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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 12.06.1907
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-06-12
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070612012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907061201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907061201
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-06
- Tag1907-06-12
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Umgebung die K gespaltene Petitzeile 25 Pf., finanzielle An zeigen 30 Pj^ Reklamen 75Pf.; von auswärts 30 Ps.. Reklamen 1 M.; vom Ausland 50 P'., ünanz .'Inzeigen75Ps, Reklameo l.50 M Inserate ».Behörden im amtlichen Teil 40Pf. Beilagegebühr 5 M. p. Tausend exkl. Post gebühr. Geschäftsanzeigen an bevorzugter Stelle im Preise erhöht. Rabatt nach Lari'. Feslrrtrilte Aufträge können nicht zurück gezogen werden. Für das Erscheinen an bestimmten Tagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen. Anzeigen«Annahme: AuguttuSplay 8, bei sämtlichen Filialen n. allen Annoncen- Expeditionen des Ju- und Auslandes. Haupt-Filiale Berlin: EarlDuncker.Herzgl-Bayr.Hosbuchhandlg Lützowstraße 10 lTel. VI, 4ttgZ. Mittwoch 12. Juni 1907. 101. Jahrgang. Var Aicktigrtr vsm Lage. * Am heutigen Tage findet in Deutschland die dritte Berufs- und Betriebszählung statt. * Gegen KOO Bergleute haben auf den Brückenderg- schachten de- Brückeuberg-SteinkohleubauvereiuS ihre Entlassung genommen, um nach dem Ruhrrevier auSzuwauder». (S. Dtsch». R.) * Die Angelegenheit Mottl ist jetzt grundsätzlich dahin geregelt, daß Mottl München dauernd erhalten bleibt. Die Einzelheiten des gestern im Prinzip angenom menen Vertrag- werden in den nächsten Tagen festgesetzt. * Die dritte Herkomerfahrt ist gestern mit dem Ziele Frankfurt a. M. beendet worden Als mutmaß licher Sieger wird der Beor-Wagen Nr. 19 von Edgar Ladenburg angegeben. (S. Art. 3. Seite.) * Das neue Ministerium Paschitsch ist in Serbien gebildet. (S. AuSl.) * Die Duma-Kbmmission hat die Auslieferung eine- Mitgliedes an die Gerichte beschlossen. (S. AuSl.) * Der ehemalige französische Abgeorduete CloviS HugueS, auch als Dichter namhaft, ist gestern ge- storbeu. * Die französische Kammerkommisfion hat den An trag auf Aufhebung der Kornzölle einstimmig abgelehut. vr.Zimckr über rorialestecbtzstage». Eine der beachtenswertesten Folgeers-beinungen der letzte» Reich-tag-wahlen ist die ganz außergewöhnlich umfangreiche Persynalerneuerunz in der vationalliberaleu Fraktion. Di« Ursachen dieser Veränderung der Verhältnisse liegen auf sehr verschiedenen Gebieten. In der Hauptsache hat der Umstand dazu beigetragen, daß eiu an sich nicht unbedenklich großer Wechsel im Besitz der Wahlkreise stattgesuoden hat. Die hierbei zutage geförderte» Mängel an Organisation und Konsistenz der Wählermassen mögen der Fürsorge der Parteileitung dringend empfohlen sein. Anverer- seit» aber hat diese Blutaussrischuug, an der unser Sachsen sich den stärksten Anteil zuschreiben darf, überaus günstig auf die Zusammensetzung der Fraktion ge wirkt. .Ohne auf alte Streitigkeiten zurückkommen zu wollen, kann doch mit voller Berechtigung konstatiert werden, daß besonder» der soziale Fort'chritt in unseren sächsischen Ab geordneten einen neuen starken Rückhalt gewonnen hat, der auch geeignet scheint, der Baffermannschen Auffassung einen noch größeren Nachdruck al- bisher zu geben und der vielfach von verständlichen Bedenken beeinflußten Richtung der Westdeutschen Fndustriekreise al» Gegengewicht zu dienen. Ferner ist mit dem Einzuge der neuen Leute in daS Parlament eiu Moment größerer