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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.09.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-09-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970902024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897090202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897090202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-09
- Tag1897-09-02
- Monat1897-09
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Größere Schriften laut unserem Preis- vcrzeichniß. Tabellarischer und Zissernjas nach höherem Taris. Axtra-Brilagcn (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderun«; 00.—, mit Postbesörderung 70.—. —.«»c— Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. ZHorgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Dei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. —— Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig Jahrgang. 447. Donnerstag den '2. September 1897. Politische Tagesschau. * Leipzig, 2. September. Die im beutigen Morgenblatte mitgetheilte Nachricht der „Köln. Ztg." aus Brüssel, daß dort am Dienstag der bis vor Kurzem in London ansässige und erst in der vorigen Woche aus Deutschland nach der belgischen Hauptstadt zurück- gekebrte Anarchist (Gustav Tanbcnspcck unter dem Verdachte, einen Anschlag auf das Leben des deutschen Kaisers zu planen, verhaftet worden sei, wird ergänzt durch das folgende weitere Telegramm des rheinischen Blattes: * Brüssel, 1. September. Der gestern verhaftete Anarchist Dauben speck, der als solcher der hiesigen Polizei bekannt war und, wie fcststeht, vor einigen Wochen eine Reise nach Deutschland unternommen hat, von der er vor wenigen Tagen hierher zurück gekehlt ist, ist vorläufig wieder auf freien Fuß gesetzt, da da! Verhör bisher keine directen Beweise für seine Schuld ergab. Die Verhaftung Daubenspeck's erfolgte auf Grund einer Anzeige des fahnenflüchtigen Sergeanten Andreas Schab le vom 4. Großherzoglich hessischen Infanterie-Regiment „Prinz Karl" Nr. 118. Schäble, der fahnenflüchtig geworden ist aus Furcht vor einer ihm wegen Thütlichkciten gegen seine Untergebenen drohenden Strafe, arbeitete hier als Schnstergeselle bei einem deutschen Meister Namens Unverzagt. In dessen Werkstatt will er nach seiner Mittheilung Andeutungen über die geplanten Anschläge in Deutschland gehört haben, von denen Daubenspeck wußte, wenn er auch, was bis jetzt nicht feststeht, nicht der Anstifter selbst gewesen ist. Schäble tele- graphirte am Samstag nach Berlin und machte am Sonntag der hiesigen Polizei Mittheilung. Der Polizei gelang eS, gestern Morgen Len Daubenspcck im Bette zu überraschen, nachdem sic am Montag vergebens nach ihm gefahndet hatte. Daubenspcck wohnte hier ver steckt bei einem Frauenzimmer in der Rue de Richc-Claire. ES ist ein Mann von 60 Jahren und noch sehr rüstig, angeblich ist er aus Eresctd gebürtig. Schäble will heute nach Deutschland zurück kehren und sich seinem Regiments stellen. Der deutsche Wohl- thütigkeitsverein hat ihm die Reiscmiltcl bewilligt." Der Umstand, daß Daubenspeck vorläufig wieder auf freien Fuß gesetzt worden ist, legt die Vermuthung nahe, daß nicht einmal für den Verdacht, er wisse etwas von dem angeblich geplanten Anschläge, ein Anhaltspunkt sich gefunden habe. Immerhin wird man erwarten dürfen, daß die Unter suchung mit Eifer fortgesetzt und der Entweichung Dauben- speck'S mit Umsicht vorgebeugt werde. Er ist allerdings als Prahlhans bekannt, aber seine Zugehörigkeit