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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.08.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-08-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970803015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897080301
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897080301
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-08
- Tag1897-08-03
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BezugS-Prett ^«r Hauptrxpedttion ob« dea k« Stadt» b«»irk und den Vororten errichteten Aus- fnbestellen ab geholt: vierteljährlich^».^ bei zweimaliger täglicher Zustellung in« Hau» 5.S0. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: virrtesiährlich 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandseudung in» Ausland: monatlich ^ill 7.Ü0. Die Morgen-AuSgabe erscheint um '/,? Uhr. die Abend-AuSgabe Wochentag» nm b Uhr» »<—e» > Le-actio« und Lrveditto«: JohanneSgafse 8. Dir Expedition ist Wochentag» ununterbroche» geöffnet von früh 8 bi» Abend» 7 Uhr. Filialen: Otto Klemm s Lortim. (Alfred Hahn), AntversitätSsrraße 3 (Pauliuum), Louis Lösche. Aatbarinenstr. «4, pari, und Uönlg»Platz 7» Morgen-Ausgabe. KlpMtt' TtUtblall Anzeiger. Amtsölatt des Königlichen Land- «nd Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes nnd Malizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Anzeigeu-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile rrO Pfg. Reclamen unter dem Redaction-strich (4ge spalten) 50/^, vor den Famillennachrichte» <6gespalten) 40/^- Größere Schriften laut unserem Prei»- vrrzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-vkilagen (gesalzt), nur mit de« Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Pol» i» Leipzig 39«. Parteipolitische Erörterungen. Q Die parteipolitischen Erörterungen spinnen sich, der „tobten Saison" spottend, lebhaft fort. Sie sind, wie die „Kreuzztg." richtig bemerkt, auf die nächsten Wahlen berechnet, deren früh zeitige Ausschreibung die „Germania" wiederholt in Aussicht stellt. DaS genannte konservative Organ „spinnt" eifrigst mit — auf seine Weise. Nachdem e» in einer sehr lang gerathenen Betrachtung die nationalliberalen Wähler im konservativen Interesse ihrer Partei abwendig zu machen gesucht und beim Centrum inständigst um ein Bundniß sich beworben, er klärt es, die Conservativen würden sich auf sich stellen. ES folgt dann der merkwürdige Ausspruch, der Versuch ohne oder gegen die Conservativen sei ja oft gemacht worden, habe aber immer schlecht geendet. Die Befürchtung, die die „Kreuzztg." hier heuchelt und die in Wahrheit als Drohung nach oben für den Fall, daß man daS die Verwaltung be herrschende System Puttkamer etwas beschneiden sollte, anzusehen ist, gründet sich auf die Fiction einer ultra- montan-nationalliberalen Allianz, der ja allerdings von einem sonst nationalliberalen, aber zumeist seine eigenen Wege gehenden Blatte das Wort geredet wird. Die „Kreuzztg." weiß recht gut, was davon zu halten ist, nämlich nichts. DaS Blatt unterliegt keinem ehrlichen Irr- thum, wenn eS schreibt: „Die Nationalliberalen, welche noch auf ihrem vorjährigen Delegirtentage Herrn Köbner und seine Freunde abfallen ließen, sind werter nach links marschirt. Jetzt wird die „Nationalztg." kräftig von der „Köln. Ztg." unterstützt, und eS scheint fast, als ob diese Richtung daS GroS der Partei momentan hinter sich hätte." Herr Köbner ist der Redakteur der „Nationalztg." Wenn die „Kreuzztg." über die Vorgänge auf dem letzten nationalliberalenDelegirtentag genau unterrichtet ist, und sie ist eS in der That, so muß sie auch wissen, daß zu den „Freunden des Herrn Köbner", d. h. den Parteimitgliedern, die einen mit überwältigender Mehrbeit abgelehnten Antrag dieses Herrn unterzeichnet hatten, auch der Abgeordnete