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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.12.1892
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1892-12-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18921206026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1892120602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1892120602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1892
- Monat1892-12
- Tag1892-12-06
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ÄbonnementApreiA I» der tzauptrxpeditioa ob« deu km Stadt» beitrk und deu Vororten errichteten Aus» yaoeslellen abgeholt: vierteljährlich ^4.50. vei zweimaliger täglicher Zustellung in» Hau» ö.üöj Durch die Post bezogen für Deutschlaud und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Directe tägliche ltreuzbandienduug in» Ausland: monatlich 9.— Die Morgen-Au-gabe erscheint täglich'/,7 Uhr, die Abend»Au«gabe Wochentag» 5 Uhr. NeLaltion und LrpeLition: JohanneSgaffc 8. Die ikrpedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» Abend» 7 Uhr. »0—0—- Filialen: ktt« »lemni'S Sortim. (Alfred Hahn). UniversitätSstraste 1, LonlS Lösche, Katharinenstr. 14, part. nod NSoig-platz 7. Abend-Ausgabe. Anzeiger. Organ für Politik, Localgeschichte, Handels- «nd Geschäftsverkehr. J«sert1o»SpreiS Die 6 gespaltene Petitzeile LO Pfg. Reklamen unter dem RedacttonSstrich (4ge- spalten) bO>H, vor den Fnmilieaoachrichte» (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unser«» Preis» verzeichnib- Tabellarischer und Ztsserosatz nach höherem Tarif. »rtr«-Vellage» (gesalzt), nur mit de» Worgen-Au»gabe, ohne PostbesSrdernng 60.—, mit Postbesürderung ^ 70.—. Itnnahmeschluß siir Inserate: Abend-Au-gabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» »Uhr. Sonn» und Festtag» früh '/,9 Uhr. Vei den Filialen und Annahmestellen je et»» halbe Stunde früher. Inserat» sind stet» an dt« Erpehttta» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig Dienstag den 6. December 1892. 86. Jahrgang Amtliche Bekanntmachungen. Lekaunlmachung. Bet einem hier verhafteten Diebe ist ein säst neuer steifer, brauner Filzhut beschlagnahmt, in dem sich die Buchstaben 0. v. k. nebst einer Krone darüber befinden. Der Eigenthümer dieses Hutes wird ausgefordert, sich zu den Acten ck Ille 2794 92 zu melden. Halle a./S., den 80. November 1892. Ter lfrste Staatsanwalt. Dem Kellner Ernst Stützer aus Friedrichroda ist eine Ladung des Herzogl. Amtsgerichts Tenncberg zuzuslellen. Es wird um Ermittelung und Bekanntgabe des derzeitigen Aufenthaltsortes des p. Stößer gebeten. Tennei erg, den b. December 1892. Herzogl. Lachs. Amtsgericht H. Politische Lagesschau. * Leipzig, 6. December. Daß die Stichwahl, die gestern im ReichStagswahlkreise Arnswalde-Friedeberg zwischen dem antisemitischen Kandidaten Ahlwardl und seinem dentschsreisinngen Gegner Drawe stattgesunten hat, zu Gunsten Ahlwardt« ausfallen werde, konnte von vornherein keinem Zweifel unterliegen. Und doch ist man überrascht, beute zu erfahren, daß bis Mitternacht für Ahlwardt bereits über 9000 und für Drawe noch nicht 9000 Stimmen gezählt waren. DaS war bei der Stellungnahme der angesehensten con- scrvativen Blätter gegen den „Rector aller Deutschen" denn doch nicht vcrauszusehen und würde wohl auch schwerlich sich ereignet haben, wenn nicht in dem Wahlkreise etwas Anderes sich ereignet hätte, was die Antisemiten zu ganz besonderer Anstrengung und die Conservativen zu der Annahme veranlassen mußte, sie würden der preußischen Regierung cinen Gefallen durch das Eintreten für die Wahl Ahlwardt'S thun. Der Landrath des Friedebergcr Kreises, Herr von