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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.12.1894
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1894-12-13
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18941213023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1894121302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1894121302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1894
- Monat1894-12
- Tag1894-12-13
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Gegenüber der Umsturzvorlage wurde dem Wunsche des Präsidenten, diese Angelegenheit in kic EtatSberathung möglichst wenig hiueinzuzicben, ziemlich Rechnung getragen; gelegentliche Acußerungcn von klerikaler und fortschrittlicher Seite ließen, wenn sie auch manche Spitzen enthielten, doch nicht gerade auf eine große Erregung schließen. So haben die Reichstagsverhandlungen unter nicht ungünstigen Aussichten begonnen. Auch gegen die von uns irrest- im Morgenblatte gewürdigte kurze programmartige Hede des Reichskanzler- wurde wenig Widerspruch laut. Das beweist allerdings noch nicht, daß der Widerspruch sich nicht ein- slellt, wenn im weiteren Laufe der Session die Geister an den BcrathungSgcgcnständen sich erhitzen. Üine besonder- kampflustige Stimmung ist aber jeden falls nirgends bervorgctreten. Bielleicht am ungünstigsten erschienen die Aussichten der Steuerreform. Selbst aus ^ den Ausführungen de- SchatzsecretairS ging eine verhaltnißmäßig günstige Finanzlage hervor. Freilich konnte Graf Posadowsky mit Recht darauf Hinweisen, daß man auf so veränderliche, schwankende und unsichere Ergebnisse einer augenblicklichen Lage keine dauernde Finanzpolitik gründen dürfe, daß immer noch Fehlbeträge vorhanden und die notb- wendigen Ausgaben in beständigem Wachsen begriffen, die Einzelstaaten an der äußersten Grenze ihrer Leistungsfähigkeit »»gekommen seien. Da- wird wohl im ferneren Verlaus der Etats- und Steuerverhandlungen noch mehr hervortrctcn. Am Freitag wird sich das HauS mit dem stfaatS- anwaltschaftlichen Anträge auf Genehmigung der sofortigen strafrechtlichen Verfolgung des Ab« Liebknecht wegen Sitzenbleibens bei dem am 6. Deccmber vom Präsi denten auf den Kaiser ausgebrachtcn Hoch zu beschäftigen haben. Glaubte man beim Bekannlwerden dieses Antrag-, er «erde zu leidenschaftlichen Scenen im Reichstage Veran lassung geben, so gewinnt eS jetzt den Anschein, als werde die Berathung in ruhiger und sachlicher Weise verlaufen. Die „Nat.-Ztg." meldet nämlich: „Die vertrauliche Besprechung, welche im Reichstag zwischen dem Präsidium und Abgeordneten mehrerer Parteien silMgefunden, hat da» Ergebnis gehabt, daß die Nothwendigkeit einer Verstärkung der Disciplinarbesugnisse de» Präsidenten allseitig als notdwendig anerkannt worden ist. Bis zur Erwägung bestimmter Beschlüsse ist diese Angelegenbeit noch nicht gediehen. Was den Antrag aus strafrechtliche Ber- solgung des Abgeordneten Liebknecht anlangt, so herrscht auch bei den Abgeordneten, welche ein sormelles Hinderniß in dem Wortlaut des bezüglichen Paragraphen der Verfassung nicht er blicken, die Ansicht vor, daß es zweckmäßiger sei, dem Antrag der Staatsanwalt nicht zu entsprechen, sondern die Einführung einer verschärften Disciplin ins Auge zu fassen." Wir können nur wünschen, daß der Reichstag möglichst ein- mütbig zu einem derartigen Beschlüsse kommt. Der Staats- anwaltschast ist