen als der Prinz. Obgleich dieser selbst merkte und auch wiederholt hierauf aufmerksam gemacht wurde, weckte dies nicht im mindesten seinen Ehrgeiz. Obwohl er ost widerspenstig war, überraschte er wieder manchmal, durch völlige Er gebenheit, die den Mißmut seiner Erzieher beschwichtigen mußte. Als Graf Dietrichstein einmal vorlas, wälzte sich Emile auf der Erde. Ter Gras, hierüber erzürnt, ries diesem zn: „Wie, während ich lese, liegt ihr so da, nm euch zu unterhalten?" worauf der Prinz rasch hinzusetztc: „und nm nns zu belehren!" Gar leicht war die Erziehung dieses Kindes gewiß nicht. Wenn sie wenigstens in einer Sprache hätte geleitet wer den können, die dem Prinzen angenehm gewesen wäre. Aber sic sollte nach dem Aussprache Dietrichstcins „durch aus und ganz deutsch sein und dies bis in die mindesten Kleinigkeiten verbleiben." Aber gerade gegen dieses Idiom bezeugte er bei jeder Gelegenheit die entschiedenste Abneigung. „Ich will kein Deutscher sein" — rief er ein mal — „ich ziehe es vor ... ich »vage es nicht zu sagen . . . ich will Franzose sein." Dock alles Sträuben half nichts, „denn" — sagte der Obersthofmeister — „vor allem ist cs notwendig, daß der Prinz Deutsch lerne und daß der Unterricht, den er genießen wird, in deutscher Sprache ihm vorqetragcn werde, damit er einst dasjenige, was ihn zu einem edleren Menschen, zur Einsicht und zur Klarheit der Begriffe emporhvb, dieser Sprache zu verdanken habe." Zuerst hatte man ihm dmch jetn^LaMgerdtencr Joseph Untcrschill gleichsam spielend einige deutsche Worte bei bringen lassen. Nack der Entfernung der französischen Umgebung und der Abreise der Mutter, wodurch er alles verlor, was ihn noch an Frankreich hätte erinnern können, wurde die ganze Bedienung deutsch. Sie hatte den Be fehl, ihm alles, dessen er bedurfte, in dieser Sprache zu vcrdollmctschen und sich des Französischen nur zum Behüte der Erklärung zu bedienen. Allmählich, insbesondere aber seit der Trennung von Marie Luise, fügte sich der Prinz der grausamen Notwendigkeit, Deutsch zu lernen; er fing an, gewiß nur nach vielen Qualen, sich in Wien „nicht bloß, als ob er auf der Reise wäre, zu betrachten." Täg lich mußte er ans der Sprachlehre einige deutsche Worte auswendig lernen und die bereits erlernten wiederholen. Anch ganze Sätze wurden ihm vorgcsagt, die er seinem Ge dächtnisse einzuprägen hatte. Auf diese Weise brachte man cs innerhalb dreier Monate dahin, daß er, obgleich er noch wenig sprach, doch bereits viel von dem verstand, was er reden hörte. Doch mied man es sorgfältig, sich mit ihm über Gegenstände, die ihn interessierten, schon jetzt in einer Sprache zn unterhalten, deren er noch so wenig mächtig war. Mit der Zeit änderte sich des Knaben Charakter. Er wurde fleißig. Immer mehr kam sein militärischer Sinn zur Geltung. Mit wahrem Feuereifer unterwarf er sich dem Exerzieren mit dem Gewehr; er war glücklich, als er 1828 in der Eigenschaft eines Feldwebels vor Marie Luise und dem König von Neapel einen Zug der Burg wache kommandieren durfte. Auch die Wahl der Lehr gegenstände befand sich in ttcbcreinstimmnng mit dem zu künftigen Beruf eines Soldaten. Nebst dem Dienst- und Exerzierreglement für die Infanterie wurde er in der Fortifikationslehre, Geschützknndc, wie überhaupt in allen auf die Artillerie bezüglichen Wissenszweigen unterwiesen. Schon sehr früh hatte ihn auch Dietrichstein mit Büchern militärischen Inhalts bekannt gemacht, nm ihn ans diese Weise gleichfalls für seine Laufbahn vorzubereitcn. Der fungc Herzog konnte kaum mehr