Agilität in die Fraktion gekommen, und die not wendige Fühlung zwischen Wählern und Abgeordneten ist durch häufige Vorträge der Parlamentarier gestärkt worden. Wenn diese e» außerdem noch al» vodilo oküoium anerkennen, auch in nicht nationallibrral vertretenen Wahlkreisen zu sprechen, so sieht man daraus, wie stark der politische Sinn und die Arbeitsfreudigkeit in ihnen ist. Am Montag hat Herr Dr. Jnnck im Charlottenburger jungliberalen Verein über soziale Rechtsfragen der Gegen wart einen Vortrag gehalten, der alle Merkmale der von nn» eingangs charakterisierte« fraktionspolitischen Erneuerung in sich trug. Dem aufmerksamen Leser der Parlamentsver handlungen konnte ganz naturgemäß nicht» wesentlich Neues geboten werden. Denn gerade Herr Junck hat kaum eine ParlamentSrede über Rechtsfragen gehalten, ohne die gebührende Rücksicht auf alle berührten sozialpolitischen Erscheinungen zu nehmen. Das liegt sowohl in seinem persönlichen Programm wie in einem innere« Bedürfnis seiner Natur begründet Gleich seine erste, ganz kurze und doch eindrucksvolle Rede im Reichstage war eine spontane Verteidigung der angegriffenen sächsischen Laienrichter au« dem Arbeiter stande. Dr. Junck hat aber in Charlottenburg die Gelegenheit benutzt, um seine Ansichten über soziale Rechts fragen zusammeuzufaffen. Darin liegt die Bedeutung des Vortrag» auch für de« heimischen Reichstagswahlkreis Leipzig begründet. Wertvoll will e» nn» bei der chronologischen Betrachtung der Charlottenburger Rede zunächst er scheinen, daß Herr Dr. Junck sich mit Stolz zu dem von den Jungliberalen ausgestellten Programm bekannt hat, da» heißt zur Förveruug des «ationalen, de» liberalen und des sozialen Gedanken». Aber auch in dem formalen Gebrauch de- Worte» IungliberaliSmuS liegt eia tieferer Sinn. Wer sich juugliberal nennt, will nicht nur den Fortschritt (wer will den schließlich nicht?), er will energisch sortschrriteu. Er will nicht nur liberaler Ansicht sein, er Wil sie auch mit der Frische und Tateulust der Jugend be tätige». Und gleich in den folgenden Sätzen seiner Rede bestätigte Herr Junck diese Meinung. Wir haben der Sozialdemokratie Mitläufer an» dem Arbeiterstaude ab gewonnen. Das ist für m»S eine »eve heilige Verpflichtung, Sozialpolitik zu treibe». Eine neue Verpflichtung, denn die Pflicht zum sozialen Ausgleich ist absolut und nicht ab hängig von Eiuzelerscheiuunge» und Umständen. DaS sind Pr»gram»sätze, die ein feste« Fundament abgeben und alle» Anzweiflung«» Trotz bieten, wen» die notwendigen «S ihn« für die Li»zelfrage» gezogen werde». Und die hat Herr Junck gezogen. Ohne betrübliche unsoziale Erscheinungen in unserer Rechtsprechung zu leugnen, betonte doch der Redner mit großem Nachdruck die soziale Reife unsere» RichterstaudeS. Wir möchten dem hinzufügeu, daß gerade unsere sächsischen Richter in ihrer überwältigenden Mehrzahl den Erfordernissen des praktischen Lebens in einem iudustriell stark entwickelten SlaarSwesen gerecht zu werden bemüht sind. Insbesondere unser juristischer Nachwuchs ist durchaus sozial erzogen nnd macht alle Klaffeujustizverdächtigungen zunichte. Sachseu kann gerade in der Beziehung den Vergleich mit der Recht sprechung in anderen Bundesstaate» ruhig aufaehmen. Wenn noch immer zur Genüge gegen soziale Empfindung in der Justiz gesündigt wird, so soll man sorgsam unterscheiden zwischen Gesetzesvorschriften und Rechtsprechung. Der ein zelne Richter kann naturgemäß unsoziale gesetzliche Bestim mungen wohl mildern, aber nicht abschaffen oder unbeachtet lassen. Dr. Junck jordert mit allem Nachdruck sowohl aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit wie der