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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.01.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980128029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898012802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898012802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-28
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Die Landwirthe haben ihm, von wenigen Districten mit ganz besonderen ProductionSbedingungen abgesehen, längst den Rücken gekehrt. An dieser Gewißheit ändern ein paar Mandatsgewinne von des Antisemitismus Gnaden nicht daS Mindeste. Jetzt kommt, richtiger geht der Handel. Nicht der von der freihändlerischen Kurzsichtigkeit in der Beurtheilung des Zusammenhangs zwischen politischer Machtstellung und Export gleichfalls schon längst abgestoßene Großhandel, sondern der bisher treu gebliebene Theil der Interessenten desKleinhandels, vor Allem der Detaillisten Berlins, der Stadt, welche zu den 19 Mitgliedern, die — unter 433 — der gesammte Freisinn im preußischen Abgeordneten hause noch zählt, 9 Mann beigesteuert hat, darunter den sonst unterkunftslosen Herrn Richter. Der Central- auSschuß der Berliner kaufmännischen, gewerblichen und industriellen Vereine bat gemäß dem Beschluß einer starkbesuchten allgemeinen Versammlung beim preußischen Handelsminister die Veranstaltung einer staatlichen En quete über die Lage -es Kleinhandels erbeten. Der Central ausschuß besteht nicht aus dem „wirthsckaftsreactionären, konservativ - nationalliberal-antisemitischen Mischmasch", von dem die freisinnigen Blätter und Agitatoren so viel Schlimmes zu erzählen wissen; er ist vollkommen unberührt von agrarischen Tendenzen — wo sollten die in Berlin auch Her kommen? — und an seiner Spitze steht ein Mann, der den Ver dacht des Antisemitismus nvthigenfallS mit seinem Synagogen steuerzettel von sich abwehren könnte. Der Herr ist freilich Commerzienrath, sogar geheimer, und diese in den Augen Eugen Nichter's neuerdings anstößig gewordene Blöße dürfte der volksparteiliche Führer, sobald er die Sprache, deren ibn die Eingabe beraubt hat, wieder gefunden haben wird, be nutzen, um die Enquete-Forderung als die Ausgeburt deS Gehirns von Leuten zu stigmatisircn, „auf die das Volk nicht hört". In Wahrheit stehen Zehntausende von Gewerbe treibenden und namentlich von Ladeninhabern Berlins hinter dem Centralausschusse. Und es sind das Leute, die die Grenzen der staatlichen Leistungsfähigkeit im Erwerbs leben genau erkennen und ausdrücklich erklären, den Groß betrieb weder vergewaltigen zu wollen noch zu können. Aber sie möchten im kräftig betonten Gegensätze zu den Aeltesten der Berliner Kaufmannschaft daS „bedrängte Kleingewerbe" auch nicht zum Opfer LeS „Grundsatzes des absoluten Ge- schehenlasscnS" werden sehen; sie finden bei aller Wcrthschätzung der Selbsthilfe, daß auch der Staat mancherlei Mittel und Wege hat, die Selbsthilfe zu unterstützen, und sie denken dabei vor Allem an den billigen Betriebscredit, wie ihn der Staat den Landwirthen durch die preußische Central- gcnossenscbaftscasse gewährt. Wenn bei der miß fälligen Erwähnung des Princips des Geschehenlassens das Fläschchen der Nachbarin bei den Herren Richter, Fischhof, Schneider, Barth, Pachnicke u. s. w. noch seinen Dienst ge- than haben sollte, bei der Anerkennung der Wirksamkeit der Centralgenossenschaftscasse ist jedenfalls jener Ohnmachts zustand cingetreten, dem wir bisher daS Schweigen der sonst so vorlauten freisinnigen Zeitungen verdanken. Gegen diese Centralcasse und ihren Begründer Miquel und dessen Absicht, das Betriebskapital im Sinne auch der Berliner Kleinkauf leute zu erhöben, haben sie nämlich vor wenigen Tagen noch Gift und Galle geschrien, alle ohne