Bueck gehörte, derselbe, der für die Vereins gesetznovelle gestimmt hat. Für die Behauptung eine» jetzt angeblich vollzogenen LinkSabmarscheS der Partei kann man sich also nicht auf den Delegirtentag berufen. Wir können nur wiederholen, daß sich nicht die Stellung der nationalliberalen Partei, sondern die der Conseraliven geändert hat, die das ihnen sehr gleichgiltige und theilweise bedenkliche Vereinsgesetz zum Ausgangspunkt einer ihre unbeschränkte Herrschaft stabilisirrnden Action zu machen gedachten und von ihren Plänen auch heute nicht abgekommen sind. Die „Kreuzzeitung" will eS freilich nicht wahr haben, daß man in Preußen die Reaktion cultivire. Sie mag der Dienstag den ihrer Partei sehr nahestehenden und dem Nationalliberalismus sehr abholden „Tägl. Rundschau" entnehmen, daß und warum ihre Ableugnung keinen Glauben verdient. Wenn aber dieses zuletzt genannte Blatt der Vermuthung Ausdruck giebt, Herr vr. Hahn gehe aus dem Grunde mit der Gründung einer eigenen Partei um, weil er die Vertretung landwirth- schastlicher Interessen nicht mit dem Odium belastet sehen will, das auf der conservativen Politik hafte, so ist daS ein ganz unverständlicher Irrthum; vr. Hahn ist bei der letzten Berathung der Vereinsgesetznovelle deren schärfster Vcr- theidiger gewesen, nachdem er im Hannöverischen Stimmung für daS Gesetz zu machen versucht hatte. Wir glauben nicht an die Absicht der Herren Hahn und v. Ploetz, eine neue Partei zu gründen, und wenn sie vorhanden gewesen sein sollte, dürfte die sehr deutliche Sprache, die sie soeben in Friedrichsruh zu hören bekommen — jeden falls diesem Plan den Garaus gemacht haben. Daß die Regel „la reckorebs cks la kraetion est iuteräitv" von der Leitung des Bundes in Preußen befolgt werde, ist allerdings ganz unwahrscheinlich. Fürst Bismarck Hal die Mahnung, sich der Parteipolitik zu enthalten, wiederholt an den Bund ergehen lassen; immer vergeblich. Der Bund hat sich zum Herrn der Conservativen Partei aufgeworfen — für die Vorstände eine sehr angenehme, der Landwirthschaft freilich nicht vortheilhafte Position. Die „Tgl. Rundsch." sagt selbst, der conservativen Partei seien bei den letzte» Nachwahlen vom Bund der Lanvwirthe „kräftige Vorspann pferde" zur Verfügung gestellt worden. Dafür muß freilich auch die Partei kutschiren, wohin der Bund will. Und, um ihr Selbstständigkeitsgelüste auSzutreiben, zum Theil aller dings auch, weil man Herrn Liebermann v. Sonnen berg nicht unbetheiligt zu lassen wagen darf, wird da und dort eine antisemitische Candidatur vor der konservativen bevorzugt. Die „Kreuzztg." kennt den Stand der Dinge und hat deswegen, da sie daS jüngst gestellte Verlangen nach einem Einfuhrverbot für Brodgetreide doch nickt gutzuheißen sich getraute, rasch den Antrag Kanitz wieder hervorgesucht. Trotz dieses volksbethörenden FesthaltenS an Projekten, von deren Undurchführbarkeit sie überzeugt ist, macht das leitende konservative Organ den — Nationalliberalen Interessen politik zum Vorwurf; eS figurirt da natürlich wieder der alte Schwindel, wonach die nationalliberale Partei eine „Groß städters-Partei sei. Außer Leipzig, dessen Abgeordneter nicht dafür gilt, sich der freisinnigen Vereinigung zuzuneigen, ist aber bekanntlich keine einzige Großstadt im Reichstage nationalliberal vertreten; die nationalliberalen Wähler sind überwiegend ländliche und kleinbürgerliche. Man könnte sich deshalb darüber entrüsten, daß die „Kreuzztg." unserer Partei die Absicht unterschiebt, „Riemen auS der Haut der 3. August 1897. Landwirthschaft" zu schneiden. Aber daS Blatt ist bei seiner „Deduktion" einem so komischen Mißgeschick verfallen, daß andere Empfindungen die Oberhand behalten. ES stützt seine Riemenschneider-Denunciation auf Auslassungen in einem Artikel des neuesten Heftes der „Grenzboten", worin gesagt