Bornstedl, hatte nämlich einen Aufruf für Ablwardt unterzeichnet Nun ist cs bekannt, daß Kaiser Wilhelm I. am 4. Januar 1882 einen Erlaß an das preußische Staatöministerium gerichtet hat, in dem es heißt: „Es liegt Mir fern, die Freiheit der Wahle» zu beein trächtigen; aber für diejenige» Beamten, welche mit der Aus- kührung Meiner Negierungsacte betraut sind und deshalb ihres Dienstes nach den, Tisciplinargesepe enthoben werden können, er streckt sich die durch den Diensteid beschworene Pflicht aus die Vertretung der Politik Meiner Regierung auch bei den Wahlen." Nachdem über die Bedeutung dieser Worte Zweifel ent standen waren, erläuterte Fürst Bismarck sie am 21. Januar im Reichstag u. A. wie folgt, und zwar unter Billigung auch von liberaler Seite, so daß hierin Ueberein- stinimung zwischen der conservativen und der liberalen Auf fassung festgesteUt wurde: „Ich versiehe darunter, daß ein politischer Beamter bei aller Freiheit der Wahl, wenn er z. B. fortschrittlich wühlen wollte, doch der Verpflichtung nicht Überhobe» wäre, Lügen, was ich vorhin „politische Brunnenvergistung" nannte, zu widerlegen nach seinem besten Gewissen; und wenn es ein Mann von Ehre und Gewissen ist, so wird er das wahrscheinlich thun.... Das ist es, was ich vom politischen Beamten erwarte; und wenn er das nicht eininal leistet, daß er einer notorischen Lüge und Entstellung, wie sie bei den Wahle» so oft vorkommt, entaegentritt, daß er der Wahrheit nicht die Ehre gicbt — also ein Obcrpräsident zum Bei spiel, der in dieser Beziehung fehlte, der wäre viel zu lange Ober» präsident gewesen.... Von diesen politischen Beamten wird er wartet, daß sie die Wahrheit, so weit sie ihnen bekannt ist, der Unwahrheit gegenüber vertreten". Daß der Landrath v. Bornstedt direct und öffentlich für die Wahl Ahlwardt's eintrat, mußte also im Wahlkreise und über denselben Hinang die Meinung erregen, daß daS preußische Staatsministerium wenigstens der Ansicht sei, von deutsch sreisinniger Seite werde mehr „politische Brunnenvergistung" getrieben, als von Seiten der Anhänger Ahlwardt's, und die Wahl des letzteren liege daher mehr im staatlichen Interesse, als die Wahl Drawc'S. DaS überraschende Wahlresultat erhält hierdurch noch eine ganz besondere politische Bedeutung, die auch zu parlamentarischen Nachspielen führen wird. Im Reichstage wird man sich mit der Frage zu beschäftigen haben, ob in dem Eintreten des Landraths v. Bornstedt für Ahlwardt eine unzulässige Wahlbeeinflussung liegt, im preußischen Abgeordnetenbause wird an das Mini sterium, speciell an den Ministerpräsidenten und Minister des Innern, Grafen Eulenburg, die Frage gerichtet werden müssen, wie er zu jenem Eintreten sich stellt und ob er dasselbe als eine Vertretung der Politik der preußischen Regierung bei den Wahlen ausfaßt. Die Bedeutung der Antwort, zu der auf diese Frage Gras Eulen burg sich wird entschließen müssen, liegt auf der Hand. — Ob das gegen Ahlwardt im Gange befindliche Proceß- verfahren durch seine Wahl eine Unterbrechung erleiden soll, wird der Reichstag alsbald zu entscheiden haben. Von selbst tritt eine solche Unterbrechung nicht ein, da eS im Artikel 3l der Reichsvcrfaffung heißt: „Auf Verlangen des Reichstags wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede Untersuckmngs- oder Civilhast für die Dauer der Sitzungsperiode ausgehoben." Unseres Wissens ist eS daS erste Mal, daß der Reichstag vor die Frage gestellt wird, ob ein bereits eingeleitetes Straf verfahren wegen der Wahl des Angeklagten in den Reichstag aufgehoben werden soll. Ohne lebhafte Debatten wird also die Entscheidung über einen Antrag, die Aushebung des