Ausnahme, die Rechten wie die Linken. Und nun kommen ihre Wähler und nehmen die Beanspruchung der Casse zur Belebung eines Genossenschaftswesens, das sie gegen die erdrückende Concurreuz des Großbetriebs unterstützen soll, mit dreister Ketzerstirn in Aussicht. In diesem vorletzten Acte der freisinnigen Götter dämmerung ist also auch das Dogma von den allein zulässigen und allein seligmachenden Genossenschaften nach Schulze-Delitzsch todt zur Erde gesunken. Die Unterzeichner der Eingabe wollen die gesetzgeberischen Maßregeln bis nach der Beendigung der — nicht etwa nur für Berlin oder die großen Städte, sondern ganz Preußen oder zum Wenigsten einen großen, sorgsam ausgewählten Theil der Monarchie gewünschten — Enquete verschoben wissen. In der Zwischenzeit gedenken sie jedoch auf andere Maßregeln zur Erleichterung der Lage des Klein handels, auf „kleine Mittel", wie sie sagen, nicht zu ver zichten. Wir bezweifeln nicht, daß die Regierung in die Ein leitung des Ermittelungsverfakrens willigen wird. Für Berlin stehen jetzt zufällig schon Erhebungen in Aussicht, die, ganz anderen Zwecken dienend, doch einiges Licht auf die Concurrenz- verhältnisse fallen lassen werden. Es sollen nämlich zur Infor mation der Feuerwehr Anhaltspunkte für die Schätzung Les Um fanges des Massenbesuches in den großen Waarenhäusern gesucht werden. Einstweilen wird, wie man uns von dort mittheilt, seit einigen Tagen an der Haltestelle der Pferde bahn in der Leipziger Straße, die bisher nach dem Kriegs ministerium benannt wurde, „Waarenhaus Wertheim" vom Schaffner auögerufen. Ein kleiner, aber bezeichnender Zug. Zur Illustration der Verhandlungen deS Reichstags über eine nicht durch bessere Sicherstellung der Arbeitsfreiheit erträglich gemachte EoalitiouSfrciheit dient eine Verhand lung, welche dieser Tage vor einer Strafkammer des Berlins Landgerichts I sich abspielte. Es lag folgender Sachverhai. zu Grunde: Am 9. October v. I. hatten die Maurer auf einem Neubau in Berlin die Arbeit niedergelegt, weil ihnen vom Arbeitgeber angekündigt worden war, daß der Stunden lohn von 60 aus 55 herabgesetzt werden sollte. Am folgenden Montag erschienen sie wieder auf dem Bau, weil ihnen ihre Invaliditäts-Karte noch nicht ausgehändigt worden war. Auf dem Wege dorthin trafen sie mit mehreren Maurern zusammen, welche als Ersatz für sie arbeiten sollten. Die Parteien geriethen in Wortwechsel und es wurde den Neueintretenden die höhnende Frage gestellt, ob sie sich nicht schämten, für 55 die Stunde zu arbeiten. Auf dem Bau kam es dann zwischen dem streikenden Maurer Oskar Hein und einem arbeitswilligen Maurer zu Thätlich- keiten. Hein versetzte dem Gegner mehrere Ohrfeigen und bedrohte ihn mit Todtschlag. Das Schöffengericht batte ihn auf Grund dieses Thatbestandes zu 14 Tagen Gefängnis; verurtheilt. Im Termin vor der Berufungsinstanz wandte sich der Vcrtheidiger besonders dagegen, daß der Staatsanwalt das durch die Gewerbeordnung gewährleistete Recht der Arbeiter, durch Ausstand und durch „Vorstellungen" bei ihren Genossen einen höheren Lohn zu erzielen, als Terrorismus bezeichnet habe. Der Angeklagte habe nach dieser Richtung hin das Maß des Erlaubten nicht über schritten und die Körper-Verletzung sei eine gewöhnliche Aus schreitung, welche mit dem Ausstande nichts zu thnn gehabt habe. Der Gerichtshof war mit dem Staatsanwalt der An sicht, daß sowohl Vergehen gegen die Gewerbeordnung wie versuchte Nöthigung vorliege, und es blieb bei dem Urtheil erster Instanz. Wenn es nach dem Wunsche der Social demokratie und ihrer demokratischen Besckützer ginge, so würde es künftig zu den geheiligten Rechten aller Streitlustigen ge hören, Ärbeitslustige durch Ohrfeigen, Bedrohungen mit Todtschlag und ähnliche liebevolle „Vorstellungen" zum Mit streiken