ist: „Die Interessen des Kaufmannsstandes sind die maßgebenden geworden, nach diesen hat sich Alles zu richten. Auf diese Weise ist eigentlich die ganze Welt auf den Kopf gestellt. . . . Jetzt sängt man endlich an, einzusehen, aus welch falschen Weg wir gerathen sind, daß das nicht mehr so fortgehen kann, und daß der Curs ein anderer werden muß. Das ist es, was die alten Parteien nicht einsehcn wollen, und was sie nun kopfschüttelnd und mit besorgter Miene „Reaktion" nennen." Der Mühe der Widerlegung dieser Sätze entheben unS — die „Grenzboten". In derselben Nummer begegnen wir, und zwar an erster Stelle, einem Aufsatz: „Neue Beweise für den landwirthschaftlichen Nothstand." Er hebt also an: „Mit Lochdruck wird zur Zeit darauf hingearbeitet, die Ge- müther für immer neue und immer gewaltigere Ansprüche der gegenwärtigen Besitzer des landwirthschaftlichen Grund und Bodens zu gewinnen. Es scheint, als ob ein großer Schlag vorbereitet würde und vorläufig auf der ganzen Linie die Plänkler vorgerückt wären, theils um auszuklären, theils um zu verschleiern. Es gilt, in möglichst weitem Umfange die Enteignung in Handel und In dustrie durchzusetzen. Vorsichtig sondirt man, wer dafür zu haben ist, man bietet Alles auf, um die Lage der landwirthschaftlichen Besitzer als unhaltbar darzustellen." Weiterhin wird die Behauptung, es lohne nicht mehr, das deutsche Ackerland zu bebauen, eine „sündliche Ueber- treibung" genannt und dann gesagt: „Vielleicht einschränken müssen sich die (landwirthschaftlichen Be sitzer), die viel Schulden haben, vielleicht noch auf Jahre im Ver gleich zu den guten Zeiten, wo sie zu wenig an die Zukunst dachten. Aber das ist Loch an sich noch kein Nothstand, auch für den Ritter gutsbesitzer und Edelmann nicht." UnS scheint diese Ausführung zu weit von der richtigen Linie sich zu entfernen, die der Minister v. Hammerstein- Loxten soeben in seiner PoppelSdorfcr Rede gezogen hat und wofür er von der Presse des Bundes der Landwirthe gebührend schlecht behandelt wird. Aber jedenfalls ist die erste Seite der „Grenzboten" so autoritativ wie die zwanzigste. Die „Kreuz-Ztg." hat also an sehr ungeeignetem Orte eine An leihe gemacht, um die Nationalliberaleu als eine Gruppe von Begehrlichen und die Großgrundbesitzer als deren Schlacht opfer hinzustellen. Was das Blatt dem Centrum „vorstellt", darauf werde» wohl dessen Organe die Antwort nicht schuldig bleiben. 91. Jahrgang. Internationaler Congreß znrLesprechung der Betriebsunfälle und derÄrbeiterverslcherung. IV. (Schluß.) 8. u. 8. Brüssel» 31. Juli. Im weiteren Verlauf seiner Be- rathungen beschäftigte sich der Congreß mit folgenden Fragen: Eigenes Verschulden, Consequenzen der Versicherung vom Standpunkte der Zahl der Versicherten. Zum ersten Theile des Themas äußerte sich als erster Redner der italienische Kammerdeputirte und frühere Minister Chimirri. Er resumirte seine Ausführungen dahin, daß eine obligatorische Versicherung, die gemäßigt sei durch obligatorische Unfallverhütungs-Vorschriften, eine gerechte Lösung der Frage bilde. Bezüglich der Behandlung der Unfälle Lurch schweres Verschulden (kaute louräe) wünschte er sowohl aus rechtlichen als auch aus praktischen Gründen deren Aufnahme analog den deutschen Versicherungsbestimmungen unter das Ent- schäbigungsrecht. Wenn man die Gefahr durch die Versicherung decken wolle, müsse man alle Zufälle der Arbeit aufnehmen, selbst die Fälle, bet denen ein schweres eigenes Verschulden vorliege. Chimirri ist mit Aves Gyot einer Meinung, daß die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle nicht geeig net sein werde, die radikalen socialistischen Forderungen derselben zu entwaffnen. Das dürfe aber nicht abhalten, Liese Reformen zur Durchführung zu bringen. (Lebhafter Beifall.) Ministerialdirektor van Oberbergh vom