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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.05.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-05-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950516028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895051602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895051602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-05
- Tag1895-05-16
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Tabellarijchcr und Ziffernjatz nach höherem Tarif. Extra "Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Poslbeforderung X 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Aunahmeschlub für Anzeigen: (nur Wochentags) Abend »Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen- Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. ^-241. Donnerstag den 16. Mai 1895. 88. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 16. Mai. Im Reichstage wird heute da» Nothgesrtz, welches die gegenwärtig noch geltenden Sätze der Zuckcrprämicn auch über den 1. August dieses Jahres hinaus, b:s 3t. Jul: 1807, beizubehalten vorschlägt, zur ersten Lesung gelangen. Die Sachlage ist, waS diesen Nothbehels anbelangt, eine so ein- fache, daß auch die Berbandlungen darüber im Reichstag sich rasch werden abschließen lassen. Eine grundsätzliche Ent scheidung wird mit dieser auf den Augenblick berechneten Maßregel überhaupt nicht getroffen. Es handelt sich lediglich um eine taktische Entscheidung einerseits und um einen Schritt wirthschaftlicher Aushilfe bis zur ver einbarten dauernden Abhilfe der obwaltenden Schwierig keiten andererseits. Nach beiden Seiten hin rechtfertigt sich der Vorschlag eigentlich von selbst. ES war ein taktisch durchaus verfehltes Vorgehen, welches die ReichS- finanzverwaltung mit dem Zuckersteuergesetz von 1801 in Betreff des Exportprämien-Unfugs vorschlug und durchsetzte. Deutschland hatte in diesen Dingen immer die größere Zurück Haltung geübt. Bis 1887/88 schwankte die deutsche Aus fuhrprämie zwischen 4.15 und 4,98 -L, in Frankreich zwischen 6,30 und 1l,6b ^ Von da bis 1891/92 erzielte die deutsche Industrie infolge der neuen gesetzlichen Regelung nur noch 2,22 bis 2,39, d:e französische 5,82 bis 9,24 - F Für die letzten drei Jahre stand der deutsche Satz bei 1,25 fest, in Frank reich genoß die Exportindustrie 1892/93 5,46, 1893/94 5,85 und 1894/95 etwa 6Ausfuhrprämie. Belgien und Holland gewähren ungefähr dieselbe Prämie, Oesterreich giebt 2 und was das Entscheidende ist: nicht einer der concurrirenden Staaten trifft Anstalten, diese Prämien herabzumindern, nach dem Deutschland so tugendhaft war, mit dem guten Beispiel voranzugehen; sie lassen ihre Industrie mit allem Behagen den Vorsprung ausbeuten, den sie auf dem Weltmärkte tat sächlich gewonnen hat. Als deutscherseits die Prämien auf Abbruch gesetzt wurden, geschah es aber in der Voraussetzung, baß die anderen Staaten Nachfolgen würden. Nachdem nun feststeht, daß diese Erwartung — was übrigens Jedermann vorherzusagen vermochte — eine trügerische war, ist eS taktisch einfach selbstverständlich, daß man diese Methode verläßt und andere Wege einschlägt, um dem Prämien- Uafug zu steuern. Denn das mag immer wieder aufs Entschiedenste betont sein: die deutsche Gesetz gebung und die deutscheZuckerindustrie haben nicht im Mindesten im Sinne, solche Ausfuhrprämien zu einer stehenden Ein richtung zu machen. Die Prämien sind uns nur ein Mittel zum Zweck des Kampfes gegen die Prämienwirthschaft in anderen Staaten. Wenn unsere Industrie am fremden Markte keinen bevorzugten Concurrenten mehr begegnet, kann und wird sie selbst auf Bevorzugungen irgend welcher Art ver zichten. Aber darüber muß man sich auch klar sein, daß um die Gleichheit der Waffen gekämpft wird und daß es geradezu komisch wäre, im Kampfe Gewehr bei Fuß zu nehmen. Damit liefert man sich lediglich dem Gegner in di» Hände. Wenn w:r den Kamps überhaupt weitersühren wollen, ist es also das Mindeste, daß wir zum 1. August die ohnehin schwächere Waffe nicht noch weiter abstumpfen lassen. Für die Reichsfinanzen bedeutet dies, bis eben eine organische Abhilfe getroffen ist, einige Mehrbelastung. Der Etat für 1895/96 hatte von der Minderung der Prämien um ein Fünftel vom 