zu den Anarchisten steht außer Zweifel, und überdies ist be kannt, daß er seiner Zeit mit Most die intimsten Be ziehungen unterhalten hat und daß in den belgischen Städten Brüssel und Lüttich schon öfter die Fäden anarchistischer Verschwörungen zusammengelaufen sind. John Neve, der schleswig-holsteinische Tischlergeselle, ließ sich s. Z. auch in Belgien nieder, nachdem er mehrere Reisen in Deutschland unternommen hatte, und suchte von dort aus durch Brandschriftcn seine Ziele zu erreichen. Aus dem Zuchthause in Halle, wo er dann saß, wußte er sich auf irgend eine Weise in Verbindung mit seinen Genossen zu setzen, die seine Befreiung planten; auch die Ausführung dieses Planes soll von Brüssel aus betrieben worden sein. Wessen man sich von den Anarchisten im All gemeinen zu versehen hat, lehrt die Auslassung spanischer Genossen, nachdem EanovaS gefallen, werde ein Anderer und Höherer an die Reihe kommen, und daß auch in Deutschland der Anarchismus vor dem furchtbarsten Verbrechen nickt zurückschreckl, das lehren die Vorgänge bei der Enthüllung Les Niederwalddenkmals und die Ermordung des Frank furter Polizeiraths Rumpf. Daß in der Umgebung des Kaisers die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, ist daher eine unerläßliche Pflicht der Vorsicht, die hoffentlich auch das etwa von diesen Maßregeln in seiner Schaulust beeinträchtigte Publicum nicht verkennt. Mit den St. Petersburger Begebenheiten sind die französischen radicalen Blätter viertel-, halb- und gauz-socialistischcr Färbung keineswegs nur kritiklos zu frieden, sondern verlangen die Veröffentlichung der Ab machungen mit dein Bemerken, dieselben seien einem Verrätst der Volksrechte gleich zu achten, wenn sie nichts über Elsaß- Loth ringen enthielten. Was sagen dazuuusere „deutschen" Socialdcmokraten, welche beständig auf die friedfertigen Ge sinnungen der französischen „Genossen" zu schwören bereit sind? Zu den Verbrüderungsscenen von Lille und dem „Tage" von Markirch, als die Herren Bebel und Bueb an der Reichs grenze vergebens auf den angekündigten Verbrüderuugsbesuch des französischen Genossen Jaurös warteten, die dritte Ohr feige der französischen Socialdemokratie an die Adresse der „ewig blinden" Deutschen. Wie vorausgesagt, hat der österreichische Minister präsident Graf Badeni, nachdem sein Experiment, die Deutschen durch seinen famosen „Ausgleichs"-Vorschlag zu versöhnen, mißglückt ist, sich der aus Polen, Tschechen, katho lischem Centrum, couservativem Großgrundbesitz, Südslawen, Ruthenen und Rumänen gebildeten Mehrheit in die Arme geworfen. Ihm ist es ja höchst gleichgiltig, mit wem er regiert, wenn er nur regiert. In der Besprechung mit dem Unterausschuß dieser Majorität stellte Badeni als erste Bedingung für ein gemeinschaftliches Vorgehen die Forderung auf, daß die Mehrheit aus eigener Kraft die Obstruktion der Minderheit breche und eine geordnete Wetterführung der Geschäfte des Parlaments ermögliche. Wie schon in einem Theil der Ausgabe LcS Morgcnblattes mitgetheill werden konnte, halte die Conferenz der Obmänner des Clubs der Rechten mit Badeni, welche mehrere Stunden in Anspruch nahm, ein beide Tsteile befriedigendes Resultat. Ter Pact ist also geschlossen, nnd wir warten mit Spannung auf die ersten Versuche, die deutsche Obstruction zu brechen. Viel Erfolg versprechen wir dem Grafen Badeni nicht, denn in den Rethen der Majorität herrscht jetzt schon Uneinigkeit. Die Polen grollen darüber, daß die Tschechen so ohne Weiteres und als ob es sich von selbst verstände, die