sozialen Nützlich keit, gewissermaßen aus volkspädagogischen Rücksichten, Heran ziehung der Arbeiter zur Rechtfpreckung. Eine wahrhaft soziale und liberale Forderung, die zu ihrer Verwirklichung übrigens die Notwendigkeit bedingt, endlich mit der Ge währung von Tagegelbern für Geschworene und Schöffen Ernst zu macken. Dr. Junck bekannte sich dann noch als Freund einer gesunden Mittelstaudspolitik, für die in der Privat- angestelltenversicherung «in wichtiges FörverungSmittel gegeben ist. Und schließlich sprach er sich für den unseres Erachtens einzig richtigen Weg der Reform unserer sozialen Zustände insofern aus, al» er das ÄoalitionSrecht in den Mittelpunkt der ganzen Frage stellte. Erst ein freiheitliches KoalitionSrecht, >n Verbindung mit einem schikaneulosen Vereins- und Versammlungsrecht, dann Rechtsfähigkeit der Berussvereine und all daS andere Schöne, Woran der Kanzler „denkt". Das ist eine organische Reform, getragen von sozialem und liberalem Geist. Wer so spricht, ist ein liberaler Politiker, ein Liberaler ohne „Wenn" und „Aber". Und wer diesem Programm zu stimmt, bekennt sich damit zur liberalen Anschauung. Es mag nützlich sein, das mit aller Deutlichkeit auSzusprechea und den allzuvielen politisch Indifferenten damit zum Be wußtsein zu führen, wohin sie gehören und wozu sie sich bekennen, wenn sie in Dr. Jnnck den Vertreter ihrer An sichten sehen. Vie Ainrrr-flevsttr. (Von unserem Pariser Korrespondenten.) Am Abend des 10. Juni haben die Gemeinderäte und Bürgermeister von 1200 Gemeinden, Städten und Dörfern, in sechs südlichen Departements der Republik demissioniert! Auf den Rathäusern weilt niemand mehr, der befugt ist, Trauungen und andere standesamtliche Zeremonien vorzu nehmen; die Bürger werden Staat und Stadt die Steuern verweigern. Das ist das Resultat einer in dieser Art in Frankreich, und auch sonst in der Welt, nie dagewesenen Volksagitarion. Jeden Sonntag organisierten die notleiden den Winzer an einem anderen Orte Massenkundgebungen, keine war derartig imponierend, furchterregend und folgen schwer, wie die vom letzten Sonntag in Montpellier. Mau wird nie recht erfahren, wie groß die Menge der auS einem Umkreis von 200 Kilometern herbeigeströmten Mani festanten war; das Organisationskomitee schätzte sie auf YOOOOO Köpfe, manche Zeitungen reden von 600 000, die niedrigsten Schätzungen aber versichern, daß es nicht unter einer halben Million gewesen sein können. Schon seit Frei- tag waren 150 000 Leute in Montpellier zugewandert, wo kein Bett mehr zu haben war, und wo die Munizipalität alle Säle, Scheunen usw. mit Stroh hatte auslegen lassen. In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag aber mußten Tausende von herbeigeströmten Dörflern sich im Freien, in öffentlichen Gärten und auf den Trottoirs der Straßen aus strecken; in der Morgenfrühe, gegen zwei Ihhr, sank plötzlich die Temperatur so, daß die Acrmsten dratzßen vor Kälte schlotterten, und daß der Ü^schof den Befehl Hab, alle Kirchen zu öffnen, um insbesondere die Frauen gegen die Ungunst der Witterung zu schützen. Ohne Unterlaß langten auf dem Bahnhofe Extrazüge art, die immer neue Manifestanten brachten. Meist marschierte den Dörflern eine Musikanten bonde beim Einzug in die Stadt voran. Gegen 5 Uhr früh waren die Straßen und Gassen im Stadtzentrum derartig mit Menschen vollgepfropft, daß man kaum noch vorwärts oder rückwärts konnte. Ein ungeheurer Lärm herrschte, da alle durchcinnader schrien und sangen; das südfranzösische Temperament will sich austoben. Es war ein sehr pitto reskes Bild, die mit Fahnen, Banderolen und Laubgewinden geschmückten Häuser und dazwischen