1. August ah eine entsprechende Ver mehrung der Einnahmen aus der Zuckersteuer angesetzt. Immerhin handelt es sich dabei für dieses Jahr schon um 2*/r—3 Millionen Mark. Poch dürfte es auch dannt gethan sein, denn im Laufe des nächsten Winters wird sich die organische Abhilfs gewiß ermöglichen. Für diese ist be kanntlich vorgeschlagen, den Bedarf an Ausfuhrprämien aus einer neu zu schaffenden Brtriebssteuer zu decken, so daß keinesfalls die NeichScasse einen Schaden von der weiteren Aufrechterhaltung, bezw. Verstärkung diese« KampfeSmittrlS haben würde. Endlich erscheint aber die vvrgeschlagene Noth- hilfe im Interesse der rüdenbautreibenden Landwirtbschafl dringlich geboten. Die in der letzten Eampagne erzielten Preise j.65—86 sind geradezu ruinöse. Andererseits hieße eS der gesummten Landwirkhschast einen schweren Schlag versetzen, wenn die Rüdenerzeugung jetzt eingeschränkt würde. Der vermehrte Anbau von Merzen würbe die eben erst sich erholenden Preise sofort wieder auf einen unerträglich niedrigen Stand zurückwersen. Hier ist es in der That geboten, dem heimischen Erzeugniß aus dem ausländischen Markte möglichst wieder Luft zu schaffen, und dazu ist auch alle Aussicht vorhanden, denn die deutsche Industrie producirt nicht nur den besten Zucker, sondern sie producirt auch vergleichsweise am billigsten. Sobald ihr demnach ermöglicht wird, unter annähernd gleichen Be dingungen mit der fremden Industrie am Weltmarkt in Con- currenz zu treten, ist mit aller Sicherheit zu erwarten, baß für die deutsche Production in ihrem gegenwärtigen Umfange die Absatzgelegenheit wieder ermittelt und festgevallcn wird. Aufgabe einer bald nachfolgenden Resormgesetzgebung wird es dann sein, zu verhüten, daß die inländische Production demnächst weiter und weiter wächst und wirklich zur Ueber- production wird. Im preutztschcu Abgeordnetenhause kommt am Sonn abend der am 7. März eingebrachte Antrag zur Verhandlung, der die in den Jahren 1873 und 75 aufgehobenen oher ab- aeänderten Artikel 15, 16 und 18 der preußischen Ver fassung in der ursprünglichen Fassung wicdcrbergestellt sehen will. Der Wortlaut dieser Bestimmungen ist folgender: Art. 15. Dir evangelisch» und römlsch-kathottiche Kirche, sowie jede andere ReUgionsgeielljchaft, ordnet und verwaltet ihre Ange legenheiten selbstständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihr« lLuttus-, Unterrichts- u»d WohlthätigkeitSzwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds. Art. 16. Der Verkehr der Religivnsgeselljchast mit ihren Oberen ist ungehindert. Tie Bekanntmachung kirchlicher Anordnungen ist nur denjenigen Beschränkungen unterworfen, welchen alle übrigen Veröffentlichungen unterliegen. Art. 18. Das Grnennungs-, Vorschlags-, Wahl- und Bestatt- gungsrecht bei Besetzung kirchlicher Stellen ist, soweit es dem Staate zusieht und nicht auf dem Patronate oder besonderen RechtStitel» beruht, aufgehoben. Auf die Anstellung von Geistlichen beim Militair und an öffent lichen Anstalten findet diese Bestimmung keine Anwendung. Nach der Niederlage bei der Umsturzvorlage, über die alle Tiraden ihrer Presse nicht hinwegtäuschen, suhlt offenbar die CenlrumSpartei das Bedürfniß, über ihr Verhältniß zur preußischen Regierung Klarheit zu verbreiten. Nun hat zwar am letzten Donnerstag der preußische Iustizminister im Reichstag erklärt, der Culturkampf sei unnütz gewesen und habe die Gemülher nur verbittert. Wir glauben aber trotzdem nicht, daß die preußische Staatsregierung gewillt sei, diesen Rest der Gesetzgebung zum Schutz gegen den Ullramontanisnzus wegzuräumen. Werden jene Verfassungs artikel wieder hergestcllt, so wird die Machtsphäre der römisch - katholischen Kirche im vorwiegend evangelischen Preußen zu Ungunsten des Staates in einer Weise erweitert, wie sie in katholischen Ländern, Bayern, Oester reich, geschweige denn Frankreich und Italien, nicht entfernt besteht. Hier ist der preußischen Regierung Gelegenheit ge geben, den ultramontanen Aspirationen der Centrumspartei ruhig und fest entgegenzutreten; der Unterstützung der Mehr heit im Abgeordnetenhause kann sie sicher sein. Man de Ich,«»,. M 7° b-stEM'. «-.N-i-ung-» und ,°ü. da« Centrum gegen die Wand reden. Dl. «-dlii-g- Ep'7°UL^L.7l°- fükren ganz naturgemäß zur