es dann unbenommen, nach Schluß der Session Herrn Liebknecht strafrechtlich zu verfolgen, während der Reichstag sich in die Lage versetzt, aus eigner Macht- befugniß nicht nur Liebkneckt'sche Demonstrationen, sondern auch Singer'sche Aeußerungen gegen das Oberhaupt des Reiche« gebührend zu strafen. Solche Aeußerungen sind nach der Verfassung strafrechtlich nicht zu verfolgen; ohne Ver- saffungsbruck kann der Reichstag eine Genehmigung zu solcher Verfolgung gar nickt crtheilen. Das sehen nachgerade auch die conseroanvsten Blätter ein. Und die Verfassung zu ändern, um Herrn Singer dem Strafrichter auszuliesern, wäre ein Beginnen, das sich aus das Schwerste rächen könnte. Man denke nur an die Zeiten unmittelbar nach der Entlassung des Fürsten Bismarck und der Veröffentlichung der sogenannten llriasbriefe zurück. Wenn damals im Reichstage Worte gefallen wären, welche die Staatsanwaltschaften zu Angriffen aus die parlamentarische Redefreiheit gereizt Kälten, so wären die bedrohten Redner sicherlich nicht auf den Bänken der Socialdemokralic, sondern auf einer ganz andern Seite des Hauses zu suchen gewesen. Und welche Ruse der Entrüstung wären damals unter den Verebrcrn des Fürsten Bismarck laut geworden, wenn der Reichstag zu einer Aenbe- rung des Art. 30 der Verfassung sich hätte bereit finde» lassen wollen, um die Schuldigen ans Messer liefern zu können! Lehnt jetzt der Reichstag die Genehmigung der sofortigen Verfolgung Liebknecht'« ab. überläßt cs der Staatsanwaltschaft, diese Versolgung nach Schluß der Session cintreten zu lassen, und verschärft die Disciplinarbesugnisse des Präsidenten, so wird ihm auch nickt angcsonnen werden, die Hand an den Art. 3V der Verfassung zu legen, welcher den Lebensnerv des Reichs tag- in sich birgt. Welches Gewicht Tim son. der „geborene Präsident", aus die Befugniß der Parlamente, Herren im eigenen Hause zu sein, legte, geht aus den Worten hervor, die er am 10. Februar 1868 >m preußischen Abgeordneten- Hause sprach: „Dieses HauS nimmt eine gewisse Competenz in Anspruch inner- halb dieser vier Mauern; es vindicirt sich di« Competenz, das, was innerhalb dieser vier Wände vorgeht, allein zu beurtheilen, und niemand in dieses Urtheil hinein- fahren zu lassen.... Es verwahrt sein Hausrecht, und das verwahrt es auch gegen die Gerichte, und zwar nicht erst dann, wenn die Gerichte erkannt haben.... Wir wehren das Eindringen einer jeden Behörde, die sich eine Cognition über das herausnimmt, was innerhalb dieses Pause» geschieht, von uns ab..." Die Aenderungen und Ergänzungen des Strafgesetz buchs, welche die Umsturzvorlage in Aussicht nimmt, sind von uns bereits erörtert worden. Es erübrigt noch eine Erläuterung des Artikels II der Vorlage, der eine Bestimmung de« Militairstrafgesetzbuchs erweitert. Er betrifft Ossiciere und Unterofficierc des BeurlaubtenstandcS, welche wegen gewisser Vergehen von den bürgerlichen Gerichten verurthcilt worden sind. Der Verlust der Dienststellung als Vorgesetzter tritt nach dem Militairstrafgesetzbuch von selbst ein, wenn auf ZuckthauS, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte oder auf Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemker erkannt worden ist. Ist wegen ehren rühriger Verbrechen oder Vergehen aus eine andere Strafe als Zuchthaus und nicht auf Verlust der Ehrenrechte erkannt worden, so kann ein besondere« Verfahren des Milikair- aericbts zur