Führung der Majorität an sich gerissen haben. So schrieb erst dieser Tage der „Przeglond", die Tschechen dürsten nicht glauben, daß die parlamentarische Majorität und das ganze Parlament nur ihretwegen da sei. Wenn die Tschechen nicht begreifen lernen, daß außer ihnen auch Polen, Slowenen, Deutsche und noch andere Völker in der Majorität vertreten seien und daß auch noch der Staat da sei, so w erd e die Majorität nicht lange bestehen. Der „Kurjer Lwowski" murrt, daß die Polen es nur den Tschechen danken, wenn sie sich nicht blos in Oesterreich, sondern auch in Deutschland verhaßt machen. Auch einer starken Gruppe der Klerikalen hat sich diese Mißstimmung über die Consiscation der ganzen Majorität für Leu tschechischen Größenwahn bemächtigt. Die „Salzburger Chronik" fand sich bemüßigt, daraus aufmerksam zu machen, daß auch die gegenwärtige Majorität im Grunde genommen nur eine Coalition sei, die auf gegenseitigem Ent gegenkommen beruhe, und daran zu erinnern, daß vom katholisch-conservativen Standpuncte der Liberalis mus der Tschechen sich von dem der Deutsch-Liberalen nicht wesentlich unterscheide, uno daß schließlich die katholische Volkspartci nur unter Wahrung ihrer wesentlichen Programmpuncte der Majorität beiaetreten sei. Aber auch wenn der Kitt, mit welchem diese Mehrheit zusammen geleimt ist, wider Erwarten halten sollte, so brauchen die Deutschen doch nicht bange zu sein. Ein Glück, daß die „N. Fr. Pr." schreiben kann: „Ans der Seiteder Opposition sitzen heutzutage ganz andereLeute, als die geduldige deutsch-liberale Staatspartci von Anno Taasie, die sanftiiluthlg den Kopf auf den Block legte und wartete, bis das Fallbeil der Abstimmung auf sie nicdersiel. Die Deutschen find mündig geworden. Sie sind nicht ohne Nutzen durch die Schule gegangen, welche die Vorgänger der heutigen Majoritätsparleien ihnen bereitet hatten, sie haben gelernt, daß in Oesterreich die Regierungen nur stark sind gegen die Schwachen, daß sie aber schwach sind gegen die Starken, und Laß daher nicht Diejenigen Berücksichtigung und Werthschätzung finden, die durch Patriotismus sich um den Staat verdient machen, sondern Diejenigen, die es verstehen, unbeugsam ihr Recht und ihr Interesse zu vertreten und durch die Hindernisse, die sie der Bequemlichkeit der Regierungen bereiten, sich Berücksichtigung und richtige Schätzung erzwingen." Diese richtige Schätzung dürfte sich sehr bald wieder ein stellen, wenn erst die Parteien der Majorität mit ihren auf Vernichtung der Staatseinbeit gerichteten Sonderwünschen an die Regierung heranlreten. In diesem Cardinalpuncte ist einzig nnd allein auf die Deutschen sicherer Verlaß. Für die beiden deutschen Minister im Cabinet Badeni hat nunmehr wohl die Stunde deS Abschieds geschlagen. Der der französischen Regierung nabestehende „Temps" veröffentlicht in der gestern Abend eingetroffenen Nummer unter der Ucberschrift: „Die Kundgebungen in der Provinz" den Wortlaut zweier Telegramme, die zwischen mehreren Einwohnern Elsaß-Lothring ens, „welche nach Pont-ü- Mousson gekommen waren", und dem französischen Ministerpräsidenten Möline gewechselt worden sind. Diese Telegramme lauten nach dem „Temps" wörtlich: „Im Namen der lothringischen Gruppen, die das annectirte, aber allezeit französische Lothringen vertreten, bitten wir Sie, sich beim Präsidenten der französischen Republik zum Dolmetsch unserer Gefühle unwandelbarer Freundschaft zu machen. Nach so vielen vergossenen Thronen der Betrübnis; hat uns der unvergeßliche Tag von Kronstadt