Bach und das literarische Leipzig 21 habe offt bey Nacht und Nebel den Pegasum satteln müssen, wenn mir auch nicht der allergeringste poetische Stern geschienen.“ 39 Trauergedichte fielen ihm schwer. 56 von dieser Gattung stehen seinen 456 Hochzeitscarmina gegen über. Unter den insgesamt 650 Gedichten gibt es nur zwei Dutzend, für die kein Anlaß auszumachen ist. Sachsen, die Lausitz und Thüringen hat Picander so erfolgreich beliefert, daß er aus dem Hauslehrerelend herausgelangte. Diese Art von Poeten bezeichnete man als „Gratulanten“. Zur gleichen intellektuellen Schicht rechneten nichtap- probierte Ärzte, Privatlehrer, Korrektoren. Von den akademisch qualifizierten Schriftstellern wurden diese Konkurrenten als „Hungerdichter“, „Lumpen dichter“ abgetan. Gottsched hat vergeblich versucht, sich über sie öffentlich zu amüsieren, indem er am 29. September 1727 in seiner Wochenschrift „Der Biedermann“ die scheinbar ernstgemeinte Ankündigung machte, der Verleger habe sich entschlossen, „eine vollständige Sammlung aller der Gedichte heraus zu geben, die seit 1700 in Leipzig von Jahr zu Jahr, auf alle Hochzeiten, Geburts- und Nahmens-Feste, Neujahrs-Tage, Doctor- und Magister-Promotionen und Leich-Begängnisse, theils gedruckt worden, theils noch in MS. verborgen liegen. Er bittet sich zu einem so höchst-ersprießlichen und längst gewünschten Wercke den Beystand aller derjenigen aus, die entweder selber Verße gemacht, oder derglei chen von andern bekommen haben; sonderlich der so genannten Herrn Gratulanten artige [d. h. kunstgemäße] Schrifften, von welchen er seiner Sammlung eine besondere Zierde ver spricht.“ 40 Ironisch veranschlagte er den Umfang dieser Sammlung auf 25 bis 30 Folianten und kündigte, der Kosten wegen, eine Subskription an. Doch Gottsched irrte sich, der Witz ging ins Leere: Picander besorgte das selbst. In vier stattlichen Bänden faßte er seine Arbeiten zusammen, die anders übrigens für uns voll ständig verloren wären: 1727, 1729, 1732 und 1737; ein „Fünfter und letzter Theil“ folgte 1751. Bis dahin erreichten die vier vorangehenden Bände einzeln jeweils mehrere Auflagen. 1768 erschien noch eine Auswahl- das war das Jahr, in dem Goethe die Universität Leipzig schon wieder verließ. Dieses nach Um fang wie Eigenart sehr seltene Phänomen, das in seinen Einzelheiten noch gar nicht näher untersucht ist, weist zurück auf einen bemerkenswert selbstbe wußten Zug im Selbstverständnis dieses Autors. 1740 erlangte Picander ein herausgehobenes Amt im Steuerwesen. Nichts charakterisiert seine Schriftstellerrolle schärfer als die Tatsache, daß er sie daraufhin so gut wie ganz aufgab. Was er geworden war, verdankte er seiner 39 Zitiert nach der zweiten Auflage: Picanders Emst-Schertzbaffte und Satirische Gedichte. Erster Tbeil, Andere Auflage Leipzig ij}2, fol. ):( 3 rccto/verso. — Picander war nicht von vorn herein entschlossen, weitere Bände zu publizieren, sondern wollte das vom Absatz abhängig machen. Dieser gab ihm offenbar recht, auch darin, daß er unter anderem Namen veröffent lichte, also schlicht an andere „Gratulanten“ verkaufte Gedichte, wieder an sich zog („daß ich nunmehr diejenigen Kinder, so ich nur andern geliehen, wieder vor die meinigen er kläre [ . ..]“, a.a.O., fol. ) ( 4 recto). 40 Faksimiledruck der Originalausgabe. Leipzig 1727-/729. Mit einem Nachwort und Erläuterungen brsg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 1975 (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.), S. 88.