belgischen Ministerium des Auswärtigen entwickelt im Wesentlichen einen gleichen Stand punkt. Prins, Direktor des belgischen Gesängnißwesen» (Brüssel), kann sich nicht entschließen, die Fälle, bei denen nachweislich ein schweres eignes Verschulden, eine grobe Vernachlässigung oder eine böswillige Absicht des verunglückten Arbeiters vorliege, unter die Zahl der zur Entschädigung berechtigten Verunglückungen auszunehmcn. Auch Professor Nutti (Neapel) kann dir Gleichstellung aller Unfälle aus moralischen, wirthschaftlichen und rechtlichen Gründen nicht billigen. Commerzienrath Möller: So lange es in Deutschland keine Organisation der Haftfrage gab und die Entschädigung eine civil- rechtliche Frage war, konnte die Industrie für Unfälle Lurch eigenes Verschulden des betreffende» Arbeiters nicht haftbar gemacht werden. Seitdem die Frage aber vom öffentlich-recht lichen Standpunkt behandelt wurde, mußte die kuuto louräs mit ringeschlossen wervcn. Die Zahl der Verunglückungen in Folge böfer Absicht sei, wenn man die Unfälle durch Außer- achtlassen der nöthigcn Vorsichtsmaßregeln rc. sortlasse, nicht so hoch, als die Gegner wohl anzuuehmen scheinen. Die ganze Debatte zeige, wie schwer es sei, eine solche Frage rein theoretisch zu behandeln. Die deutsche Delegation sei daher der Meinung, daß cs nöthig sei, daß der Congreß einmal in einem Lande tage, das bereits das System durchgesührt habe, damit die Delegirten in den Bureaux sich über zeugen können, daß ei» großer Theil der von ihnen gemachten Ein wände nur Vorurtheil sei. Tie deutsche Delegation habe sich daher mit dem Centruin der rheinisch-westfälischen Industrie in Düsseldorf in Verbindung gesetzt und habe die Ermächtigung erhalten, den Congreß zu seiner nächsten Tagung nach Düsseldorf einzuladen. (Lebhafter Beifall.) Damit schließt die gestrige Vormittagssitzung. In der gestrigen Nachmittagssitzung wurde die Debatte über die knuto louräs (eigenes Verschulden) zu Ende geführt. ES kam noch Jenseits der Grenze. Eine Skizze von der russischen Grenze. Von Anton Hensel (Königsberg i. Pr.). Nachdruck verboten. Im scharfen Trabe rollt die leichte Kalesche die von alten Pappeln flankirte Chaussee entlang. Rechts und links der Ernte entgegenreifende Felder, unterbrochen von kleinen Waldslächen, fliegen an uns vorüber, und bald ist daS Grenz dorf Prostken erreicht. Wir kamen von Lyck, der freund lichen Hauptstadt des masurischen Gaues, und es sollte dem Bewohner des Binnenlandes die seltene Gelegenheit geboten werden, jenseits der Grenze der deutschen Cultur einen Blick zu thun in daS Land deS Selbstbehrrrschers aller Reußen. Dank der Vermittelung eines befreundeten Arztes war für die unumgängliche Grenzlegitimation Sorge getragen worden und so konnten wir denn ohne Besorguiß den andernfalls sehr gefährlichen Schritt ins Jenseits wagen. Dort steht der Grenzpfahl! Ihm gegenüber auf der anderen Seite der Straße steht mit Gewehr bei Fuß in dunkelgrüner Uniform, mit der breitbordigen Mütze auf dem Kopf, ein russischer Schtrasnik. Unbeweglich, wie auS Holz geformt, hält er seinen Stand inne, scheinbar unbekümmert um Diejenigen, die herüber oder hinüber wollen; weiß er doch, daß die nahe Grenzkammer schon darauf sehen wird, Niemanden durchzulassen, der nicht im Besitz der erforder lichen Legitimation ist. Ja, der Zar läßt Keinen den Boden des heiligen Rußland betreten, der sich nicht durch die vor geschriebenen Atteste als einen einwandfreien Besucher aus weist, von dem eine Störung des von Bajonetten bewachten Friedens nicht zu befürchten ist. Aber auch nur während der Tagesstunden ist der Eintritt gestattet; Abends um 6 Uhr sperrt eine Kette die Straße, die erst um 6 Uhr früh wieder freigegeben wird. Der SchtraSnik ist der Schützer deS russischen Vater landes, der es vor dem unberechtigten Eindringen