Entscheidung darüber angcordnet worden, ob Dienstentlassung oder Degradation auszusprechcn sei. Die Vorlage will diese Befugniß aus schwere Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt und von Verbrechen und Bergede» wider die öffentliche Ordnung ausdehnen. Es bandelt sich zum großen Tbeile um solche Handlungen, welche nach dem Entwurf im „Ewil"-Strafgesetzbuch strenger als bisher geahndet ober überhaupt erst mit Strafe bedroht werben sollen, wie Aufforderung zu einer strafbaren Hand lung, Anreizung von Angebörigen des Heeres zum Un gehorsam gegen Vorgesetzte, Aufreizung von BevölkerungS- classen zu Gewalttbätigkciten gegen einander (ß. 130), Verbreitung erdichteter oder entstellter Thalsachen u. s. w DaS Verfahren zur Entscheidung, ob Dienstentlassung oder Degradation zu erkennen sei, soll jedoch nur dann eröffnet werden könne», wen» iocgcn Vergeben gegen die Staatsgewalt oder die öffentliche Ordnung auf mehr als scckS Woche» Gefängnis; erkannt worden ist. In dieser Bestimmung liegt eine Eautcl. die aber auch nöthig ist. weil die Erweiterung des Paragraphen auch wegen Prcßvergchen bestrafte Ossiciere und Unlcrossicicre des Bcurlaubienstankes treffe» lau». Die Sicherheit, die in der Bestimmung liegt, daß baö militair- gerichtlickc Verfahren Nachfolgen kann, aber nicht Nachfolgen muß, möchten wir im Allgemeinen nicht sehr doch anschlagcn. Im klebrigen aber läßt sich nichts dagegen einwcnden, wenn Mittel geboten werden, um Personen, die bewußt an der Autoriläl des Staates rütteln, ihrer Autorität im Heere zu entkleide», zumal da cs nicht ausgeschlossen, ja nicht einmal mehr unerhört ist, daß socialdcmokralisch gesinnte Vorgesetzte des Bcurlaubtenstandeö während der Hebungen auf die Untergebenen politisch einzuwirkcn suchen. In Frankreich zeigt man sich von den Erklärungen des italikutscheu Ministers Baron Blanc bezüglich der Asrikapolitik Italiens nur sehr mäßig befrierigt und läßt es sich nickt nehmen, daß die Eabinetie von Rom und London feindselige Absichten gegen baS französische Eolonial systcm im Schilde sübren, obwohl die Franzosen im Sudan weniger zu suchen baden als andere Eolonialmäckte. Allen voran rangirt Egypten, dessen Ansprüche aus den Sudan alt und wohlbegründet sind. Da hinter Egypten England steht, und England das größte Interesse an der Wiederherstellung des früheren Zustandes hat, in welchem der Sudan einen regen Handelsverkehr mit der Außenwelt unterhielt, so ist es auch nur eine Frage der Zeit, daß und wann daS Schreckensregiment des Mahdi und die damit Hand i» Hand gehende hermetische Absperrung des Sudans ein Ende nehmen wird. Die sudanesische Bevölkerung selbst ist mit dem jetzigen Stand der Dinge so wenig zufrieden als möglich. Wichtige Ouellen des Verdienstes und damit deS materiellen Wohlergehens sind ihr jetzt abgescknitlen. Der vor Kurzem glücklich auö der Gefangenschaft deS Mahdi entronnene italienische Pater Rossignoli würde schwerlich seine Flucht aus Omdurman haben bewerkstelligen können, wenn ihm nicht die dumpfe Unzufriedenheit der Bevölkerung still schweigenden oder gar offene» Vorschub geleistet hätte. Roch ist die Entwickelung im Sudan für eine entscheidende Wendung nickt weit genug gediehen, aber alle- läuft darauf hinaus. In Erwartung kommender Ereignisse haben Egypten beziehungsweise England im Norden und Italien im Osten ihre strategischen Vorbereitungen schon getroffen, um die