zu zwingen. Wir haben, als die Unruhen wegen der Dreyfus- Af faire auf algerische» Boden Übergriffen, die Ansicht geäußert, daß die französische Negierung allen Anlaß hätte, deswegen besorgt zu sein. Diese Auffassung wird jetzt von französischen Blättern bestätigt. Der „Figaro" schreibt, daß die Berichte der Verwaltungsbeamten eine lebhafte Erregung in der eingeborenen Bevölkerung meldeten. Besonders die Kabylen zeigten sich nervös, und auf allen Märkten predigten die Marabuts die Auflehnung gegen die Regierung. Der Zeitpunkt ist besonders gefährlich, weil der Monat Ramadan herannabt, jener Monat religiöser Feste, die den Fanatismus der Muselmänner besonders aufstacheln. DaS Gouvernement von Algerien hat sich denn auch schon zu Vorsichtsmaßregeln veranlaßt gesehen und hat den Turkös, Len Spahis und den Zuaven in Blidah, Titi Ouzou und Fort National Befehl gegeben, sich für jede Eventualität sofort bereit zu halten. Ebenso bedenklich siebt bas „Journal des Debats" die Lage an. Es ist nur schade, daß die regierungs freundlichen Blätter ihre Stimme etwas spät erheben, nachdem Algier fast eine Woche lang der Schauplatz schwerer Unruhen gewesen ist. Wer die Stimmung der Eingeborenen kennt, weiß, daß ihr Haß gegen die Juden ein Kinderspiel ist gegenüber ihrem unauslöschlichen Hasse gegen die Franzosen, die ihnen ihr Land weggenommen und sie rechtlos gemacht haben. Es war unklug von dem algerischen GouvL.uement, die Unruhen nicht im ersten Augenblicke zu unterdrücken, da Frankreich gerade jetzt wünschen muß, in Algerien ruhige Zustände zu haben, um von hier aus in jedem gegebenen Momente die Pläne in Bezug auf Marokko zur Ausführung bringen zu können, und da schon im vorigen Jahre die im Westen Algeriens ausgebrochenen Unruhen die Regierung zwangen, die nach der marokkanischen Grenze beorderten Truppen wieder zurückzuführen. Ist Algerien im Zustande der Ruhe, so kann das vorzügliche und sehr starke XIX. Armee corps in jedem Augenblick zu einem Handstreiche gegen Marokko verwendet werde», und eS ist auch stark genug, um zunächst wenigstens den Engländern oder den Spaniern das Prävenire zu spielen; befindet sich aber Algerien nicht in ruhigem Zustande, so reichen die Truppen knapp dazu aus. Las große Land selbst in der Gewalt zu behalten. Mit der Bes chlag nähme des Dampfers „Balnchistan" durch einen englischen Kreuzer im verfisch en Golfe ist ein cnqltsch-rnft'ischer Zwischenfall geschaffen, denn daS abgefaßte Schiff ist ein russisches. Wie die Engländer dazu kommen, die Polizei für Persien zu spielen, ist noch recht zweifelhaft. Allerdings haben die Engländer die persische Regierung schon vor längerer Zeit dazu veranlaßt, ein Verbot gegen die Waffeneinfuhr vom persischen Golfe auS zu erlassen, nachdem es ihnen gelungen war, an der Südküste Persiens durch Verstärkung ihrer Machtmittel fick einen dominirendcu Einfluß zu verschaffen. Dann müßte aber die persisch: Regierung sich mit England vertragsmäßig dahin geein^r haben, daß diesem das Recht der polizeilichen Cxeculiv.' in den persischen Gewässern zusteht. Hierüber ist biSlcr nichts bekannt geworden, aber wenn auch inö Geheim eirc derartige Abmachung getroffen sein sollte, so wäre daS sehr anfechtbar und würde Necriminationen von russischer und türkischer Seite geradezu herausfordern. Außerdem war dcr „Baluchistan" mit dem Ziel BuSra, der großen türkischen Handelsstadt, nicht weit von der Mündung des Schal-el-Arai unterwegs, also nicht nach einem persischen Hafen. E? müßte jedenfalls erst nachgewiesen werden, daß das erster: Ziel nur vorgeschützt war. Wie man sich erinnert, ist das russi sche Schiff vor einigen Wochen schon an der Themse angehaltcu, aber wieder freigegeben worden. Man war also in England von vornherein auf dasselbe aufmerksam, da