unlauterer Elemente, vor allein der Schmuggler bewahren soll, deren Bestreben dahin geht, die Staatskasse um die ihr ach! so noth- wendigen Zolleinnahmen zu bringen. Auf der weitgedehnten Grenze gen Westen schließt sich das russische Reich gegen di« Nachbarn durch eine dichte Postenkette ab, welche jeden Unbe rufenen zurückweist, und vor allem zur Nachtzeit ein wach sames Auge aus die Schmuggler hat, die Spiritus, Thee und andere Artikel, die rechtmäßig einen hohen Zoll zu entrichten hätten, hinübcrpaschen, um den jenseitigen Händlern damit zu einem lukrativeren Geschäft zu verhelfen. Ein gefahrvolle» Thun, bei dem nicht selten Blut fließt, denn der Schtrasni macht unnachsichtlich von seiner Schußwaffe Gebrauch, Wenn er nicht etwa durch einen silbernen Händedruck blind gemacht worden. Ist der Schmuggler aber auch glücklich durch die erste Postenkette gelangt, so ist die Gefahr noch nicht vor über, denn ein paar Kilometer landeinwärts findet er eine zweite Chaine, die ihm nicht geringere Schwierigkeiten be reitet, und er kann von Glück sagen, wenn er auch hier echappirt, ohne daß ein Alarmschuß nie nahestehenden Posten aufmerksam macht und sie zur Verfolgung de» StaatS- detrüzerS ausfordert. Der Schtrasnik also läßt un» ungehindert vorüber, allein an der Zollkammer müssen wir Halt machen. Eine ganze I Wagenburg von Fuhrwerken füllt den Platz vor dem Hause, und ihre Führer, fast durchweg Israeliten, harren mit der ihnen zur Gewohnheit gemachten Geduld der Abfertigung durch den Gestrengen, der eS seine Pflicht sein läßt, ihnen die Uebung jener Tugend nicht zu erleichtern. Mit unserem „herrschaftlichen" Fuhrwerk indessen wird eine Ausnahme gemacht. Dienstwillig tritt der Herr Unter- osficier heran, um unsere Leaitimationskarten in Empfang zu nehmen, mit denen eine Anzahl Cigarren in seine Hand gleitet. Wie beschleunigend das wirkt! Kaum sind wenige Minuten vergangen und schon befinden wir uns wieder im Besitz unserer mit rothem Stempel versehenen Papiere, eine Geschwindigkeit, welche den Harrenden manche neidische Be merkung entlockt. Nun steht uns nichts mehr im Wege, unsere Fahrt in daS sorgsam behütete Reich des Nachbarn aufzunehmen. Voll Interesse fällt unser Blick aus die Häuser des be nachbarten Dorfes Bogussen, die in ihrer Bauart mit dem überdachten Vorbau vor der Thür bereits den russischen Charakter offenbaren. Nun weiter auf der Chaussee nach Grajewo. Rechts und links dehnt sich bebautes Ackerland. Doch merkwürdig! Nicht wie wir eS bei uns gewohnt sind, leidlich arrondirte Felder. Fast kilometerlang und wenige Meter breit zieht sich ein Ackerstreifen neben dem andern hin. Hat doch die Regierung, als sie bei der Emancipation der Bauern daS Land vertheilte, in weiser Vorsorge jedem einen langen Streifen Landes zugewiesen, damit ihm die Bearbeitung de» neuen Eigenthum« doch ja nicht zu bequem gemacht werde. Uud so hat denn der Bauer seine schwere Mühe, um dem Acker das abzugewinnen, was er zur Fristung seines Daseins braucht. Viel ist es nicht, denn er ist genügsam und Kartoffeln, Kohl und neben dem Brotkorn einiges Gemüse reichen auS, um seine geringen Bedürfnisse zu befriedigen. Fleisch kennt er meist nur vom Hörensagen unv der Häring bildet sein Feiertagsgericht. Dicht am Wege fällt unser Auge auf einem verwitterten Holzbau von quadratischer Grundform mit wenigen alters blinden Fenstern. Eine armselige Hütte scheint eS: doch nein, das griechische Doppelkreuz auf dem Dachfirst sagt unS, daß wir es mit einem Tempel zu thun haben. Sein Inneres ziert ein kunstloses Heiligenbild, dem der Russe seinen Respekt zu bezeugen hat und vor dem der müde Wanderer für seine Seele Stärkung sucht. — Vorbei! Bald nimmt uns ein duftiger Fichtenwald auf und nach einer halben Stunde WegeS, die un« fast hat vergessen machen, daß wir uns auf fremdländischem