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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.10.1903
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-10-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19031023011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903102301
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903102301
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-10
- Tag1903-10-23
- Monat1903-10
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In ungeahntem Matze ist die Nachfrage und das Bedürfnis nach ärztlicher Hülfeleistung gestiegen,und wie segensreich das Gesetz ge wirkt hat, das beweist wohl am besten die bedeutende Ab nahme der Sterblichkeit in den beiden letzten Jahrzehnten, daS sicherste Kennzeichen dafür, daß auch in den unbe mittelten Volksschichten die Wohlfahrt gestiegen ist. Reiche Erfahrungen sind in dieser Zeit von den Aerzten gesam melt worden, manche vordem kaum gekannte Tatsachen, wie die Häufigkeit nervöser Erkrankungen, auch in den körperlich arbeitenden Bolksklaflen, die Eigenart und Ber- laufsweise vieler Krankheiten unter beschränkten sozialen und ökonomischen Verhältnissen, die gewerblichen Er krankungen, dieses und vieles andere ist im Laufe der Jahre mit Eifer bearbeitet worden und der Gesamtheit der Versicherten wieder zu Gute gekommen. Aber gleichwohl ist die Ausbeute weder in wissenschaft licher noch in praktischer Beziehung so reich gewesen, wie sie es der Natur der Dinge nach hätte sein können. Mehr und mehr sind wir in unserem industriellen Zeitalter zu der Ueberzeugung gelangt, daß neben den klimatischen und den meteorologischen Einflüssen, neben den organisierten Krankheitserregern auch im Berufe, in den sozialen und ökonomischen Verhältmsscn gewichtige Faktoren enthalten sind, die für Krankheit, Sterblichkeit und BerlaufSweise der Krankheiten von nicht minder erheblicher Bedeutung und, wie die längst geläufigen Krankheitsursachen Ja, selbst die Art -er einzelnen Erkrankungen ist In gewissen Grenzen unzweifelhaft mitbedingt durch Beschä'tigungs- werse, gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse. Das sind Tatsachen, die für kleinere Verhältnisse in einzelnen Betrieben längst mit Sicherheit erkannt sind. Man darf aber nicht vergessen, daß zur sicheren Entscheidung solcher Fragen nur Massenbeobachtungen genügen können; im engeren Kreise können die besonderen konstitutionellen und Ernährungsverhältnisse, die Sitten und Gebräuche der einheimischen Bevölkerung von derartigem Einflüsse sein, daß das Ergebnis der Beobachtung dadurch getrübt wird. Wenn man bedenkt, welche Fülle von wissenschaftlichem Material all die Jahre hindurch in den Akten und Büchern der meisten Krankenkassen begraben worden ist, dann muß man es aufs tiefste bedauern, daß diese für die Weiter- cntwickelung der öffentlichen Gesundheitspflege, insbe sondere der Gewerbehygiene, hochbedeutsamen Tatsachen und Beobachtungen nicht verwertet werden konnten. Bis her haben die Kaffe», entsprechend den gesetzlichen Vor schriften, nur ganz summarische Uebersichten ihrer Wirk samkeit zusammen gestellt, die im kaiserl. Gesundheitsamte bearbeitet werden. Wir erfahren daraus in der Haupt sache nichts als -en Einfluß derjenigen Erkrankungen, welche Arbeitsunfähigkeit verursachen, auf den Geschäfts betrieb der Kasten, die Erkrankungshäufigkeit und die Zahl der Erkrankungstage, welche auf das einzelne Mit glied entfallen. Ueber die weitaus größere Zahl derjeni gen Erkrankungen, welche