Thronen der Freude vergießen lassen und erweckt unsere Herzen wieder sür die Hoffnung." „Herr Möline hat", wie der „Temps" wörtlich binzufügt, „oucch das folgende Telegramm geantwortet": „Ter Eonjeilpräsident, Minister des Ackerbaues, sehr ge rührt von Len Gefühlen, die durch die Gruppe von Lothringern, zu deren Dolmetsch Sie sich gemacht, ausgedrückt worden sind, bittet die Herren Delegirten, ihren Kameraden der Gruppe die Glück wünsche und die Dankbarkeit der Regierung für ihren glühenden Patriotismus zu übermitteln." Unter ausdrücklicher Hervorhebung seiner Eigenschaft als Ministerpräsident erachtet Herr Möline es also nach der Mittheilunc; des „Temps" für angemessen, die Lothringer zu beglückwünschen, die in ihrem Telegramm sich als Repräsen tanten der „Uoiraino annoxoe, inais toujours t'rantzaise" bezeichnet hatten und nun ihre Herzen zu neuer Hoffnung erwacht sehen. Von deutscher Seite müssen nunmehr jeden falls Erklärungen darüber verlangt werben, ob der franzö sische Ministerpräsident wirklich, wie es scheint, gegen den Frankfurter Frieden hat demonstriren, oder den Absendern des Telegramms nur mit einer Phrase seinen Dank für ihre „gute Meinung" hat auSdrücken wollen, jedenfalls war es — und besonders im gegenwärtigen Augen blick — mindestens außerordentlich tactlos, den Lothringern, also deutschen Unterthanen, überhaupt zu antworten nnd mit ihnen in einer Weise in Beziehung zu treten, welche geeignet ist, zu der Annahme Anlaß zu geben, daS amtliche Frankreich freue sich, die Worte des Zaren „ckroit ot justie«" im Sinne des französischen Chauvinismus auö- gelegt zu sehen. In der russischen Presse kommt durchweg eine Be- urtheilung der franco-russischen Alliance zum Worte, welche bestrebt ist, dieselbe gegen jeden Verdacht einer Drcibund- feindlickkeit in Schutz zu nehmen. U. a. schreibt die „Nowoje Wremja", die Proclamirung der längst erwarteten, in Ruß land längst bekannten Thatsache von der Existenz einer formellen russisch-französischen Alliance habe das große Wert der völligen Befestigung des Weltfriedens gekrönt, und fährt dann fort: „Die beiden Bündnißgruppen der Eontinentalmächte haben nicht den allermindesten Anlaß, aneinander zu gerathen. Rußland und Frankreich wünschen genau so aufrichtig wie Deutsch land, Oesterreich und Italien, den Frieden in Europa aufrecht zu erhalten. Sie Alle sind davon überzeugt, daß es in ihrem Interesse liege, auf dem Boden der actuellen internationalen Probleme gemeinsam zu operiren. Die gegenwärtig bestehende „kontinentale Ucbereinstimmung" hat eine acluelle Bedeutung und verspricht daher, sich als fest und dauerhaft zu bewähren. Mögen einzelne Chauvinisten und Volontaire auf politischem Gebiet das nickt begreifen wollen, die Regierungen sind hiervon so überzeugt, daß nur in England Regierungsblätter der letzten Geschehnisse wegen von der Nothwendigkeit einer Flottenverstärkung reden können .. . Dieses Bündnis;, dessen Charakter allen ehrsüchtigen Jntriguen fremd ist, wird es ermöglichen, daß aus dem europäischen Festlande ein moelu8 vielen äi sich herausbildet, der gleichmäßig allen Staaten Vortheile gewährt." Das Problem einer Annäherung Frankreichs an Deutsch land behandelt in einem dem letzteren sehr freundlichen Tone der „St. Petersburger Herold". DaS einflußreiche Blatt schreibt: „Der Zweibund hat bei der gegenwärtigen Weltlage die Erhaltung des europäischen Friedens zur Voraussetzung, und somit ist das französisch-russische Vündniß dazu bestimmt, die französischen Rachegelüste ab zu schwäch