Strafverfahrens gegen Ahlwardt zu verlangen, nicht herbei- geführt werden. Heute wird der Reichstag zwei Interpellationen des CentrumS entgegenchmen, die I) nach dem Stand der gesetzgeberischen Maßnahmen bezüglich der Organisation des Handwerkerstandes und der Regelung des Lehr lingswesens, sowie des Ausbaues der Innungen, 2) der Regelung der Abzahlungsgeschäfte und des HausirhandelS sich erkundigen. Die Interpellationen be rühren sich nahe mit einem dieselben Gegenstände behandeln den Antrag der conservativen Fraktion. Wir werden sonach voraussichtlich wieder eine lange Erörterung über Innungen und die damit zusammenhängenden gewcrbepolitischcn Fragen haben. Vor Jahresfrist, am 24. November 189l, bat der Staatssecretair von Boetticher eine ähnliche Interpellation des Centrums in einer Weise beantwortet, die bei allem Entgegenkommen gegen sachlich begründete und praktisch durchführbare Ansprüche des Handwerks doch die äußersten Forderungen entschieden zurückwics. Er stellte damals Abstellung der Klagen über die Consum-- vereine, die Gefangenenarbeit und das Submissionswesen, Gesetzentwürfe über Abzahlungsgeschäfte, Hausirhandcl, Besserung des Lehrlingswcjens, «Schaffung von Handwerkcr- kammern u. dgl. in Aussicht, wies dagegen mit vollster Ent schiedenheit den Jnnungszwang und den obligatorischen Befähigungsnachweis zurück. Wir glauben nicht, daß die Regierung jetzt über diese Linie hinausgehcn werde; einige der angekündigten gesetzgeberischen Maßnahmen sind inzwischen wohl so weit gefördert, daß sie demnächst dem Reichstag werden vorgelegt werden können. Im Ucbrigen wird die Auskunft des Staatssecretairs wohl der vorjährigen sehr ähnlich sein. Die extremen Zünftler sind freilich mit dieser Haltung der Regierung keineswegs zufrieden. Um so mehr fand das Handwcrkerprogramm der Regierung Beifall in allen Kreisen, welche, unter Zurückweisung von Ausschrei tungen und Uebertreibungen, doch berechtigten Wünschen und wohlverstandenen Interessen des Handwerkerstandes zur Erhaltung desselben in kräftigem und leistungsfähigem Zustand entgegenkommen wollen. In Paris ist der Held des Tages Ribot, an den Prä sident Carnot sich zuletzt mit dem dringenden Ersuchen, das neue Cabinet zu bilden, gewendet batte. Ribot erbat sich zunächst Bedenkzeit, ließ sich aber alsdann erweichen und er klärte nach Besprechung mit seinen politischen Freunden gestern Abend Carnot. er sei bereit, zu versuchen, den aus dem CurS erathenen Staatswagen wieder in das richtige Gleis zu ringen. Die von Ribot zusammengestellte Mini st er liste enthalt, mit Ausnahme Ricard'S und Roche'S, alle bis herigen Mitglieder des Cabinets. Ribot übernimmt den Vorsitz und das Auswärtige, Loubet das Innere, Freycinet bleibt Kricgsminister. Carnot beglückwünschte Ribot zur schnellen Erledigung der Sache. Die Ernennung wird spä testens am Mittwock im osficiösen „Moniteur" veröffentlicht werden. In den Boulevardcafes macht diese Lösung der Krise einen nur wenig befriedigenden Eindruck, da man durch das neue Ministerium eine starke Beeinflussung der Panama untersuchung befürchtet. In London empfing in diesen Tagen der Generalpost meister eine Deputation des „Permanenten Ausschusses der Stellenlosen". Die Abordnung protestiere gegen das System, die Angestellten über ihre Zeit arbeiten zu lassen, ebenfalls gegen die niedrigen Löhne und langen Arbeitsstunden, welche ganz besonders im Postamt gang und gäbe seien. Der Generalpostmeister Arnold Morley er widerte, daß eS sein Wunsch sei, daß das unter ihm stehende Departement allen Arbeitgebern ein Beispiel geben solle. Die Abordnung müsse sich erinnern, daß die Postbeamten außer ihrem