Derwische, sobald sie einen desperaten Handstreich wagen sollten, zurückzutrciben. Namentlich die Besetzung KassalaS durch die Italiener, bewährt sich immer mehr als ein woblberechneter militairischer und auch politischer Schachzug. Kassala beherrscht und sichert den östlichen Tbcil de« Sudans und sperrt zugleich den Sclavenhändlern die eine Hauptstraße zum Rothen Meere, während die andere nach Suakn» führende bekanntlich in englischem Besitze sich befindet. Von Suakim kann, wenn es nötbig ist, jederzeit ein Vor stoß gegen Berber unternommen werke», indeß den von Norden anrückenven anglo-egyptischcu Streitkräften gegen über Dongola von den Derwischen nicht zu behaupten ist. Im Süden endlich wird daS Reich des Mahdi von Uganda aus bedroht. So zieht sich von allen Seiten das Netz um den Sudan enger zusammen und die anglo- italieniscke Afrikapolitik, soweit sie den Sudan zum gemein samen Operationsziele bat, erscheint ihre- Erfolges durchaus sicher. DaS Mißvergnügen der Franzosen kann daran nichts ändern, zumal da das Londoner und das römische Eabinct cnt- chlossen sind, ihre afrikanischen Eirkel von Paris aus nicht lören zu lassen. In Rußland mache» sich vereinzelte Anzeigen geltend, daß bezüglich der Nationalitäten etwas mildere Sailen an geschlagen werden sollen. DaS Manifest Kaiser Nikolaus II. an die Finnländer, in welchem er dem Lande die verfaffungS mäßigen Reckte garantirt, Kat dort einen sehr guten Eindruck gemacht. Während daS vom verstorbenen Zaren am 14. Mär; l8^l an die Finnländer gerichtete Handschreiben die lieber fchrist: „AllergnädigsteS Manifest" trug, ist daS Mani- est Nikolaus' II. nur mit „Bestätigung" überschriebcn, was „isoscrn von Bedeutung ist, als die Finnländer jdie Be stätigung ihrer Rechte nicht als Act der Gnade, sondern als Pflicht deS jeweiligen Herrschers betrachten. Die Stelle, welche in dem Manifeste Alexander'« III. lautet: „Wir haben für gut befunden, die Religion, die Grundgesetze, die Reckte und Vorzüge aller Stande und aller im Großsürslentbum lebenden Untcrtbanen, di: sic bisher genossen baden, zu bestätigen", lautet jetzt: „Wir bekräftigen und befestigen die Religion, die Grund geseye, die Rechte und Vorzüge aller Stänke und Unter- tkanen deS GroßfürstentbumS, welche sie gemäß der Eonstitution dieses Landes bis jetzt genossen haben." Schließlich weist das Manifest Nicolaus' ll eine Aende rnng in der Auszählung der kaiserlichen Titel auf. Bei Aleraiiker III. t»eß cS: „Wir Alexander III., Kaiser und Selbstherrscher aller Neuffen, Zar von Polen, Großfürst von Finnland :c.; bei Nicolaus II. heißt e»: „Kaiser und Selbstherrscher aller Renssen, Großfürst von Finnland rc." Als Antwort aus die Loyalitäls Kundgebungen der Finnländer publicirt daS finnländifchc Amtsblatt ein Handschreiben Kaiser Nicolaus' II. an den General Gouverneur von Finnland, welches lautet: „klnserui General Gouverneur von Finnland! In dem wir durch a. b. Manifest die Finnland von unsere» erhabenen Vorgängern zuerkannten Einrichtungen und Insti tutionen bestätigt habe», haben wir dies mit innigstem Ver gnügen getban, da wir der zahlreichen Beweise für die un erschütterliche Treue und Dankbarkeit der Finnländer gegen ihre Herrscher stets eingedenk sind. Ich befehle Ihnen, diese unsere Kundgcbuug allen unseren treuen llnterthanen in Finnland bekannt zu geben." Die Tbatsachc, daß d,c Vorgänger Nikolaus' 11. derartige Handschreiben