man es im Verdacht hatte, Waffen nach Persien bringen zu wolle», die dem russischen Einfluß dienen sollten. Persien ist es, wo di: Engländer gegenwärtig die russische Propaganda mit beson derem Nachdruck zu bekämpfen suchen, um gleichzeitig i.i Arabien festen Fuß fasten und so eine directe Verbindungs linie auf dem Landwege von Egypten nach Indien schaffen zu können. Im Nordwesten des Golfs ist in dessen die Pforte den Engländern zuvorgekommen. S>: bat sich mit dem neue» Herrscher dcr sogenannten „arabischen Republik" in Kmolit, wohin die Engländer ihr Augen merk gerichtet hatten, verständigt und gleichzeitig ein: starke türkische Truppenmacht dorthin verlegt. Die Absichi der Engländer, in Kmolit nicht nur die DurchgangSstatiou für die Eisenbahn Kairo-Indien zu besetzen, sondern auch einen Stützpunkt für eventuelle Vorstöße gegen Mesopotamien zu gewinnen, ist dadurch verhindert. Um so eifersüchtiger wacht nun England darüber, daß es an der Südküste Persiens nicht um seine Erfolge gebracht wird. Für Rußland ist dcr Zugang zum persischen Meerbusen eine Lebensfrage, ebenso wichtig wie der Durchgang durch die Dardanellen, und diese Nothwendigkeit zwingt Rußland, mit aller Kraft sein Ueber- gewicht in Persien zu wahren. Deutsches Reich. * Leipzig, 28. Januar. Einen lehrreichen Einblick in die Thätigkeit „religiöser" polnischer Vereine im Herzen Deutschlands eröffnet die nachstehende Notiz aus Nummer 11 deS „Pofiep": „Der polnisch-katholische Verein zum heiligen Michael in Klostermannsfeld besteht feit 1892 und zählt 55 Mitglieder, eingetreten sind 19, nach der Rheinprovinz und Westfalen sind 24 und in die Heimath 4 verzogen. Der Verein mit der Fahne nahm am sechsten Stiftungsfeste deS polnisch- katholischen Herz-Jesu-VereinS in Thale am Harz und an dem Fahnenweihfest des polnischen Gesangvereins Lutnia in Helbra theil. Im Verein wurden 10 ordentliche und 2 Generalversammlungen abgehalten, außerdem wurden noch daS Stislungs- und Weihnachtsfest gefeiert. Die lehrreichen Vorträge waren religiösen und nationalen Inhalts, die Mitglieder abonniren nur polnische Zeitungen. Die Einnahmen betrugen 220,85 die Ausgaben 216,61 .L" Fettrlleton, Alice. 1s Roman von I. Lermina. Nachdruck verboten. I. Gerade in dem Augenblick, als die Uhr Fünf schlug, verließ an einem Aprilmorgen eine kleiner, älterer Mann, der einen dunklen Ueberzieher und einen Hut mit breiter Krempe trug, die Rue de Valois und wandte sich dem Quai Voltaire zu. Hier verlangsamte er seinen Gang, huschte an den Mauern hin und blickte sich von Zeit zu Zeit aufmerksam um. Alles war noch vollkommen ruhig, und die Rue de Beaune, die der Mann jetzt betrat, war am Tage nicht belebter, als in der Nacht. David Davidot, so hieß der nächtliche Wanderer, wandte sich dem Hause zu, das die Nummer 6 trug. Unwillkürlich hob er die Augen, als er im ersten Stock, gerade über der Hausthür, ein erleuchtetes Fenster bemerkte; aus diesem Fenster schaute ein zarter, fein geschnittener Frauenkopf hervor, der ängstlich auf die Straße blickte. „Aha!" murmelte Davidot, „der Mann machte Streiche. Es thut mir leid, der armen Frau eine falsche Freude zu machen, und doch muß ich ins Haus." Thatsächlich machte die junge Frau eine plötzliche Bewegung, als wolle sie dem ins Haus Tretenden entgegenstiirzcn; dann aber erkannte sie ihren Nachbar und macht« eine Geste der Ent täuschung, die aber doch in einen freundschaftlichen Gruß über ging. Das Haus hatte keinen Portier, jeder Miether hatte seinen Schlüssel, so daß das späte Kommen Einzelner fast unbemerkt blieb. Davidot hatte die Bewegung der jungen Frau bemerkt; er fand sie vor der Thür stehend, wo sie in lebhaftem Tone zu ihm sagte: „Ich bitte Sie um Verzeihung, aber ich mußte heute Nacht in Ihr Zimmer gehen, Ihre Mutter klagte