keine Arbeitsunfähigkeit veran lassen, dringt überhaupt nichts in die Oeffentltchkeit. An diesen Verhältnissen ist auch durch die jüngste Novelle zum KrwnkenversicherungSgesetze nichts geändert worben, und daß die Kasten freiwillig nähere Aufschlüsse veröffentlichen sollten, ist aus -en verschiedensten Gründen nicht anzu nehmen. Man wird vielleicht glauben, daß die statistischen Erhe bungen über Sterblichkeit und Todesursachen in -er Ge samtbevölkerung ebenso gut oder noch bester zur Bear beitung jener Fragen geeignet seien, zumal auch hier über Beruf un>d soziale Stellung der Verstorbenen gewöhnlich besondere Uebersichten veröffentlicht werden. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Zunächst ist all unsere offizielle medizinische Statistik in der Hauptsache nur Sterblichkeits statistik, wir erfahren nur etwas über die zum Tode führenden Krankheiten, dagegen recht wenig über ihre Häufigkeit und Gefährlichkeit. So lange die Grundlagen unserer medizinischen Statistik nicht auf breiterem Funda ment aufgebaut sind, wird unser Wissen in dieser Be ziehung immer Stückwerk bleiben. Des weiteren haben jene Uebersichten über Beruf und soziale Stellung der Verstorbenen keinen besonderen Wert, einmal weil wir über die Zahl der in den betreffenden Berufen Tätigen und damit über das Verhältnis, in welchem die Ange hörigen eines bestimmten Berufes einer Krankheit zum Opfer fallen, nichts Sicheres wissen. Wenn man auch, vielleicht mit einer gewissen Berechtigung annehmen wollte, daß sich in diesen Verhältnissen seit der letzten Berufs zahlung nichts Wesentliches geändert hat, so fehlt uns, um jejne Daten richtig verwerten zu können, immer noch die Kenntnis, in welchem Verhältnis die verschiedenen Alters klasse« in einem Berufe vertreten sind. Da aber die Alterszusammensetzung einer Volksschicht bekanntlich die wichtigsten Bedingungen für die Grüße ihrer Sterblichkeit in sich schließt, so ist es klar, daß aus der Statistik der Ge samtbevölkerung nur mit größter Vorsicht und zur Lösung einfacherer Fragen Schlüsse gezogen werden können. Bei den Krankenkassen liegen die Verhältnisse weit günstiger. Hier sind der Beruf, die Einkommens- und die Altersverhältnisse jedes einzelnen Mitgliedes genau be kannt. Nichts stände im Wege, auf dieser Grundlage genaue ziffernmäßige Mitteilungen über Art und Häufig keit der einzelnen Krankheiten und das Verhältnis, in welchem sie zum Tode oder zur Invalidität führen, mit Angabe des Berufes, Alters und Einkommens der Be troffenen regelmäßig zu veröffentlichen. Freilich bedürfte es zur Leistung dieser Aufgaben einer Vermehrung des Personals und die damit verknüpfte Erhöhung der Un kosten dürfte dem Kasienkonto nicht zur Last fallen. Das Ganze müßte als Angelegenheit deS Reiches behandelt werden. Bei der Masse von Berufen, die sich aus den ver- schiedenften Altersklassen, namentlich den größeren Orts krankenkassen zusammenfinden, würde man auf Liese Weise nicht allein über Häufigkeit und Gefährlichkeit der meisten Krankheiten auch für die Allgemeinheit bedeutungsvolle Aufschlüsse erhalten, man wäre auch im stände, über Ge werbekrankheiten, über soziale und ökonomische Krank heitsursachen mehr Licht zu verbreiten. Nicht nur eine Reihe Fragen von höchstem wissenschaftlichen Interesse sind nur durch zuverlässige statistische Massenerhebungen zu be antworten; es würden auf diesem Wege auch die sichersten Unterlagen gewonnen werden für jene Verbesserungen auf -em Gebiete -er Gewerbehygiene und des Gewerbe