Boden befinden, sehen wir die Straße durch eine straffgezogene Kette versperrt. Wir sind an dem zweiten Cordon angrlangt. Ein Soldat, auS dessen jugendlichem Antlitz der ganze Stumpfsinn de« lediglich der Knute ge horchenden Tartarcn uns entgegenblickt, behütet hier daS Vaterland gegen zudringliche Fremdlinge. Ohne ein Wort zu sprechen — schwerlich würden wir eS auch verstehen — zieht er einen eisernen Stachel hervor und bohrt ihn laut seiner Vorschrift in die bereitwillig geöffneten Wagenkasten. Sie sind völlig leer und nichts Verdächtiges bleibt an seinem Eisen haften. Da» giebt ihm die Gewißheit, daß wir keine verbotene Maare bei un» haben, unv nun läßt er wortlos wie bisher die Schranke fallen. Hier wie dort zeigt der Schtrasnik nicht daS mindeste Interesse für daS, waS um ihn vorgeht. Noch vor nicht langer Zeit war der bedauernswerthe Grenzsoldat, der gewöhnlich aus dem tiefsten Innern des kolossalen Reiches stammt und die Sprache der Landbewohner kauni versteht, oft übel dran. Da es in der Nähe der Grenze ür die Mannschaften der einzelnen „CordonS" — etwa 15 Mann — an geeigneten Baulichkeiten zur Unterkunft fehlte, mußten die Leute sich selber zu helfen suchen. Und so ent- tanden an vielen Stellen wahre Höhlenwohnungen, in denen der Schtrasnik, genügsam wie er ist, hauste, bis es der Regierung gefiel, jedem Cordon ein ausreichendes Stations mus zu errichten. Da lebt er freudlos seine Tage hin, bis eine Dienstzeit abgelaufen ist, um dann vielleicht zu einem ?eben zurückzukehren, das ibm an Freuden und Genüssen noch weniger zu bieten hat. Mit Vergnügen denkt er dann Wohl an sein Grenzerleben zurück, das ihm zwar nur eine karge Löhnung von einer Handvoll Kopeken alle 14 Tage einbrachte, bei dem er aber dock nicht selten Gelegenheit hatte, vom Nachbar jenseits der Grenze dies oder jenes an eßbaren Dingen zu kapern. Die Kopeken brannten ihm in der Tasche, bis er sie in Wotka unigesetzt, uud daun war Schmalhans Küchenmeister. Ter Hunger aber that Weh, und so holte man sich von den Feldern der „Prussaks", WaS die Jahreszeit gerade bot, Kartoffeln und Gemüse und andere Früchte, und lief ihm ein lebendes Gellster über den Weg, Gans oder Ente, Huhn oder am Ende gar ein appetitliches Ferkel, dann hat er gewiß nicht gezögert, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und seinem Gaumen einen Lecker bissen zu sichern. Doch genug der Abschweifungen! Wir stehen vor den Thoren der Stadl Grajewo — natürlich euphemistisch ge sprochen, denn wirkliche Thore giebt es in der offenen Stadt natürlich nicht. Eine Stadt? Allerdings, und noch dazu eine solche mit mehr als 10 000 Einwohnern! Nicht möglich, so steht es doch bei uns nicht in dem elendesten Dorfe auS! Aber dennoch eine Stadt und für Rußland eine ansehnliche. Armselige Hütten auf trockenem Sandhügel sind es, die unS zuerst begrüßen; Hütten, denen die Vergänglichkeit alles Irdischen aus den hohlen Fensteraugen blickt, Holz ist, wie vielfach in dem wälderreichen Rußland, das Material, aus dem sie erbaut sind; allein lang, lang ist's her, seit sie auf dem Sande dort emporwuchsen. Wir würden es nicht riskiren, eine der Hütten zu betreten, auS Furcht, sie möckte Uber unS zu sammenbrechen; und doch sind sie alle bewohnt und fröhliche Kinder, denen die mangelhafte Deckung ihrer Blöße noch keine Sorge bereitet, treiben im Sande ihr munteres Spiel. Bei diesen Glücklichen ist die Toilettenfrage im Hand umdrehen erledigt: ein Hemde, das vielleicht nur bis zu den Hüften reicht und von dem man voller Bescheidenheit nicht verlangt, daß eS weiß sei, ist oft daS einzige und Hauptstück. Auch ganz ist eS nicht, das darf Niemand beanspruchen, tragen doch weder Vater noch Mutter, weder Freund noch Nachbar rin Kleidungsstück auf dem Leibe, daS nicht durch einige „Löcher" geziert würde. DaS