an ihre Stellvertreter in Finnland nicht erlaffen haben, erhöht die politische Bedeutung dieser Kundgebung. — Auch die Polen blicken hoffnungsvoller als >e zuvor in die Zukunft. Es ist keine Frage, daß die brutale Be handlung, welche General-Gouverneur Gur ko der polnischen Deputation, welche zu den Beisctzung-scicrlichkeiten nach Petersburg reisen wollte, zu Tbeil werben liest, den Zaren verstimmt, und daß andererseits die LoyalitatSkundgebung der Polen aus ibn einen sehr günstigen Eindruck gemacht bat Der großartige unk prnnkbaste Gottesdienst, welchen die Polen am VcrmäklungStage Nikolaus' ll in der katholischen Kirche zu Petersburg veranstalteten, soll den Zaren sehr gerübrt haben Diese Umnände möge» dazu beiactragen haben, daß Kaiser Nikolaus II. den berechtigten Klagen der Polen über das Regime Gurko's im Wcicksclgebietc Gehör schenkte. Kommt wirklich, wie bestimmt verlautet, Graf Paul Schuwalow, der derzeitige russische Botschafter in Berlin, als General Gouverneur, oder waS wahrscheinlicher ist, als Statthalter nach Warschau, dann dürfte» allerdings die Zeiten des Gurko'sckicn Despotismus vorüber sein. Allzu weitgehenden Hoffnungen niögen sich aber weder die Polen noch die Finn länber hingebcn, die consequente, systematische RussificirungS- politik Alexander s IU. wird auch Nikolaus II. weilertrcibcn, nur, versuchiwcise, in milderer Form. Sein Erbe. II Eine Familiengeschichte. Bon M. von Buch. Erste« Capitel. Eine Vlüthe i« Herbst. Nachdruck Verbote». E« war schon spät im Iabre. Ueber dem großen Sterbebette der Natur hingen grau und dunstig die Wolken, und von Zeit zu Zeit sprühten die Regenschauer wie Thränen hernieder. Nun dunkelte cS bereits, und feuchtkalte Abendnebel dampften über die Landschaft. Zuerst verwischten sie die Umrisse des großen Forstes fern am Horizonte, dann lagerten sie auf den stillen Feldern und aus der öden Landstraße, der einzigen, die in dieser Gegend zu menschlichen Wohnungen führte, die weder Baum noch Strauch kennzeichnete, und die in Eins verschwamm mit den leeren, abgcernteten Aeckern. Da erklang Rädergerasscl. Die Pferde vor dem leichten Iagdwagen prusteten und knirschten ängstlich inS Gebiß; der Lenker de« Gefährts bemühte sich offenbar, die Richtung des Wege« innezubalten, was ihm nur schwer zu gelingen schien. „Zum Teufel, so gebt cS nickt länger", ließ sich eine Stimme im Wagen vernehmen. Herr von Hollbracht, ein Grundbesitzer in hiesiger Gegend, schien durch den Nebel offenbar in sehr schlechte Laune versetzt zu sein ; im befehlenden Tone fuhr er fort: „Gieb mir die Zügel, Wilhelm, ich will nun endlich schneller vorwärts kommen." „Schneller, Herr?" antwortete die Stimme des Kutscher«. .Da« ist rein unmöglich. Ich hoffe, daß wir den Weg nach Walddorf nickt verloren baden, doch lieber Gott — wie kann man da« bei der Finstcrniß so genau behaupten." Walddorf hieß das Hollbracksische Besitztbum. Es lag ungefähr eine Viertelstunde entfernt von dem oben erwähnten großen Walde, an dem da- Gut einen bcdrntrnden Antbeil besaß. Herr von Hollbracht hatte unterdessen die Zügel er- «risstn, und der Wagen rollte etwas sckneller vorwärts. Nach wenigen Minuten schienen dann die Räder an etwas anzustreisen, und die nackten Zweige eine« Baume« schlugen den Männern in« Gesicht. Wilhelm « Falkenaugen spähten i» die Finsterniß hinein. ,I«tzt müssen wir uns recht« halten, Herr, recht«!" rief er. „Da« ist