schutzes, die für die kommenden Dezennien zu den wich, tigsten Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege ge hören. Deutsches Reich. -r- Berlin, 22. Oktober. (Zur Einführung des Zehnstundentages für Fabrikarbeit e- rinnen.) Ankniipfend an den Lvhnkamps in der Crimmitschauer Textilindustrie hat ein Unter- nehmerorgan, die „Textil- und Färbereizcitung", geäußert: „Hinsichtlich der Frauenarbeit können die medizi nischen Akten darüber als geschlossen gelten, daß zehn Stunden das höchste Arbeitsquantum sind, was der weibliche Körper ohne ernstliche Benachteiligung ertragen kann." — Diese Auffassung ist in dem Organ des Zcntralverbandes deutscher Industrieller, der „Deut schen Industrie-Zeitung", von einem Kachmanne als recht grober Irrtum bezeichnet worden, und derselbe Fachmann führte die vorgekommenen Erkrankungen auf Erblichkeit, schlecht zubereitetes Essen und ungünstige Wohnungsver- höltnifle znrück. Der bekannte Sozialreformer Dr. von Rottenburg, der sich in einer längeren Abhandlung in der „Sozialen Praxis" mit der Stellung der Parteien zur Einführung des ZvhnstundentageS für Fabrikarbeiterinnen beschäftigt, spricht den eben ange führten Momenten keineswegs die Bedeutung ab. Aber anderseits erinnert vr. v. Rottenburg daran, daß eine stattliche Anzahl von Sachverständigen die bedenklichen Folgen einer elfstiinüigcn Arbeitszeit weiblicher Textil arbeiter festgestellt hat, -atz auf Grund dieser letzteren Tatsache das englische Zehnstundengesetz zunächst zu Gunsten der Arbeiterinnen in -er Textil. industrie erging und in Amerika die ersten Reduktionen der Arbeitszeit sich auf den gleichen Industriezweig bezogen haben. Dem Urteile des Gewährsmannes der „Deutschen Industrie-Zeitung" mißt Dr. v. Rotteuburg für die Entscheidung der Frage der Einführung des Zehnstundentages deshalb keinen Wert bei, weil sich aus seinen Ausführungen nicht entnehmen lasse, ob das Feld seiner Beobachtungen ein so ausgedehntes war, daß dieselben als Grundlagen für all gemeine Schlüsse gelten dürfen. Die Wahrscheinlichkeit spreche entschieden dagegen, weil der Gewährsmann der „Deutschen Jndustrie-Ztg." selbst einrümne, daß die Weberinnen meistens in Akkord arbeiten und daß bei dieser Arbeit „in zahlreichen Fällen nur 9^/s Stunden Arbeits zeit und weniger herauskomme"; man dürfe also an- nehmen, daß die Zahl seiner Arbeiterinnen, die 11 Stun- den arbeiteten, keine erhebliche sei. Dr.v.Rottenburg hebt sodann hervor, daß die „Textil- und Färbereiztg." trotz ihrer eingangs wiedergegebenen Auffassung über die Schädlichkeit -es el'stünbigen Arbeitstages für Frauen nur dem „gewohnheitsrechtlichen" Zehnstnndentage für Arbeiterinnen das Wort rede, mit der Begründung: die Textilindustrie als Saisonindustrie müsse soviel Ueber. stunden beanspruchen, daß ein gesetzlicher Zehnstundentag vollständig illusorisch würde. Hierin sei, meint v, v. Rotteuburg, das Eingeständnis enthalten, daß der elf- stündige Arbeitstag in verschleierter Form beibehalten werden solle. Rottenburg betont demgegenüber das -ringende Bedürfnis, der Frau die Möglichkeit einer auS. gedehnteren Betätigung in Haus Md Familie zu ver, schaffen, durch eine derartige Gesundung deS Familien- lebens die leibliche, geistige und sittliche Entwickelung der Jugend zu fördern und der Trunksucht entgegenzuarbeiten. In einer Nachschrift zu seiner Abhandlung wendet sich De. v. Rottenburg gegen die Politiker, die wegen des Ausfalles der Reichstagswahlen eine Politik der Gewalt empfehlen, und als