en, die bereits heute in einer weit milderen Form zu Tage treten, als zu Zeiten Boulanger's und der Patriotenliga. Es ist doch kein bloßer Zufall, Laß gerade jetzt, wo ganz Frankreich fast eine Woche lang mit Spannung hinhorchte, ob in Petersburg von einem Bündnis; gesprochen werden würde, das Thema der Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland durch Vermittelung Rußlands in der französischen Presse behandelt wird. In diesem für den europäischen Frieden so günstigen Umschwung ist die Wirkung des Bündnisses Rußlands mit Frankreich nicht zu verkennen; um so unverständlicher war daher der heiße Wunsch der Franzosen, von Petersburg her das Wort Bündniß zu vernehmen, ihr Sehnen nach einem geschriebenen Ver trag, der sich am allerwenigsten gegenwärtig gegen Deutschland richten kann, zu dem Rußland die besten Be ziehungen unterhält. Zu einem geschriebenen Vertrag zwischen Rußland und Frankreich könnten sich aber alle Freunde des europäischen Friedens beglückwünschen, wei er, wie die „Daily News"richtig bemerken, thatsächlich den Frankfurter Frieden verbürgen würde. Bis zu einer Verständigung zwischen Frank reich und Deutschland ist cs wahrscheinlich noch recht weit, doch die Nevanchei'oee verblaßt immer mehr und mehr und hat nach den Peterhofcr Festtagen jede Berechtigung ver loren. Wenn die französische Presse die Kronstädter Toaste enthu siastisch begrüßt hat, so feiert sie im Grunde die he ran nah ende Versöhnung mit Deutschland, die sür die dauernde Erhaltung Les Weltfriedens eine Bedingung sine qua non ist." Wenn diese Ausführungen, wie wahrscheinlich, die Auf fassung der russischen Negierung wiedcrgcbcn, so kann der „Pestcr Lloyd" sehr Wohl gut unterrichtet sein, wenn er be hauptet, daß die bis zur Abreise deS Präsidenten hinaus geschobene Proclamirung der „Alliance" „nach intimen Auseinandersetzungen des Zaren mit Kaiser Franz Josef und Kaiser Wilhelm" stattgefunden habe. Aber auch wenn dies nicht der Fall wäre, ja wenn selbst die neue Annäherung zwischen unseren Nachbarn im Osten und im Westen einen bedrohlichen Keim in sich schließen sollte, so genügt der Hinweis auf diejenige Coalition, welche solchen Eventualitäten dereinst die Spitze bieten sollte, um etwaige Fenilleton» vermißt. 1s Erzählung von Franz v. Lutter. Nachdruck verboten. Im Schatten des Waldes hatte ich eine kurze Mittagsrast gehalten. Kein Blättlein regte sich, die Vögel schienen ver stummt. Heiße, schwere Luft deckte seil mehreren Tagen die Erde, auf Bäume und Pflanzen hatte sich eine graue Staub schicht gelagert und gab ihnen ein schlaffes, verkommenes An sehen. Müde und schwerfällig, nicht frisch wie ein froher Ferienwanderer, war ich bis zum Waldsaume vorgedrungen und schaute fast theilnahmlos von der Höhe herab auf die Landschaft, die im grellen Sonnenlichte mir entgegenflimmerte. Sollte ich den schattenlosen Abstieg zu dieser Tageszeit unter nehmen? Noch stand ick unschlüssig, gedeckt von der breit ästigen Krone einer mächtigen Buche, als auf der kahlen Höhe mir gegenüber eine Staubwolke aufwirbelte, und fast unmittelbar darauf strich ein friscker Windzug rauschend durch die Wipfel der Bäume. Jin Osten erhob sich drohend ein finsteres Wvlkenhaupt. Die ersten schweren Tropfen erquickten den durstigen Erd boden, als ich in die enge Wirtbsstube im Dorfe unter der Höhe eintrat. Nur vereinzelt durchzuckte ein Blitzstrahl das Luftmeer und träge folgte ihm grollender Donner. DaS Gewitter kam nickt in seiner ganzen Gewalt zum AuSbruch. Dafür aber entströmte dem