die bunte Menge der oft in ihren Heimatstrachten erschienenen Winzer und Winze rinnen zu sehen: alle Männer trugen aus ihren Hüten und Kappen daS Bild ihres neuen Abgottes, des im Weinland zu unerhörter Popularität gelangten Mareecin Albert, jenes Weinbauers aus dem Torfe Angelicrs, der zuerst den Plan zur Organisation der Massenkundgebungen gefaßt und mit 87 seiner Mitbürger das Komitee von Argeliers gebildet hatte. Mit großer Mühe arrangierten die Mitglieder dieses Komitees den großen Umzug in Montpellier; die Gemeinden mußten departementsweise Ausstellung nehmen, um nach dem Platz des Meetings, der Esplanade von Montpellier, zu marschieren; erst gegen 3 Uhr nachmittags langte die Spitze des Zuges auf dem Platze an. Es dauerte Stunden, bis die ungeheure Menschenschlangc sich abgewickelt hatte, und cs ist ein Wunder, daß sie sich abzuwickeln vermochte, ohne daß eS zu ernsten Unfällen kam. Eine unbeschreibliche Begeiste rung trug diese Volksscharen, verbrüdert durch ein gemein same» Wollen, durch den gemeinsamen Kampf und den Haß gegen den Staat, in dem ihre Arbeit, wie sie sagen, sie nicht mehr ernährt. Allmutter Republik soll über Nackt dafür sorgen, daß der Wein aus der Kelter zu guten Preisen ver kauft wird. Wehe ihr, wenn sie nicht zu Helsen weiß! Mar- celin Albert batte e» gesaat: Wir hungern. Bi» zum 10. Juni mMnsestiere» wir. Vom 10. Juni an kündigen wir dem Staat den Pakt. Tut er nichts mehr für uns, tun wir nichts mehr für ihn. Und diese Schlagworte wirkten zündend. Erst sagte die Negierung: „6'est cku bsttago!" „Wort drescherei!" Der „Mittag" berauscht sich gern mit Redens- arten. „Der Schneeball wuchs zur Lawine", wie Albert sich auf dem Meeting ausdrückte. In Eile arbeitete der Finanz minister einen Entwurf aus. Man bcfrug die Winzer, was sie denn eigentlich wollten. „Seht selber zu, was zu machen ist", antworteten sie, „helft uns nur aus der Not." Und da die Winzer so sehr über die Wcinsälscher schrien, die die Hauptschuld trügen, daß nicht genügend Nachfrage nach Naturwein vorhanden sei, verschärfte der Finanzminister, sekundiert vom Justizminister, das Gesetz gegen die Zuckerer und sonstigen Weinpantscher. Am 7. Juni wurde endlich in der Kammer eine Sitzung abgehalten, in der die Negierung ihren Gesetzentwurf einbrachte und zu erkennen gab, daß sie den Soldaten einige hundert Hektoliter Wein zu trinken geben und in den notleidenden Gemeinden eine Stundung der Steuerzahlung, für die ärmsten einen vostänbigen Nach laß der Abgaben bewilligen wolle. So glaubte man in letzter Stunde der Bewegung einen Wall entgegenzusetzen. Hohn gelächter erschallte aus dem Süden zur Antwort. In Mont pellier verteilte man Zettel, auf denen zu lesen stand: „De putiertenkammer. Sitzung vom 7. Juni 1907. Diskussion der Weinkrise. Anwesend 25 Deputierte. Keine Beschluß fassung. — Sitzung vom 22. November 1906. Erhöhung der Deputiertengehälter von 9000 auf 15000 Francs. An- wcserck 530 Deputierte. Gehaltserhöhung sofort votiert." Hat die Agitation auch nichts mit Parteien zu tun, richtet sie sich doch mehr und mehr gegen die Regierenden, gegen die Deputiertenkammer en bloe und gegen das Ministerium Elemenceau. Mit welchem Opfer man die erregten Fluten beruhigen soll, weiß niemand mehr zu sagen, am wenigsten wohl Marcellin Albert und sein Komitee von Argeliers. Ten sechs Departements zuliebe kann der Präsident der Re publik doch nicht die ganze Deputiertenkammer nach Hause schicken. Und die Deputiertenkammer wird ihrerseits nicht einmal das Ministerum Elemenceau nach Hause schicken können, da die von Elemenceau geschickt um eine Woche früher denn üblich anberaumten