Beweismaterial die fr a n- zvsische Revolution hcranzieben. Rottenburg hält es lsir zweifellos, daß, wenn der Ausbau deS moder- nen Frankreich mittels einer Reform, anstatt der Revo- lution, erreicht werden sollte, Ludwig XVI. sich nicht von -en damaligen „Scharfmachern" umgarnen lassen durste, sondern die Politik des Reformmini st erS Turgot durchführen mußte. In der Entlassung Turqots liege die bedeutungsvolle Schuld des Königs. „ES gibt eben", schließt Rottenbura, „zwei Arten der Schwäche, welche für die Throne bedrohlich werden können; die eine besteht in dem Mangel an Mut, die gewappnete Faust gegen den Radikalismus zu gebrauchen, sobald derselbe eine staats gefährliche Richtung einschlägt; der andern macht daS Königtum sich schuldig, indem es sich widerstandslos von einer rückläusigen Bewegung sortreißen läßt, wie sie wiederholt in der Geschichte von den höheren Ständen in Scene gesetzt worden sind. Aus der französischen Geschichte sollte man die Lehre ziehen, daß diese zweite Art der Schwäche an Gefährlichkeit -er ersteren um nichts nach- steht." * Berlin, 22. Oktober. Gegen den vom der Sozialdemokratie verlangten Uebergang der preußischen Staatsbahnen an die Reichsverwaltung wenden sich die ,Berl. Pol. Nachr." mit folgender Ausführung: „Der fozialdemokra- tische Wahlaufruf verdient im allgemeinen nur insofern Feuilleton. Der erste Schultag. Novellette von Max Grad. ».aLdruck verboten. „Haben Lie s schon g'hvrt? Der Schnackeri kommt in Schul'!" Bon der Spatenbrauerei bis mindestens zur Basilika atmet di« gesamte Karlftraße auf. Aber die Mutter schnackerls — eigentlich heißt der hold« Sprössling ,Hya zinth", denn kein Name datt« die Eltern sein genug ge dünkt — sitzt mit rotgeweinten Augen in der Melberei iMlcherei und Mehlhandlunai. worin alles vor appetit licher Sauberkeit blinkt. Bon Zeit zu Zeit fällt eine Träne auf das volle, von Hellem Kattun prall umspannte Mutter herz oder auf eine» Wecken feinster Tafelbutter, wenn nicht gar in «inen blitzenden Kübel voll frischer, unverfälschter Milch. „Ja, mein Gott. Frau Oberbuberin. was haben Sie denn nur a'rad?" Die Melberei-Besitzerin Afra Oberhuber bricht laut in heisse Tränen aus. „Was ich hab'? Eine Sünd' und eine Schänd' ist's. Zwingen tun's einem, daß man seine armen, leibeigenen »linder zum Schinder führen muss. Jetzt muss er richtig in di« Schul' — unser armer Schnackerll" Der grosse Mutterschmerz läßt ibr den Seufzer der Erleichterung entgehen, den die nah« wohnende Kundschaft ausstösst. „Ja, aber ich bitt' Sie. Oberhuberin, dös mutz halt doch sein; ich mein', der Schnackerl hat so schon im Früh jahr Dispens g'habt. Er iS ja schon sechs und a halbes Jahr alt!" .Mein armer, armer Bub!" schluchzt die andere. -DöS iS mir doch einmal z' dumm!" murmelt die Stach- darin. Helle Zornesrüte steigt ibr in die Wangen. Or dentlich aufgeregt, packt sie die Düten mit Mehl und GrteS und di« „Haferln" voll Rahm und Schmalz in ihren Korb. „Ich mein, Sie sollten sich selbst trösten, wär schon gescheiter! Adje, Frau Oberhuber!" Die Sadentür fällt ganz besonder» schmetternd ins schloss, wie in Hellem Zorn klingelt scharf die schrill« Vlocke daran. „Dös wird dem Lausbuben einmal g'sund sein, dem infamichten!" sagt draußen laut die Kundin. Es ist kein allzu Kroßes Wunder, -aß vielen Leuten die Aussicht, der kleine Hyazinth Oberhuber komme nach den Ferien in die Schule, wi« «ine Art himmlischen Geschenkes dünken will. Hätten Tiere die Fähigkeit, die Worte der Menschen zu fassen» sämtliche Hunde, Katzen