wieder stark." „Sie hatte wieder Schmerzen?" fragte Davidot, über dessen Gesicht eine tiefe Traurigkeit huschte. „Sie schlief schlecht, man tonnte glauben, sie habe böse Träume ... Ich habe versucht, sic zu beruhigen, sie sprach ... sie sprach immerfort . . . Jetzt ist sie diel ruhiger." Während sie das sagte, reichte sie Herrn Davidot den Schlüssel, den dieser ihr jeden Abend übergab, wenn er fortging, um erst am nächsten Morgen nach Hause zu kommen. „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen", versetzte Davidot im Tone aufrichtiger Ergebenheit; „hat der Anfall lange ge dauert?" „Zehn Minuten, vielleicht auch eine Viertelstunde." „Und", fragte Davidot mit einem gewissen Zögern, „hat sie viel gesprochen, haben Sie gehört?" „Nur unzusammenhängende Worte", unterbrach die junge Frau, es war wie im Delirium . . . Sie wußte gar nicht, was sie sagte." Davidot biß sich auf die Lippen; er erkannte, daß seine Mutter auf gewisse Erinnerungen angespielt hatte, die sie be ständig quälten, schreckliche und herzzerreißende Erinnerungen, die der Sohn am liebsten aus ihrem Gedächtniß ausgelöscht hätte. Er zögerte, als wenn er das Verhör mit der jungen Frau noch weiter hätte fortsehen mögen, dann aber besann er sich eines Anderen, zuckte die Achseln und öffnete seine Thür. In dem Zimmer, das nur eine Nachtlampe erhellte, schlief die Mutter in einem Bett, das beinahe die Hälfte des Gemaches einnahm; ihr Gesicht mit dem wachsbleichen Teint toar ruhig, das Athmen regelmäßig, die normal geschlossenen Augen zeugten von der wiedergewonnenen Ruhe. Auf den langen, ziemlich starken Zügen schienen die Runzeln wie in Stein gegraben. Diese Frau war wohl niemals sehr schön gewesen, doch man sah es ihr an, daß sie eine ungewöhnliche Energie besessen haben mußte. Ihr Sohn stand vor ihr; er betrachtete sie lange Zeit, dann bückte er sich und küßte sie leise auf die Stirn. War es eine Täuschung, doch es kam ihm vor, als hätte die schlafende alte Frau bei der Berührung seiner Lippen eine Art Widerwillen gezeigt. Etwas blaß richtete er sich wieder empor. Schnell fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht und trat wieder auf den Flur hinaus. Die junge Frau war in ihre Wohnung zurückgekehrt, doch die Thür war offen geblieben; vielleicht ahnte sie, daß ihr Nachbar wiederkchren würde. Thatsächlich klopfte Davidot an und blieb nach dem ziemlich leise gesprochenen „Herein" auf der Schwelle stehen. „Ich danke Ihnen noch einmal, Madame Alic«; übrigens ist es die letzte Nacht, die ich außer dem Hause zubrinqe, und meine Mutter wird jetzt nicht mehr allein sein." Die Frau, die Davidot Madame Alice genannt hatte, war etwa sechsundzwanzig Jahre alt, stark brünett und trug kurze, gekräuselte Haare; hübsch war sie wohl kaum, aber interessant, denn ihre kleinen, schwarzen Augen funkelten in seltenem Glanze. Der Mund war groß und ihre rothen, etwas dicken Lippen schienen zum Lachen geschaffen, und doch war er jetzt wie von heftigem Weinen schmerzlich verzogen. Da Alice auf die letzten Worte ihres Nachbars nur sehr ein silbig antwortete, so fuhr Davidot in ziemlich sanftem Tone fort: „Mein Gott, Madame, ich werde Ihnen vielleicht recht indis- cret erscheinen, aber Sie haben sich mir und meiner Mutter gegen über stets so gütig gezeigt,daß es mir wehe thut, Sie so beküm mert zu sehen." Alice richtete sich plötzlich auf und fragte in etwas zornigem Tone: „Wer sagt Ihnen, daß ich Kummer habe?" „Nun, nun, Madame, ich bin fast sechzig Jahre und könnte Ihr Großvater sein. Sie dürfen mir nicht zürnen, ich möchte Ihnen, aufrichtig gesagt, auch einmal einen Dienst erweisen können. Ich weiß. Sie leiden, und sehen Sie, jetzt eben müssen Sie an sich halten, um nicht laut zu weinen . . ." Alice begann zu