Gehalte verschiedene Vorthcile genössen, wie unent geltliche Krankenpflege, Pensionen rc. DaS Postamt hat schon seit Jahren sich bestrebt, die „Ueberzeit" so viel wie möglich zu kürzen. Um den Dienst der Angestellten zu Weihnachten zu erleichtern, werden 3228 Personen extra angestclll werden. Das niedrigste Wochengehalt ist 18 s. — Am selben Tage wurde eine stark besuchte Versammlung Stellenloser in Camberwell-green, im südlichen Theile Londons abgehalten. Es wurde beschlossen, dem Localgemeindevorstand die Warnung zugehen zn lassen, daß, wenn er ihnen keine nützliche und jphnende Beschäftigung zuweise, sie sich zn Tausenden nach den Depots begeben, dort daS Handwerkszeug mit Ge walt fort nehmen und sich sofort an die Ausbesserung des Pflasters, daS sich in einem schlechten Zustande befindet, machen würden. Seit einigen Tagen lauten die Nachrichten aus Serbien wieder einmal bcnnrnhigend. Die Zustände dort treiben der Alternative: „Bürgerkrieg oder nicht'?" zu. Wenn auch eiue unmittelbare Gefahr vielleicht dadurch verhütet worden ist, daß die Bürgerschaft von Belgrad durch ihr Votum am Sonnabend gegen den radikalen Gemcinderatb für daö herr schende liberale Ministerium kräftig eingetretcn ist, so ergiebt sich daraus noch keine Gewähr für die friedliche Weiterent wickelung der Dinge im Sinne der bestehenden RegiernngS- gewalt. Weshalb das liberale Regiment so rasch am Ende angelangt sein sollte, darüber herrscht ebenfalls noch Un klarheit. Dasselbe bat allerdings nur beschränkten Boden im Volke, daö fast durchweg zu der radikalen Partei hält, aber daS hat in Serbien bisher nicht als unüberwindliches Hinderniß gegolten. Wenn man das Ganze auf einen Zwist zwischen dem Kriegs- und Finanzminister znrücksührcn will, so wird die Sache noch viel unklarer, denn in diesem Falle wäre der Krisis doch durch de» Rücktritt deS cinen der beiden abzuhclfen, es ist aber vom Rücktritt des ganzen Cabinets die Rede. Die radikale Regierung hatte allerdings das Land finanziell arg herunterge- wirthsckaftet, statt, wie das radikale Programm verheißen, durch weife Sparsamkeit die Finanzlage zu bessern. I» Serbien ist seitdem eigentlich nur noch die Wahl zwischen einer energisch durchgreifenden Regierung und einer fortgesetzten Kette von Krisen; es ist ein Zeitpunct eingetretcn, wie der, in welchem Milan immer Christitsch ans Staatsruder zu berufen pflegte. Hierin liegt auch vielleicht die Erklärung der angeblich vorhandene» Krisis. DaS Cabinet Awakumo- witsch, durch Ristitsch zur Herrschaft erhoben, geht wohl nur, weil dieser ihm nicht das Zeug zu traut, ein gutes Wahlergcbniß für die neue Skupschtma verbürgen zu können. Vielleicht denkt Ristitsch an ein Coalitionscabinet aus Liberalen und „europäischen", da- heißt im Besitze occidentaler Bildung befindlichen Radi- calen. Ob jedoch letztere bei den Massen den genügenden Einfluß besitzen, ist freilich sehr fraglich. Für die Fortschritts partei aber dürfte die Zeit der Rückkehr zur Herrschaft noch nicht gekommen sein. — Nach der neuesten Meldung richtete in Folge der Abstimmung der Belgrader Bürgerschaft der Minister des Innern au den Gemein deralh die Auf forderung, sofort zurückzutreten. Trotz anfänglicher Wei gerung kamen Bürgermeister und Gemeinderath dieser Auf forderung nach, da Gendarmen das RalhbauS besetzt hielten und jenen den Eintritt verwehrten. Die Regierung hat bis nur Wahl eines neuen Gemeindevorstandes zum provisorischen Bürgermeister Herrn vr. Taditsch mit dem Titel eine« Regenten, sowie acht Beiräthe aus verschiedenen Parteien ernannt. Von Bulgarien war man bisher gewöhn», nur Günstige- zu hören, und die öffentliche Meinung