Himmel ei« gleichmäßiger Regen, der das Herz des Landwirthes mit Heller Freude erfüllt, der dem lechzenden Acker würzigen Erddunst entlockt. Nur der Wandersmann sieht trübe drein. Vor seiner Seele steigen die verlorenen Ferientage auf, die ein hartnäckiger Landregen in seinen grauen Mantel hüllt. An Fortsetzung meines Weges war für heute nicht zu denken, der nächste größere Ort lag zu weit entfernt, die an sich mangelhaften Wege waren durch den Regen fast grundlos geworden, für einen Wagen reichte die Reisecafse nicht. Eine Zeit lang hatte ich dem breiten Geschwätz des behäbigen Dorswirthes zugehört, dann aber hielt ich cs nicht mehr aus in der dumpfen Luft des kleinen Zimmers. Mein Nacht quartier war besorgt, der Regen rieselte nur noch in feinen Strähnen — vielleicht gab cs im Dorfe irgend ein inter essantes Gebäude, dessen Betrachtung sich verlohnte. Ich schlenderte durch die kleinen schmutzigen Gassen, die sich zwischen den Gehöften hinzogeu. Saubere, aber langweilige Bauernhäuser, eins wie das andere. Die Kirche war ein schlichter Bau aus der armen Zeit nach den Befreiungs kriegen, gegen die Höhe zu dehnte sich die kahle Front eines großen Herrenhauses, das aus dem Schatten eines Parkes hervorragte. Ihm fast genau gegenüber an der andern Seite deS Dorfes, wo das Gelände zu einer mäßigen Kuppe anstieg, strebte ein schmucker gefälliger Bau empor, der angenehm zu seiner Umgebung contrastirte. Ich hatte daS Dorf verlassen und stand nach kurzer Wanderung auf dem Friedhöfe. Schlichte hölzerne Kreuze, ab und zu ein kisscnartig verarbeiteter Sandstein mit ver witterter Inschrift, meist schmucklose grasbewachsene Hügel. Nur in der Mitte des mauerumhegten Raumes erhob sich ein stolzer Granitobelisk. Vor ihm breitete sich ein wohl- gepflegteS Teppichbeet aus, nud in seinen unteren Tbeil war eine Weiße Marmorplatte eingelassen, deren goldene Inschrift meldete: „vr. mock. Karl Horward, prakt. Arzt, geb. am ll. Februar 1842, von ruchloser Hand ermordet am 30. Januar 1871.— Sei getreu bis an den Tod, so will ich Dir die Krone deS Lebens geben." War eS die trübe Witterung, war es die protzige Vornehmheit deS Denkmals inmitten der ärmlichen Hügel, die meine Stimmung beherrschte, die ein widerwilliges Gefühl mir einflößtc? Der Regen hatte den Granit mit einer nassen Schicht überzogen und er schien mir aus der dunstigen Atmosphäre bervorzuschillern wie das feuchte Auge einer Schlange. „Giftiger Mund und böses Herz ist wie ein Scherben mit Silberschaum überzogen" — unvermittelt, ohne logischen Zusammenhang fuhr mir dieser Spruch SalomoniS durch den Sinn, ich wandte mich hastig von dem Denkmale ab, um meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Da, in der Ecke des Friedhofes, wo ein hoher Tanncnhain ihn begrenzte, erhob sich eine mächtige Linde, und unter ihrem Laubdache war ein Greis beschäftigt, zwei Hügel mit frischen Blumen zu schmücken. Der Baum war geblieben, weil jener Theil deS Gottesackers noch nickt in allgemeine Benutzung gezogen war — vor langer Zeit pflegten wohl in dunkler Nacht geheimnißvolle Gestalten unter seinen Zweigen sich zu versammeln, feierlich ernstes Manneswort tönte dnmpf durch die Finsterniß, freie Bauern sprachen Recht nach uraltem Landesbrauch; heute spielte der Lindendusl um die letzte Stätte der Verbrecher und Selbstmörder, der Friedlosen in den Augen der Menschen. WaS trieb den Alten, diesen Winkel der Sünder zu schmücken, Blumen zu setzen auf die Gräber der Verfehmten? Meine Neugierde ward rege, vorsichtig schritt