die alte Akazie, die vor Walddorf auf dem Kreuz wege steht." „Oho, ich kenne den Weg Keffer» als Du", meinte Herr von Hollbrackt, indem er die Pferde links einbiegen ließ. Wilhelm schüttelte energisch den Kopf, schwieg jedoch klüglich. Im Stillen meinte er nur, der Herr hätte am besten getban, heute nickt von Hause und von der gnädigen Frau fortzufahren, die das gewiß gar nicht gern gesehen hatte. Sie kehrten jetzt zurück von Schwechtenbof, wo Frau von Schwechten, die Schwester des Herrn, Geburtstag gefeiert batte. Die Dame — dem scharf beobachtenden Wilhelm war eS sogleich ausgefallen — hatte sich auch gewundert, daß der Herr überhaupt kam und daß er dann die Ruhe besaß, so lange zu verweilen. Auf der Rückfahrt muß nun noch, um die Heimkehr zu verzögern, der Böse seine Finger mit diesem Malesiznebel im Spiele haben, so daß man sich aus eigenem Grund und Boden kaum mehr zurecbtfinden kann. Bei diesen Betrachtungen rüttelte und schüttelte der Wagen, daß seine Insaffen bochflogen. „Der Herr bat sich verfahren; wir sind aus den Acker hinter dem Dorfe geratben, wo die Lehmgruben sind", dachte der Kutscher, sich an die Wagenlehne frstklammernd. „Mein Himmel, wo kommen wir jetzt hin?" E« gab ein Krachen, als brächen Aeste und Zweige. Darauf ein plötzlicher Ruck, die Pferde bäumten und scheuten, dann standen sie stockstill und waren weder durch Zureden, noch durch Peitschenschläge zu bewegen, weiter zu gehen. „Steig ab. Wilhelm", befahl der Herr ärgerlich. „Die Gäule soll meinetwegen der Teufel holen; ich meine, ein Baum muß vor unS sieben." Wilhelm begann da« Hinderniß zu untersuchen. „Ein Baum ist - nicht, eher ein großer Stein. Wie kommt der Stein hierher?" „Gnade »ns Gott, wir sind auf dem Kirchhofe", ries er plötzlich, indem ihm die Situation klar wurde. „Wir sind vom Acker durch die Hecke de» Friedhöfe« gefahren, und die Thiere stehen vor einem Grabkreuze." Mit einem kräftigen Fluche sprang nun auch Herr von Hollbrackt vom Wagen, und beide Männer zogen die Pferde auf die Seite. „WaS nun weiter?" meinte der Herr» noch immer die Leine in der Hand behaltend. „Vor Allem müssen wir wissen, aus welchem Theile de« Friedhofes wir eigentlich sind. Sieh Dich um, Wilhelm." »Gottlob, wir steh« am Anfang« de« Gottesacker«", meinte Wilhelm, der sich einige Schritte vorwärts getappt hatte. „Ich jüble die Hecke, und hier ist auch die Pforte." Er tastete am hölzernen Gitter entlang, bis die Thür schreiend aufspranm Nach einigen Minuten erreichte das Gefährt glücklich die rechte Straße. Die Pferde warfen die Köpfe in die Höbe, prusteten und stießen ein freudiges Wiehern aus; sie ahnten bereits den nahen Stall. Zn einigen am Wege verstreuten Katenbäusern glänzte Lickt auf, dann donnerte ber Wagen durch einen steinerne» Thor weg und knirschte über die Rampe eine« stattlichen Herren hauses, vor dem zwei große Oellatcrnen brannten. Die beiden Seitenflügel deS Hause«, die nach der Gartenseite lagen, krönte je ein Tbürmchen, dadurch erhielt daS zweistöckige Gebäude etwas Imposantes, fast Schloßartiges. „Ist Besuch hier?" wunderte sich Herr von Hollbracht, der, als er vom Wagen sprang, auf dem Kies frische Rädcr- spuren entdeckte. Der große ballenartige Eingangsraum war nur schwach erleuchtet, wenngleich in dem Kamine in der Ecke ein behagliches Feuer knisterte. An den bräunlichen Wänden hingen Hirsck- uno Rehgeweihe, auck einige Bilder in breiten