seine Ungeduld meistern, sich endlich anch schon aktiv als Soldat zn betätigen. Marie Lnisc, die das heiße Verlangen ihres Sohnes sehr wohl kannte, bat 1820 ihren Vater, er möge ihr, als ttzeschenk zn ihrem Namensfestc, für den Herzog eine Ossiziersstelle verleihen. Franz sicherte diesem das Patent zu unter der -Bedingung, daß er vorher die volle Zufriedenheit feines Gouverneurs erlangen muffe. Graf Dietrichstein, dem der Herzog nie genug tun konnte, fand jedoch, er sei einer solchen Auszeichnung noch nicht würdig. „Das ist nicht der Weg" — ruft er ihm u „einen Ofsizicrsrang zu er halten. Ihre ganze Ausbildung hängt von Ihrem Fleißc, Ihrem Sinn für Tugend. Recht und Ordnung ab, und je mehr Sic dieses allen Menschen angeborene Streben seit Ihrer Kindheit vernachlässigten, je mehr und je schneller müßen Sic trachten, das so sträflich Versäumte nach zuholcn." Zwei lange Jahre ließ Dietrichstein das Drängen nnd Sehnen seines Zöglings unbefriedigt. Erst im August 1828 gab er seine Zustimmung zur Ernennung des Herzogs zum Hauptmann des Kaiscrjägcr Regiments. Dies war ein Ereignis im Leben des Prinzen; so un erwartet, wie cs kam, cs machte ihn, nach seinem eigenen Ausdruck, „plötzlich zum glücklichsten der Menschen". Am 17. Angust berief ihn sein kaiserlicher Großvater, nachdem er seine gewöhnliche Kartcnpartic beendet hatte, zu sich. „Du hast schon längst etwas gewünscht" — sagte der Kaiser zu ihm. „Ich, Ew. Majestät ?" antwortete er ganz ver legen nnd dachte an einen Scherz, den seine Mutter mit ihm treibe. „Ja" — erwiderte Franz — „und zum Zeichen meiner Zufriedenheit und der Dienste, die ich von dir erwarte, ernenne ich dich zum Hauptmann in meinem Jäger-Regiment. Werde ein braver Mensch, das ist alles, was ich wünsche." Der Herzog war trnnkcn vor Freude. Es ist ein schöner Charaktcrzug, daß er in seinem Glück nicht vergaß, sofort jenen Mann von seinem Avancement zn benachrichtigen, der ihm den ersten militärischen Unter richt erteilt, ihm stets den Svldatcnsrand als den einzigen bezeichnet hatte, dem er sich widmen könne. „Jetzt wollen wir" — schreibt er an Hauptmann Forcsti, den „teuersten Herr Kamerad" - „mit Ernst uns niit allen militärische» Wissenschaften bekannt machen, nichts fall mir zu schwer sein. Chrtricb nnd der Wunsch, mich dieser Auszeichnung würdig zu beweisen, werden mich ändern, ick will alles Kindliche ablegcn. im wahren Sinne des Wortes ein Mann werden. Das ist mein fester Entschluß." Der Herzog von Reichstädt Hal die Erfüllung seines Wunsches, ein tüchtiger Soldat zu werden, nicht ge sehen. Am 22. Juli 1802 starb er an der Schwindsucht un ter großen Schmerzen. Mit ihm ging die Hoffnung der Napolevniden vorläufig zu Grunde. Das Buch Wert Hauers schließt mit einer Clmraktcristil des unglücklichen Prinzen. Man tann cs nicht aus der Hand legen, ohne die Genugtuung, an der Hand des Verfassers in eine Zeit geschaut zn haben, die für uns sv viele Rätsel barg. Diese Rattel sind gelöst, nnd wenn vielleicht anch der Herzog von Reichstädt wegen seiner Persönlichkeit nicht das große Interesse verdient, das man ihm entgegcnbringt, so ver dient er cs als der Lohn des Bonaparte, verdient es sein Schicksal, das ihn, den Köng von Rom, zn einem simplen Herzog ohne Reich machte, das ihm die Liebe der Mutter entfremdete, das ihm in den Knabeniahren den Händedruck des Vaters versagte und das den Todcsengcl in jungen Jahren herbeirief, nm ihn oder die Welt vor Erschütte rung nnd Enttäuschung zn bewahren.
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