Be- diirfniß nach tüchtiger Ventilation besonders an der Be kleidung tritt überhaupt bei den Bewohnern Grajewos in einem Maße zu Tage, wie man eS in der civilisirten Welt nicht zu sehen gewohnt ist. Wie die Menschen tragen auch die Häuser in der weiter in der Stadt hinaufführenden Straße daS Gepräge derZer- lumptheit an sich, gepaart mit der davon unzertrennlichen Unsauberkeit. Klein und unscheinbar wie in der EingangS straße auch die Häuser um den weiten Marktplatz; kaum eines, das bis zu einem zweiten Stockwerk hat emporstreben mögen. Nur zur Linken steigt in blendender Weiße die katholische Kirche zu beträchtlicher Höbe auf und überschaut majestätisch das demüthig am Boden klebende Häusergewirr zu ihren Füßen. Der Marktplatz bietet heute ein interessantes Bild von farbenreicher Lebendigkeit. Dicht angefüllt ist er mit den Wagen der masurischen Bewohner der Nachbarschaft, welche gekommen sind, die Produkte der Landwirthschaft, Getreide, Kartoffeln, Gemüse oder auch Federvieh unv gemästete Dick häuter, den Städtern zum Kaufe anzubitten und den Erlös dafür, soweit er nicht an den fälligen Abgaben draufgeht, beim „Juden" anzubringen, der ihnen die Bedarfsartikel für Kltidung und Haus, aber auch daS innig geliebte Reizmittel für die Kehle liefert. Der polnische Masurier erscheint heute nicht mehr in der kleivsamen Tracht, die ihm ein milderes Regiment groß- mütlstg gestattete; unter dem strengen RussificirungSsystem der neueren Zeit hat er manches davon ablegen müssen, aber immerhin sind er und die lebhaftere Farben liebende Bäuerin noch Gestalten, welche dem Bilde als die wirksamste Staffage dienen und ihm hier, für uns wenigstens, den Charakter des Fremdartigen aufprägen. Dazwischen bewegt sich der grün uniformirte Gendarm, welcher als Diener der Ordnung nach dem Neckten sieht und dabei die Rechte aufhält, damit man ihn in seinem Streben unterstütze. Hinaus zum Wagen eilen wir wieder, und fort geht es zu dem Bahnbofe, in dessen Nähe sich in roth und weißer Ornamentik die noch neue griechische Kirche erhebt. Muthet uns hier auch maches, besonders die mit Holz geheizten und damit beladenen Lokomotiven, seltsam und fremdartig an, so begrüßen wir ihn doch als ein vertrauteres Merkzeichen westländischer Cultur. In seinem Innern freilich verleugnet er nicht die nationale Eigenart. Namentlich der Wartesaal begrüßt unS echt russisch. Leckerbissen, die dem Westeuropäer kaum dem Namen nach bekannt sind, Wotka, Krimweine und sonst noch Manches, füllen daS geräumige Buffet, und der blanke Samovar giebt mit seinem Brodeln dem Ganzen einen behaglichen Anstrich. Ist Manches uns auch fremd, so mundet eS doch meist recht gut, von dem glühend heißen Tschai (Thee) bis zu dem feurigen Krimwein, und selbst der „Stera Wotka" ist nicht Übel. Doch die Zeit verrinnt und unser nachmittäglicher Aus flug muß abgebrochen werden, denn bis 6 Uhr müssen wir wieder die Grenze passirt haben, wollen wir un« nicht schlimme Unannehmlichkeiten zuziehen. Wieder besteigen wir unser Fuhrwerk und zurück geht eS durch die Stadt. Dies mal läßt der Posten vor der Stadt die Sperrkette ohne Weiteres falle», wir interessiren ihn nicht. Schnell geht e» zurück die Chaussee entlang und bei Zeiten haben wir wieder die Zollkammer erreicht. Nicht lange dauert eS und auf unseren Legitimationskarten hat sich dem rothen Stempel «in blauer zugesellt, ein Beweis, daß uns das russische Reich wieder in Gnaden entläßt. Eine gewisse Erleichterung kommt über unS wie der Grenzpfahl vor unS auftaucht, uud wie von einem Alp befreit athmen wir auf, al» statt de» „zischelnden Slawentones", der unS bis dahin ans Ohr geklungen, in deutschen Lauten die Frage deS grün unisormirten Zollbeamten uns entgegentönt: „Haben Sie nicht» Zollpflichtige» bei sich?"
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