zollte insbesondere der verständigen und energische» Politik deS Ministerpräsidenten Stambulow unbedingte Anerkennung. Da kommt mit einem Mal die Meldung, daß die bulgarische Regierung im Begriffe ist, eine Handlung zu begehen, welche Anlaß zu großen Bedenken bietet. Stambulow trug, wie bereit- kurz telegraphisch gemeldet, einer Versammlung von Abgeordneten den Plan einer Verfassungsänderung vor. Zu nächst soll die Bestimmung geändert werden, daß die Nachkommen des Fürsten dem orthodoxen Glauben angehören müssen. Stambulow beantragt, ihnen die Wahl der Religion zu überlassen. Sodann soll in Zukunft erst auf 30 000 Einwohner ein Abgeordneter kommen. Die Ansprüche an die Bildung der Abgeordneten sollen erhöht werden und die Freiheit der Presse gewisse bereits gehand- habtc Einschränkungen erleiden. Der Artikel, welcher da- Tragen von ausländischen Orden verbietet, soll ab- geschafsl und die Zahl der Ministerien auf neun erhöbt werden, und zwar durch Abtrennung des Handels und deS Ackerbaues von den öffentlichen Arbeiten. In Dcpntirtenkreisen herrscht Erstaunen über den Vorschlag. Zu nächst ist der Passus, betreffend die Religion des Fürsten, den Deputirten wenig sympathisch. AlSdann wird die ganze Vor lage als reactionair betrachtet. Nur gegen die Vermehrung der Ministerien wird nicht» eingewendct. Vor Einbringung der Vorlage in der Kammer wird noch eine Sitzung abgehalten. Trotz der kühlen Haltung, welche die Landcsvertreter in der vorbereitenden Sitzung an den Tag legten, wird die An nahme der Vorlage, welche mit Zweidrittel - Mehrheit erfolgen muß, für sicher gehalten. Nach Annahme der selben hat die Einberufung der Großen Sobranje, welche aus der doppelten Anzahl der Deputirten besteht, zu erfolgen, da nur die große Sobranje zur Acnderung der Verfassung berechtigt ist. In unterrichteten Kreisen betrachtet man die Absicht der Regierung, eine Berfassungsrevision vorzunehmen, als einen Beweis, daß die innere Lage vollkommen beruhigend ist, wenn man sich auch nicht verhehlt, daß die Vorlage der Negierung zum Schaden gereichen und nur der Opposition von Nutzen sein kann. Wir haben dieser Tage mitgetheilt, daß auS Anlaß der jüngsten Unruhen unter den Eingeborenen auf den Samoainseln zwischen den Cabineten von Berlin, London und Washington Unterhandlungen schweben, um einer Wieder kehr gleicher Ausschreitungen, wie sie auf der Insel Tutuila stattsanden, in Zukunst vorzubeugen, daß aber eine Er neuerung der Samoa-Confercnz vor der Hand nicht beab- Dämmerungen. Roman in drei Büchern von Rudolf von Gottschall. öüj Nachdruck kcrbvlkil. (Fortsetzung.) Sie sab dabei in einer Psyche prüfend ihre Gestalt, die an Heine» Lied von der kolossalen Weiblichkeit erinnern mochte. Ter SanitätSrath hatte volles Ver ständnis; für die Gedanken, die sich in der Brust der ge waltigen Dame regte»; er machte daraus kein Hehl, indem er sagte: „Ja, wenn die Walküren alle heutigentags von Adel wären! Der Zollstock allein genügt nickt, eS müssen Stammbäume sein, hüben und drüben. Sie sind eine reizende Trvadc, aber einen Stammbaum bewohnen Sie nicht." Der Gebeime SanitätSrath hatte keine Praxis mehr, aber er besaß ansehnliche Rente» und glaubte über einen schlagenden Witz zu verfüge». Er batte sich allmälig den Ruf eine« geistreiche» Gesellschafters erworben und suchte ihn durch fortwährendes Witzeln zu behaupten. „Donnerwetter", meinte Martha, die vor einem Caserncn- flnck nicht zurückschreckte, „haben Eie wieder einmal geniale Einfälle! Schade, unser Kreis ist zu klein . . das müßte Alles autcgraphirt werden. Sie haben ihre Laufbahn ver fehlt, Sie sind ein Feuilletongenie, und statt die Kranken zu