Generalratswahlen, an denen die meisten Deputierten interessiert sind, die Session der Parlamente virtuell beendet und dem Ministerium so nahezu mit Sicherheit eine Verlängerung seiner Existenz um drei Monate garantiert haben. Die Winzerbevölkerung ver langt die Demission der von ihr gewählten Deputierten und Senatoren, nickt bloß als Zeichen des Protestes, sondern weil sie mit ihren Vertretern, di« nicht wenigstens sofort eine Subvention von soundsovielen Millionen Francs an die Notleidenden durchgesetzt haben, durchaus unzufrieden sind. Marcelin Albert, den die Winzer in ihrem über schwenglichen Enthusiasmus hinfort nur noch ihren „meri- dionalen Napoleon" nennen, batte sein« Ansprache mit dem Befehl an alle Volkserwähltcn, ihr Amt niederzulegen, ge schlossen. „Hier ist die furchtbarste Armee der Arbeit, die inan je gesehen", hatte er gerufen, „sie ist friedlich, gewifi, aber sie ist zu allein entschlossen. Es ist eine Armee von Bettlern; sie hat nur ein« Fahne, die der Misere; sie hat nur ein Ziel, die Eroberung des Brotes. Ein letztes Mal: Mögen sie sich berauswurstcln: Wir wollen unfern Wein verkaufen!" Diese dröhnende Beredsamkeit wird als tragi komisch geschildert: aber da man sie heute doch mehr tragisch als komisch nehmen muß, war das Gerücht gegangen, Cle- menceau werde Albert wegen Aufreizung verhaften lassen. Das wäre eine enorme Unklngheit gewesen, und der Minister ließ die Nachricht dementieren. Als der Bürgermeister adjunkt seine Schärpe wegschleuderte, sollen Tausende vor tiefer Bewegung Tränen vergossen haben. Wer die Be wohner des französischen Mittags so hinstellt, daß sie nie ernst zu nehmen sind, und daß auch jetzt ihr Geschrei nur ein formidabler Bluff sei, der befindet sich in kolossalem Irr tum. Es handelt sich um kein vergnügtes Radaumachen. Die Männer und Weiber, die meilenweit herbcimarschiert sind und den halben Tag lang die Bahnhöfe belagert haben, um in einem Zug nach Montpellier mitgenommen zu werden, befinden sich tatsächlich großenteils in einer von Jahr zu Jahr schlimmer werdenden Misere: man kann es verstehen, daß sie in Albert, der aus ihren Reihen hervorgegangen ist, den Retter, beinahe ein übernatürliches Wesen sehen: „Vivo lo ReclkMpteur!" „Hoch der Erlöser!", schreiben die naiven Bergbewohner auf ihre Schilder unter das Bild Alberts, daS sie sich vorantragen lassen. Aber es fehlt auch nicht an Drohungen. Man konnte oft lesen: „Aufgepaßt. Am Ende reden unsere Gewehre!" Alle Korrespondenten der Presse berichten, daß der Gesamteindruck recht beängstigend war. Am Abend durchzogen Manifestanten Montpellier und konnten nur mit Mühe vor der Präfektur und vor dem Hause des Bürgermeisters Briol, der unbeliebt geworden ist, auseinandergetrieben werden. Auf einigen Bahnhöfen, so in Perpignan, kam es zu Zusammenstößen mit der Truppe. Woher wird jetzt d«r Erlöser kommen, der diese erregten Volksscharen wieder ins Geleise der bürgerlichen Ordnung zurückführen wird? Wir beschränken uns heute auf dieses Augenblicksbild der interessanten und vielleicht für Gesamt-Frankreichs Zu kunft sckicksalslckwanaeren Vorgänge. Wir behalten uns vor, aus die Ereignisse zurückzukommen, welche so hoch dramatisch begonnen haben, lobald sich klarer erkennen läßt, in welche Bahnen die Bewegung cinlenken wird. Heute gärt srr »och so trübe wie der Most des sorgcnbrechenden Trankes, der ein Sorgen b r i n g c r für das gesegnete Land geworden ist. * Der gestrige Ministerrat beschäftigte sich mit der Krise im Weinbau. Der Kriegsminister Picquart teilte mit, daß er eine Untersuchung eingeleitel habe über die Dorkomm- nisse, die sich am Sonntag abend beim 