schluchzen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Davidot trat näher und sagte mit noch sanfterem Tone: „Es ist Ihr Gatte, Herr Clairac.. Nun, fahren Sie nicht auf. . . Ich sehe wohl, daß er alle seine Nächte außer dem Hause zubringt, und Sie warten hier auf ihn . . Nun, wissen Sie Niemand, der einmal vernünftig mit ihm reden kann? Er ist ja noch jung und darum leidenschaftlich. Doch mit guten Rath schlägen könnte man ihn sicher veranlassen, diese verhängnißvolle Leidenschaft aufzugeben . . Ach, das Spiel, das elende Spiel!" Bei diesem zweimal wiederholten Worte hatte Alice plötzlich den Kopf erhoben und heftete ihre schwarzen Augen mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Spannung auf das Gesicht des alten Mannes. „Ich bitte Sie noch einmal um Verzeihung", stotterte dieser. „Aber nein, sprechen Sie, ich bitte Sie, ich bitte Sie ernsthaft darum, Sie sagten, die Leidenschaft des Spiels . . ." „Ist die schlimmste von Allen. Und doch habe ich Leute ge sehen, die davon geheilt wurden. Besonders, wenn man, wie Ihr Mann, kein Glück dabei hat." Die junge Frau legte ihm die Hand auf den Arm und fuhr fort: „Sehen Sie mir fest ins Auge. «Sie behaupten also, mein Mann spiele?" „Ja, wußten Sie denn das nicht?" „Er sagte es mir wohl", erwiderte Alice mit räthselhaftem Lächeln, „doch ist es auch wahr?" „Gewiß'." ' ' ' „Woher wissen Sie es denn?" Herr Davidot zögerte, dann sagte er endlich: „Das ist mein Geheimniß; doch ich bin Ihnen Dank schuldig, und darum will ich Ihre Frage beantworten; nur bitte ich Sie inständigst, verrathen Sie mich nicht. Ich weiß, daß Ihr Gatte spielt, weil ich ihn fast alle Nächte sehe ... Ja, ich sehe, wie er Alles wagt, was er besitzt. Bald viel, bald unbedeutende Summen. Er verkehrt in einer Spielhölle, wo ich selbst angc- stellt bin . . ." „Sie lügen nicht . . . Sie schwören mir . . ." Herr Davidot betrachtete die junge Frau, deren Gesicht sich plötzlich aufgeheitert hatte. Er verstand nicht, er konnte sich nicht erklären, warum sie einmal fast fröhlich erschien. „Aber Sie wissen wohl gar nicht, was das Spiel ist", fuhr er in lebhafterem Tone fort. „Das führt zu allen Verbrechen, es ist die höchste Zeit, daß Jemand, der Einfluß auf Ihren Gatten hat, ihn rettet. Wenn Sic wüßten, welche Gefahr der häufige Besuch dieser Spielhöllen in sich birgt." „Verkehren dort auch schlechte Frauen?" fragte Alice, die plötzlich wieder unruhig geworden war. „Ach, es handelt sich nicht um Frauen", versetzte Davidot verächtlich. „Die Männer muß man fürchten; diese Bande von Banditen, die zu Allem fähig sind und vor keinem Verdrecken zurückschrecken! . . . Noch in dieser Nacht sah ich ihn vertraulich sich mit einem Bösewicht unterhalten'. . ." „Noch in dieser Nacht!" rief Alice, „also hat Gaston in dieser Nacht gespielt?" „Von elf Uhr bis zum Schlüsse des Hauses." „Ach mein Gott, wie glücklich ich bin! Schnell, sagen Sie es noch einmal; es ist also wahr, Sie haben ihn gesehen, wirklich gesehen?" Sie hatte die beiden Hände des alten Mannes erfaßt und drückte sie zitternd in den ihrigen. Davidot war ganz verblüfft und konnte kein Wort sprechen. Indessen fuhr d:e junge Frau fort: „Sie verstehen mich nicht. Sie glauben, ich wäre wahn sinnig . . . Nun denn, nein, ich bin glücklich! Sie bereiten mir eine Freude, die mich für die Dienste, die ick Itmen habe er Weisen können, hundertfach belohnt . . . Warum? Nun denn, weil ich eifersüchtig bin . . . Und weil ich, hören Sie wohl, weil ich vor Eifersucht sterbe." Und mit leidenschaftlicher Redseligkeit fuhr sie fort: „Sie sagen mir, er spiele, was kümmert mich das? Er ist jung, er ist stolz, er will Niemanden um die Mittel bitten, die ihm fehlen, und die ihm seine Familie, denn er stammt aus einer vor-
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