heilen, was Ihnen ja sogar bisweilen gelungen ist, ärgern Sie die Gesunden krank." Tie Geheime SanitätSräthin, eine behagliche corpulente Frau, war an ihren geistreichen Mann so gewohnt, daß sie nicht mehr aus die Offenbarungen seines Genies achtete. Der Abstecher i»S HelmerSbeiincr «schloß war auf ihre Rech nung zu setzen; sic cmpsand auf einmal Sehnsucht nach einem sauber gedeckten Kaffcetisch, nach gutem Mokka und Zwiebäckcken zu:» Eintunkcn, und da die Spazierfahrt weit hinauSgegangen »nd die Stadt noch entfernt war, so machte sie de» Vorschlag, HclmcrSbeim als eine Zwischenstation zu ' betrachten und hier einen kleinen Imbiß zu sich zu nehmen; sie war ungeduldig wie ein Gast in der Schenke, dem der Wirth zu lange ausbleibt, und sie fand gleichsam die Be dienung schlecht. Doch ihr Aerger verflog, als nicht nur die Baronin er schien, sondern auck eine Zofe, welche eine mit allerlei Jagd bildern tätowirte Kaffeedecke über den Tisch breitete. Die Baronin sab reizend auS im lichten sommerlichen Gewand: eine schmachtende Blondine und dabei so nixenhaft; man konnte sie für ein junges Mädchen halten, wenn nicht einige Falten um den Mund und die leisen bläulichen Ringe unter den 'Augen und ein etwas übermüdeter Ausdruck in ihren Zügen darauf hindeutetcn, daß sie 'chon späteren Semestern der Weiblichkeit angehörtc. „Wie bin ich glücklich, so liebe Gaste bei mir zu sehen", rief sie mit dem ungeheuckelten Ausdrucke der Freude, „es ist so einsam hier; man erfährt kaum, was in der Welt ver geht, und man möchte doch auch von der Welt etwas beachtet werten." Alle batten um den .Kaffeetisch Platz genommen; die Tassen klapperten; bald erschienen auch Marie »nd Susette, die sich in solchen Gesellschaften recht als Zwitterwesen fühlte Halb war sic Zofe, halb Fräulein, und auch die andern wußten nicht recht, was sie auS ihr machen sollten. Nachdem sie bei dem Hernmrcichen deS .Kaffeekuchens und der Zwiebäcke behilflich gewesen, setzte sie sich neben Marika Schlänge!, die ja auch ein alleinstehendes weibliches Wesen war und der sie sich ganz ebenbürtig sühltc. Martha Schlänget theilte aber diese Anschauung nicht; sie war ein vermögendes Mädchen und Susette diente um Lohn — das war eine tiefere Kluft als diejenige zwischen Adel und Bürgerthum, über welche sie kühn hinwegzusetzen wagte. „Würden Sie mir nicht meine Stickerei holen, Fräulein", sagte sie mit herablassender Freundlichkeit, „ick habe sie draußen in der Tasche meines Mantels stecken lassen; es ist der dunkelbraune mit dem Sammetbesatz." „Donnerwetter, ja", flötete Susette» aufgebracht, den bekannte» Kernsluch der stolzen Nachbarin als Mittel schnöder Racke benutzend. Die Unterbaltunz bemächtigte sich der letzten Ttadt- nenigkeitcn; auch das traurige Schicksal deS alten Risoori wurde besprochen; der Geheime SanitätSrath als der einzige Vertreter des männlichen Geschlechts hielt sich für berufen, an der Tafelrunde das große Wort zu führen. „DaS ist ein unheilbarer Narr — ein echter Geistes kranker; freilich von Geist und Seele, mögen sic nun gesund oder krank sein, wollen die neuen Fachgelehrten nicht» mehr wissen — »nd doch müssen sie zugeben, daß das Gehirn auch bei solchen, die an den schlimmsten Hallncinationcn leiden, oft gänzlich intaet ist. Dann heißt's: Reflcxerscheinnngen! Da must der Sündcnbvck irgendwo anders im Körper stecken — und wenn'S oben im Gehirn klingelt, da soll irgendwo anders auf den Knopf gedrückt worden sein; im Herze», im Magen, in der Leber — man findet in der Regel nicht den reckten Fleck. Ich aber bin ein Gespcnstergläubiger der alten Schule: ich glaube, daß der Mensch doch so etwas wie eine Seele