Goldrahmcn, aber die Malerei erschien fast so dunkel, wie die Wand selbst Mit großem Kunstvcrständniß war der vornehme Raum nickt eingerichtet, aber er besaß dock charakteristisches Gepräge Der mit Eichenholz getäfelte Fußboden ergab nicht nur den festen Grund für daS EintrittSznnmcr, sondern konnte überhaupt für den deö gesummten Hauses gelten. Alle« war derb, fest, knorrig, nicht zum wenigsten die bobe Gestalt Holl- brackt s selbst, der sich verwundert in dem menschenleeren Räume umsah. Er mockte einen anderen Empfang vcr- mutdet haben. Da glitt von einem hoben Lederpolsterstubl in der Ecke eine kleine Gestalt. „Guten Abend, Vater, Du hast mir doch etwa« mitgebrackt?" ließ sich ein Kelle« Stimmcken vernehmen. Ein Knabe von sechs bi« sieben Jahren zupfte an dem Mantel de« Manne«. „Ah, Gerhard, noch auf, mein Junge? Du solltest längst zu Bett sein. Wo sind denn die Anderen?" fragte Hollbrackt, indem seine Hand über da« blonde Haar des Knaben fuhr. „Ich weiß nickt; der Onk:l Docior ist gekommen, und dann habe ick aus Dich gewartet, und dann bin ick ein- gcfcklafen. Du hast mir dock aber etwa- mitgebrackt?" erkundigte sich Gerhard nock einmal und die«mal mit einem durchaus inquisitorischen Anflug io der Stimme. „Gottlob! endlich ein Mensch", sagte Herr von Hollbracht, als eine ältere, gutmütbig auSschende Frau durch die kleinere Sciicnthür eintrat. „DaS HauS erscheint wie auSgestorben; cS ist koch nicktS geschehen, Frau Weiland?" „Nun freilich, und Sie ahnen Ihr Glück noch nicht einmal", lachte die Frau „WaS ist geschehen?" „DaS Kind ist da!" „Das Kind!" Hollbracht war wie vom Schlage gerührt. „Ja, ja. der Storch bat geklappert, derweil Sie fort waren, und hat einen so prächtigen kleinen Kerl gebracht, wie ich nur je einen gesehen" „Ein Knabe!" stieß Hollbracht hervor und umfaßte in der Freude seine« Herzens die alte Frau, wobei sich daS robuste Gesickt merkwürdig verschönte. Das Helle Glück sah ihm auö de» Augen, als er hastig sortsuhr: „Ter verwünschte Nebel, so lange bat er mich aufgehaltcn." „Wir glaubten schon. Sie würden bei der Frau Schwester übernachten", meinte Frau Weiland, das Factotum des Hauses, die in Walddorf groß und alt geworden war und jetzt dort eine Art Vertrauensposten bekleidete. Ihr Vater und ihr Man» waren herrschaftliche Beamte gewesen und die ganze Well schien sich ihr nur nm die Familie Hollbracht z» drehen. „Nun aber will ich mein Kind sehen, mein Kind und meine Frau", verlangte Herr von Hollbracht, nachdem er noch kurz einige Fragen gestellt batte. Herr von Hollbrackt war schon einmal vermählt gewesen; nach dem Tode der ersten Frau, die ibm Gerhard Innterlasien hatte, war er im vergangenen Iabre eine zweite Ehe cin- gegangen, aus der da« bcnte geborene Kind entsprossen war. Wie mochte eS ausseben? Kinder sehen freilich alle gleich, doch dies war das seine, war sein Knabe. Wirklich, Herr von Hollbrackt war ganz stolz und glücklich in dem Bewußt sein der neuen Vaterschaft. Da machte sich wieder Gerhard bemerlbar und verlangte dictatorisch nach dem Mitgebrachten, daß er natürlich vcr gessen batte. „Laß eS gut sein, Gerhard, Du hast beute etwa« viel Schöneres erkalten; Du hast ein Brüderchen bekommen", ver suchte Hollbrackt zu trösten. „En, Brüderchen?" fragte zweifelnd der Kleine. „Ja. und gerade so ein kleiner Manu wir Tu rioer warst, ist der Bruder auch."
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