Papageien, etwaige Hühner, bis herunter zum harmlosesten Kanarien vogel, alle würden in die Freude einstimmen. Ist doch dem unternehmungslustigen Schnackerl nichts zu gering als Objekt für seine schlechten Streiche. Bon den Eltern als „einziger" mit Affenliebe ver göttert, ist er stets von allem umgeben, was ihm üer be häbig« Bürgerreichtum nur immer verschaffen kann. Schönes Spielzeug, gute Kleider, die kostbarsten Bilder bücher, alles wird verdorben und zerstört. Nur eines macht noch auf Schnackerl Eindruck — die urrbejchränkte Freiheit. Er, der „Kleine", ist der Hauptanführer der ge samten Gaflenbuben-Jugeud der Nachbarschaft, wenn's gilt, irgendwelche „Unternehmungen" auszuführen. Aber auch im Erfinden selbständiger, genialer Spiele, meist zur Qual des lieben Nächsten, ist Schnackerl gross. Kaum hat die goldene Herbstfonne, zum ersten Dlale wieder länger andauernd, Herrn Privatier Ruderer ver lockt, an dem blumengeschmückten Fenster feines Vorder zimmers den Nachmittagskaffee zu nehmen, da taucht im rastlosen Hirn d«S „angenehmen" Nachbarkindes schon ein neuer teuflischer Plan aus. Als echtes Münchener Kindl, stets die Taschen voll „Schusser" — wie man in Bayern die Murmeln nennt — findet er, daß diese, während seine Spielgefährten in der Schule weilen, zu vi«l der Ruhe pflegen. „Kling" schmettert zur Eröffnung einer kleinen Be- lagerung der erste Schusser aegen die Spiegelscheibe des Parterrefensters. Es war aber nur ein minimales Ge schoß gewesen. Herr Ruderer, der zwischen -em ersten und zweiten Schluck ein Nickerchen macht, fährt in die Höhe. „Der infame Fratz da. natürlich wieder der Melkerin ihr Schnackerl!" Aber der beabsichtigte Beruhigungstropfen, den sich der alte Herr gönnen will, erreicht nie die dürstenden Lippen. „Klingling schnstteredeng»". Ein kleines, kreis- rundes Loch im Fenster, die schöne Taffe in Scherben und Herrn Ruderers Finger verbrüht. Der nun folgende Skandal, die Untersuchung wie end- liche Ueberführung des Missetäters haben zwar zur Folge, dass Krau Oberhuber Herrn Ruderer eine neu«, wunder volle Tasse schenkt, worauf in Gold „Dem Hausherrn" steht und zwei schnäbelnde Täubchen nebst einer Girlande der exotischsten Märchcnblumen gemalt sind. Im übrigen aber scheint er keine strafende Rückwirkung auf den Sün der nach sich gezogen zu haben. Wenigstens streckt Schnackerl seine spitze Gassenbuben-Nase noch genau so frech und unternehmungslustig in die Luft wie vorher, und seine Taschen platzen fast von der Ueberfülle glänzen der, neuer, farbiger Schusser. „Ma muaß doch so einem kloanen Kinderl auch a bifferl a Freud' gönnen!" Und der große, so gemischte Gefühle erregende Tag kommt! Ueber Frau Oberhubers, aufs neue bekröntem 'Antlitz wiegt sich ein poinpüser Herbsthut neuester Mode, mit reich lichem Federschmuck, als sie in höchsteigener Person das unglücklich« „Opfer" zur Schule bringt. Schnackerl- Toi lette ist in ihrer frischen Pracht geradezu himmelschreiend. Es scheint fast, als hatte sein« Mutter, indem sie das ganze Füllhorn ihres ungeläuterten Geschmackes über den Sohn auSgoss, ihm von allem iraend etwas Herrliches gönnen wollen. Mit Stolz schielen die schlauen grauen Aeuglein SchnackerlS nach der wehenden Spitze der langen Hahnen feder seines neuen Tirolerhutes, währen- seine Mar mühsam, aber doch noch immer nur mangelhaft gereinig ten Hände den dunkelblauen Samtanzug betasten. Ein weiss und goldener'Matrofenkragen, dem noch ein weiterer gestärkter Kragen, sowie eine brennrote Seidenkrawatte