hat, und daß diese krank werden kan», ohne erst den Körper um die Erlanbniß zu fragen." „Ganz meine Ansicht", versetzte die Baronin, „ein Scclcn- lcidcn ist oft schwerer als ein körperliches; beide vertragen sich ganz gut zusammen, aber ich werde auch von jedem extra gequält." „Liebster Gebeimrath", sagte Martha in ihrer vertraulich überlegenen Weise, „ich fürchte sehr, Sie stehen aus einem gänzlich überwundenen Standpuncte. Potz Blitz, noch rin» — man geht doch jetzt allen diesen Erscheinungen mit der cracten Wissenschaft zu Leibe und da verduftet die Seele, mit der sie nichts anzufangcn weiß. Ich glaube Loch, eine recht robuste Seele zn besitzen; aber bei Stopf- und Zahnschmerzen liegt sie gleich auf der Nase; cs kann also nicht viel mit ihr loS sein." „Die armen Wahnsinnigen", fuhr der SanitätSrath fort, „die Verbrecher, die Genies, zwischen denen allen eine traurige Verwandtschaft herrscht, sollen schon in ihrer Schädelsorm ihr Vcrhängniß mit sich berumlragen. Da wird gemessen innen und außen — da wissen die Gehirnwindungen nach dem Tode ein Wort mitzusprechcn lind da komm» die Zahl, die Zahl der Statistik, die große Todlengräbcrci der geistige» Freiheit mit ihrer gespenstigen Beweiskraft. Ein Glück nur, daß sie immer lückenhaft bleibt und im Grunde nur sür die Zahlcngläubigcn etwas zu beweisen vermag. Dazu die Lehre von der Vererbung, die wie die Ahnfrau auS der Gruft kommt und »ns unser Verbängniß schafft." „Vererbt sich denn der Wahnsinn?" fragte Marie, welche mit gespannter Aufmerksamkeit den Bemerkungen de- Sani- tätöratbs gefolgt war. „Wer wollte eS läugnen, daß eS derartige Fälle giebt? Doch eS ist nicht die Regel! Auch werden nickt die Krank heiten fortgccrbt, sondern nur unsere Disposition für die selben — unk diese kann durch geeignete Lebensweise siegreich bekämpft werde». Die Wissenschaft hat auch ihre Geisteskrank- beiten, die in bestimmten Epochen grassiren — und die Lehrer der Scelenheilknndc passen bisweilen in ihre eigenen Capitrl. Ich bleibe dabei, der Geist, die Seele, kan» ganz selbstständig ertranken, ohne körperlichen Anlaß, ohne überkommene Erb schaft Nehmen wir unser» alten RiSpori in Bnderode: er war stets körperlich gesund; seine Eltern und Großeltern, alle seine Verwandten sind klare Köpfe; am ganzen Stamm baum ist kein Apfel, der eine» faulen Fleck hatte. Seine Studien haben ilm in eine verkehrte Richtung geführt; er hat die alle Alchnmie der neuen Cbemic aufpfropfen wollen, Ehrgeiz und Geldgier haben das Ihrige gelhan, ihn aus dem rechten Gleis zn bringen — und durch solche geistige Verirrungen ist er ein aberwitziger Narr geworden, dessen hirnverbrannte Logik zuletzt in einem Verbrechen ihren Ab schluß findet. Möglich, daß sein Körper jetzt zerrüttet ist; doch daS ist die Folge, nicht die Ursache seiner Geisteskrankheit. Nein, meine Damen, ick möchte zwar nicht mit den Scho lastikern untersuchen, wie viele Seelen auf einer Nadelspitze Platz haben; doch in unserem Körper ist jedenfalls noch Platz sür eine Seele, die anderer Herkunft ist und dort nur zur Mietbe wohnt." „Sapperlot", meinte Martha, „bei mir wohnt sie thcuer genug, denn sie muß sür die ganzen Reparaturen auskommen» »nd die kosten viel Geld. Das wissen Sie — dazu sind Sie lange genug Doctor gewesen. Wenn ich sie nur einmal an den Flügeln packen könnte, diese Seele . . ich würde ja auch an ihre Eristenz glauben." Susette wollte doch auch cine Meinung äußern. „Greifen Sie nur zu, Fräulein Schlänget. Bei Ihrer Seele verlohnt sich'» schon . . die hat etwas Massives und wird nicht so leicht verduften." (Fortsetzung folgt.)
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