100. Infanterie- Regiment in Narbonnc zugetraaen haben sollen. — In der gestrigen Vormittagssitzung oer Kammer erteilte der Finanz minister Caillaux bei der Besprechung der Weinsälschuugen den Weinbauern den Rat, sich ru organisieren, um die Pro duktion zu regeln, den Anbau der mittelmäßigen Weine ein- gehen Hu lassen und die Unterdrückung von Fälschungen zu unterstützen. Der Berichterstatter Eazeanr-Cazalet meinte, die Kontrolle könne sowohl bei den Weingroßbändlern. wie bei den Weinbergsbesitzcrn ausgeüb. werden. In Beant wortung verschiedener Bemerkungen erklärte der Finanz minister, er werde für fünf Jahre die Grundsteuer erlassen für Weinland, auf dem zu anderen Kulturen übergegangen wird. Hi,raut wurde die GeneralLisknssion geschlossen. von venksin über MZcblachtkelael Ser Mamrckurei. XU. Gegen 5 Uhr nachmittags trafen wir in Begleitung unse rer japanischen Eskorte in Panlaschantsy, am Schiliho ge- legen, ein. Unsere Bagage, die wir mit Karren voraus- ge)chickt hatten, war natürlich noch nicht angekommcn, ob- gleich sie nach unserer Berechnung längst da sein mußte. Wir hatten also Zeit, uns über die Unterkunftsverhältnisse zu orientieren, und fanden eiu Ouartier bei einem chinesi schen Kaufmann, der uns «ine Fangdze (chinesisches Haus) im Hofraum mit 3 Zimmerchen zur Verfügung stellte. So gut wie die Papierzimmerchen im Japanerbotel in Liao- Hong waren sie mindestens. Ich muß hier übrigens nachholen, daß die Rechnung der Unterkunft in Liaoyang nebst der mangelhaften Ver- pslegung für die eine Nacht 137 Dollars (300 ^l.) für di- 9 Herren betragen hatte. Unser japanischer Dolmetscher unterstützte diese unverschämte Forderung des Wirtes so eindringlich, daß wir ibn am liebsten sofort zum Teufel ge- jagt hätten. Unseren Vorstellungen, daß dieser Preis doch unmöglich richtig sein könnte, wurde mit der Erwiderung begegnet, daß, wenn wir nicht die voll« Summe entrichteten, sofort die Angelegenheit dem japanischen Konsul vorgetragen werden würde. Aus derartige lange Verhandlungen kann- ten wir uns nicht einlassen, abgesehen davon, daß es uns peinlich war, mit der Zivilbevölkerung in einen derartigen Konflikt zu geraten, nachdem di« japanische Militärver waltung in so liebenswürdiger Weis« für uns gesorgt hatte. Der Kwieg hat eben, wie das wohl überall geschieht, nicht gerade die besten Element« in das Land gezogen. Wir züa- ten also wiederum den Beutel, schwuren uns, nie wieder in einem Japanerhotel zu übernachte» und ritten davon. Nur die jüngeren Herren, die am Abend vorher noch länger bei Lautenklang und Liebesliedern gefeiert batten, schmunzelten verständnisinnig und vergnügt darüber, daß sie augenschein lich in der Vorahnung der kommenden Rechnung die Situation so gut wie möglich ausgenutzt hatten. Nach ungefähr ^stündigem Warten in Panlaschantsy kamen unsere 4 Karren angehÄpert, und bald entstand auf dem Hof und in den Zimmerchen ein reges Leben mit Kasten und Koffern, an dem auch die bezopfte Dorfjugend eifrigen Anter! nahm. An dem Orte selbst war nichts besonderes zu sehen. Es war «in größerer Damen da, der wahrscheinlich dem Gene ral Kuroki -um Aufeutahlt gedient hatte, als der Stab der 1. Armee während der Tage der Schlacht am Schaho iw Oktober 1904 sein Ouartier in Panlaschantsy ausgeschlagen hatte. An diesem Tage mußte unser Koch zum ersten Mal?' seines Amtes walten und macht« sein« Sache ganz aus- gezeichnet. Fleisch und Gemüse batte er unterwegs ein gekauft und so setzt« er uns em Menu in 2 Gängen und nachfolgendem Omelette vor, das uns alle japanischen Ge richte im Gesamtpreise von 300 ^l. vergessen ließ. Am anderen Morgen, dem 28. September, waren