höchst unnötig beigefügt sind, vervollständigen den Anzug. Die Beine stecken in bunten Schottenstrümpfen, hellgelbe Strandschuhe schmücken die Füße. Kaum ist an der Ecke der Luis«nstrabe, nach kummer vollstem Abschied, die imponierende Gestalt der schützen den Mutter verschwunden, da wird SchnackerlS Tapferkeit auch schon aufs lebhafteste herausgesordert. Mehrere Kameraden verfolgen ihn seine- Anzuges halber, mit den aufreizendsten Spottreücn. „Ah — ah — den schaut'S an — den dummen HanS- wurschten da. Der geht glei jetzt schon Maschtera!" Schnackerl fällt dem Herrn Lehrer gleich aufs unan genehmste auf. Während der ersten und einzigen Stunde, die ohnehin nur dazu dient, die kleinen ABC-Schützen im allgemeinen in die kommenden Pflichten einzuweihcn, weiss Schnackerl die ganze Aufmerksamkeit des Lehrers an seine Person zu fesseln. Seine Taschen scheinen bis zur Unerschöpflichkeit mit Eßwar«n gefüllt, die ein endloses Streitobjekt zwischen ibm und -en lüsternen Nachbarn bilden. Kein Mahnen, keine Drohung fruchtet. DaS Muttersöhnchen ist ja gewöhnt, zu tun mrd zu lassen, was ihm beliebt. Immer ungezogener wird sein Gebühren. Er knufft seinen Vordermann ohne allen Grund, wirst mit Speiseresten nach den bunten Anschauungstafeln an der Wand —und —selbst die verwildertste Vorstadtrange ent setzt sich «r duzt sogar den Herrn Lehrer! Es ist aus ¬ fallend, welch großartige Langmut dieser Pädagoge aber gerade dem Unartigsten zu teil werden läßt. Als aber Schnackerl einfach hohnvoll herausplatzt, als Herr Müller die Schüler ermahnt, doch auch anständig zu sprechen, zum Beispiel nicht immerzu „net" statt „nicht" zu sagen, über haupt die schöne deutsche Sprache nicht gar so grausam zu misshandeln, da reibt doch die Geduld Les Schwer geprüften. Mit kühnem Griff, der einige Uebung verrät, faßt er Schnackerl beim Kragen und zieht ihn wie ein junges Hündchen aus der Bank. Ein dunkler, äußerst un heimlicher Raum empfängt sofort den Sünder; sein Toben aber, wie endliches reuevolles Schluchzen und Bitten, ver hallen ungebört. Die Aufregung im Hause Oberhubers über den miß handelten Sohn ist ungeheuer und verspricht die weitesten Kreis« zu ziehen. Der Vater, welcher sich sonst selten über haupt etwas zu sagen getraut, wi« die Mutter beschließen, den „Schinder", den „Rüvel" von Lehrer beim Ministerium anzuzeigen. Schnackerl erfährt denn auch durch sein« „weisen" Eltern, daß Schule wie Lehrer nur dazu da feien, die arm«n Kinder um alle Jugendfreuden zu bringen und sie auf alle Arten zu peinigen. Auf dem kleinen Spitzbubengesicht aber liegt ein neuer Ausdruck. Gedrückt, aber dennoch mit einer gewissen Ueberlegenheit, streift sein Blick die schimpfenden Eltern. Bon den zu seiner Tröstung bestimmten Süßigkeiten be rührt er nicht». In ihm steckt ein junger Philosoph, der mit unumstösslichen Tatsachen zu rechnen weiß. Zur maßlosen Ueberraschung tritt am folgenden Mor gen Schnackerl im einfachsten Anzug, ganz zur Schul« ge rüstet, vor seine Mutter. ,Moaßt Mutter, der Gescheitere gibt nach. 'S nutzt ja doch alles nix; um wird höchstens halt wieder eing'sperrtl" In der Schule schleicht er de- und wehmütig, den Daumen im Mund, zum Herrn Lehrer. Zögernd, unter anfsteigendcn Tränen, stottert er: „Herr Lehrer. — brav will ich jetzt werden!" Dann schaut er schüchtern empor und fügt treuherzig hinzu: „Alles hab ich mir aemerkt. Still muß ma sein, „Du" darf ma ne net zu dir sag'n, und „net" sagt ma auch net.
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