ich durch die Hügelrcihen der Stätte des Unfriedens zu. Der Greis hatte meinen Fußtritt vernommen, er erhob sich aus seiner gebückten Stellung, schaute einen Augenblick erstaunt und fragend zu mir herüber und griff an seine Mütze, um einen Gruß mir zu spenden. Der Regen ließ nach, die Strahlen der Abendsonne kämpften siegreich mit den grauen Wolkengebilden, die Vögel verließen ihr Versteck und die Blätter zitterten erleichtert, wenn die letzten beschwerenden Tropfen zur Erde rollten. Ein Duften und Summen durchzog die Luft und verkündete die Poesie eines herrlichen Sommerabends. Auf einer schlichten Lattenbank unter der Linde saß ich neben dem Greise. Ich hatte in kurzem, theilnehmendcm Ge spräch sein Herz gewonnen — jetzt entrangen schwere Worte sich seiner Brnst; langsam, sprungweise schritt die Erzählung fort, bisweilen hielt er inne, um sich zu sammeln oder eine Thräne zu verwischen, die verstohlen in den langen Silber bart gerollt war. Ich saß schweigend da, den Blick gerichtet auf die geschmückten Gräber. AuS der Mauer heraus wuchs ein Fliederbusch und neigte sein dunkles Laub über die Schatten der Unglücklichen. Seine feinen schneeweißen Blüthen zitterten im Glanze der Abendsonne und streuten zarten Silberstaub auf Primeln und Tulpen. Gestalten entschwebten den Gräbern, unklar anfangs, gespensterhaft, aber wie der Worte deS Alten mehr und mehr an mein Ohr schlugen, gewannen sie Leben und Klarheit. ES war ein Tag, dem heutigen ähnlich. Die Sonne blinzelte durch die stattlichen Buchenwipfel des herrschaft lichen Parkes und spiegelte sich wider in Millionen von Tropfen, die an Blättern und Gräsern hingen. Auf den nassen Pfaden wandelten zwei Menschenkinder in stummer Andacht. Die Wangen gerölhet von innerer Er regung, den Blick in endlose Ferne gerichtet, schritt er dahin, kraftstrotzend, ein Bild der Gesundheit, und an ihn geschmiegt, hilfesuchend, verzweifelnd, eine zarte, durchsichtige Frauen gestalt. An der Biegung des WegeS machten sie Halt. DaS Laubwerk öffnete sich und gewährte eine reizvolle Aussicht aus Dorf und Thal. „Der Lieblingöplatz meiner guten Mutter! Wie oft bat sie dagesessen im warmen Sonnenschein, mit zärtlichen Blicken mein kindliches Spiel verfolgend und bewachend. Und wenn dann Du in die Ferien kämest, herübereiltest aus dem väterlichen Hause, um die treue Gevatterin zu besuchen, wenn der große Bub sick herabließ, mit dem kleinen Mädchen zu spielen, dann stahl sich wohl ein Strahl freudiger Hoff nung aus ihren Augen nnd eine glückliche Zukunft stieg vor ihrer Seele auf — doch dann richtete sich ter Blick wieder auf den Friedhof dort unten: „Kinder, vergeßt mich nicht, wenn man mir dort die Stätte bereitet hat." Wir ver standen sie noch nicht — ihr Wunsch ist nicht erfüllt, nicht einmal das Grab können wir schmücken. Der feine Süden, der Heilung bringen sollte, brachte Tod und Rubeflätte. — Jahre sind vergangen, der Vater bat eine neue Mutter mir gegeben — nnd ich bin ihr Kind nickt geworden." — „Ilse! sei ruhig und stark, mein Lieb! Kurze Zeit noch, nnd wir bauen uns ein eigenes Nest, und Du wirst wieder froh und glücklich!" Er hatte sie mit kräftigem Arme an sich gepreßt und einen Kuß auf ihre Stirn gedrückt. Sie aber schlug die Augen zu ihm auf, und eine bange, bange Frage war darin zu lesen. Stumm schritten sie wieder dem Herrenhaus- zu. Keines wagte auszusprechen, was beide bis inS Innerste erregte, sie fürchteten die Kraft zu verlieren. Erst als sie herauStratea
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