wir wieder zeitig auf dem Platze. Die Glieder schmerzten dock nach den ersten Nächten, die man auf dem Kang zubringt, ganz erheblich, so daß wohl niemand eine besondere Ver längerung der Morgenruhe wünschte. Der Führer der Bagage und unser japanischer Dolmetscher wurden ein- achenv unterwiesen, damit sie nur ja möglichst vor uns in das neue Quartier kämen; dann bestiegen wir unsere mun teren Ponys und ritten in den herrlichen Herbstmorgen hinein, in icnes Gelände, in dem die im Oktober 1904 von Kuropatkin ausgenommenen Osfensivpläne unter dem An- griff der Japaner ihr Ende gefunden hatten. Wir ritten ein Nebenflüßchen des Schiliho auswärts, das sich in einem Tal von durchschnittlich einem Kilometer Breite, vom Tschauhsienlinpaß durch die Berge herabwindet. Es war «in schwaches Rinnsal, das sich mühsam weiter sickernd seinen Weg suchte. Aber die Breite des Flußbettes, einzelne mitgeführte Steine und die Auswaschungen an den Rändern des Tales wiesen darauf hin, daß dieses Bächlein zur Regenzeit gewaltige Wassermassen mit sich führen konnte. Kurz hinter Panlaschantsy erhob sich zur Linken der sogenannte Tempelhügel, der den zusammenhängenden Hohenzügen auf dem rechten Ufer des Flüßchens vorgelagert ist. Er hat zwei Kuppen, von denen oie weihen Gemäuer zerstörter Tempelanlagen in das Tal hinabschauen. Gegen ihn hatte am 11. Oktober die japanische 15. Brigade ihren Angriff in fliegender Eile über die glatte Ebene heran- getragen nnd hatte ihn den Russen mit dem Bajonnett ent- rissen, ohne die Stellung vorher durch Feuer genügend vor. bereitet zu haben. Ob ihnen dies auch einem anderen, be sonnen weiter feu«rndcn Feinde gegenüber geglückt wäre? Hieran anschließend ziehen sich auf beiden Usern des Flüßchens zusammenhängende Höbenzüge bin. Ucberall winden sich um ihre Hänge die Schützengräben der Russen und Japaner. In dem ganzen zirka 12 Kilometer langen Tal bis hinauf zum Tschauhsienlinpaß ist beinahe kein Fleck chen Erde, das nicht die Russen in den Kämpfen vom 11. bis 13. Oktober verteidigt und die Japaner ihnen entrissen hätten. Da erhoben fick auf dem linken, dem südlickfen 1Uer des Flüßchens, di« Kuppen des San-jo-shi-san, den die 3. japanische Brigade am 11. Oktober abends mit einem Verlust von 1000 Mann erstürmte. Daran schließt sich der Watanabeyama, der vom 3. javanischen Garderegiment ge nommen wurde, hieran die Höhen, um die das 4. Garde regiment gerungen batte, und schließlich der Waitoschan, den die 1. japanische Gordebrigade gegen immer erneute An- griffe des 1. sibirischen Korps zu halten hatte. Wir bestiegen bei dem Dorfe Man-hua-pu ein« Kuppe auf dem entgegengesetzten nördlichen User des Flüßchens und batten alle diese Höben wie ein Panorama unS gegen über liegen. Von da drüben waren die Russen vertrieben worden, hatten das Tal überschritten und sich dort, wo wir standen, festgesetzt. Und hier hatten die nachfolgenden Ja paner nack Ucbcrschreitcn des Flüßchens die gleiche Blut arbeit verrichtet. Die herrliche Gebirgsgegend erquickte das Auge, das in der Umgegend Tientsins solche Genüsse solange entbehrt batte. Wir lensten unseren Blick weg von dem Tale mit seinen jetzt so sr-edlick daliegendcn Eoincsendörsern weiter nach Norden. Da lag hinter uns der Höhenrücken des Ma-örr-schan, den das 4. sibirische Armeekorps verteidigt hatte. Ani einem Paßweg iahen wir gerade die Karren mit unserem Gepäck auswärts klimmen. Sie suchten fick einen küi-c'-en Weg in dos Quartier. Die armen Ehinelengäule mußten d:' aar mächtig au» den steinigen Untergrund aussetzen, um die schweren Karren vorwärts zu bringen.
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