Aufwerfung der t ^ Regierunzskreise eigentlich noch de'r Wähler am allerwenigsten die Geschäfte Reg'-rung ni re Verkalken Rosebery'S kein Hehl macht. Cs bekundet wcoer Planmäßigkeit, noch Charakterstärke, wenn unter d'-leri l ständen die herrschende Richtung lick an die klammert und wie wenig das Urttieil der Oefscnklichkctt diejem Verhalten des Ministeriums Geschmack abzugewmnen vennag zeigen die sich häufenden Wadln.ederlag-n deöL.ber^ ,n lvlchen Bezirken, die im Vorhinew. snr eine liberale -vah- candidalur nichts weniger als aussichtslos sich anlall-ii. ^ allgemeine Ssimmuna des Volkes wendet „ch >m Grund vielleicht nicht so sehr gegen das Programm der jetzigen Regierung als gegen die schwächliche Art ^seiner parla mentarischen Vertretung und gesetzgeberischen Durchführung Daneben kann allerdings nickt geleugnet werden daß auch der Respect vor dem liberalen Regime in demselben Masic hinfällig wird, als letzteres Z^e.N. entschlossen die Con sequenren der gegenwärtigen, auf die Dauer dock imballdaren Lage zu ziehen Was die öffentliche Meinung erwartet. >,t der Rücktritt des Lords Rosebern und die ungesäumte Bo>- bereitung der parlamentarischen Neuwahlen. Es war voraiiszusehen, daß die ostasiatische «»rage mit dem Frieden von Shimonoseki und dem Verzicht Japans aus die Liao-To»g-Halbinsel nicht zur Ruhe kommen werde. AuS officiöser spanischer Ouelle wird nämlich aus ländischen Blättern gemeldet, daß die spanische Regierung den Cabinetten von Frankreich, Rußland und Deutschland eine Note über die japanische Besitzergreifung von Formo ,a und den Fischer-Inseln habe zugehen lassen. Sie befürchte, daß diese Inseln in der Hand einer Macht wie die japanische eine dauernde Bedrohung der spanischen Herrschaft über die Philippinen sein werke. Die spanische Regierung sei der Ansicht, daß die Japaner, die beim Friedensabschtuß noch nickt im Besitz von Formosa waren, kein Recht hätten, es jetzt in Besitz zu nehmen, und daß namentlich angesichts des Wider standes der Bewohner von Formosa die Mächte allen Grund hätten, sich cinzumischen. Es wird hinzugesügt, daß die meisten der geistlichen Missionsanstalten auf Formosa spanisch seien. Diese spanisch-officiösen Ausführungen sind durchaus verfehlt. Die drei Festlandmächte haben rechtzeitig ihre Forderung an Japan gestellt, auf die sie zur Wahrung ihrer wie der europäischen Hanvelsintereffen aus Anlaß des japanisch chinesischen Friedensvertrages glaubten bestehen zu sollen. Die japanische Regierung hat diese Forderung bedingungslos erfüllt; insoweit liegt also zwischen ihr und den drei Mächten ein festes Abkommen vor, das eine weitere Ausdehnung auf neue, nachträgliche Forderungen ausschließt. Spanien hat es unter lassen, rechtzeitig an diesen Abmachungen theilzunehmen; es wird also schwerlich erwarten können, daß die drei Festland mächte in eine Wiederaushebung der abgeschlossenen Ver ständigung zum Belms der von Spanien gewünschten Um gestaltung rinwilligen werden. — Ferner wurde gemeldet, Rußland verlange die Abtretung des HafenS Lazarew an der Ostküste Koreas mit einem Gebietskreise von 200 Meilen am Ufer und prüfe Chinas Bereitwilligkeit, die Ausgangs linie der sibirischen Bahn durch die chinesische Mandschurei und Korea nach Port Lazarew durchlegen zu lassen, Meldungen, aus welchen hervorzugchen scheint, daß Rußland von Korea Besitz zu ergreifen wünscht. Ob diese Angaben zutreffen, läßt sich nicht beurlheilen, aber sie entsprechen ganz der Stiinmung, die in der russischen Presse zum Ausdruck kommt. Das durch den Frieden von Shimonoseki von Japan angestrebte politische Ideal, heißt es in den „Birjchew. Wjed.", werde, obwohl es diesmal nicht verwirklicht werden konnte, doch fortleben und auf das Programm aller japanischen Patrioten gesetzt werden. Alles würde aujgeboten werben, um sich die Mittel zur Revanche, zur Erreichung des vorgestecklen Zieles zu verschaffen. Es sei nicht an- gcnchm, ein Volk von 40 Millionen zu seinen Feinden zu haben, doppelt unangenehm, wenn man sich diesem Feinde gegenüber in überaus expouirter Stellung befinde. So sei es also nöthig, ohne falsche Sentimentalität den Augenblick zu nützen, der Rußland günstig sei. Hegt die russische Politik thatsächlich derartige Absichten, um ihre asiatischen Plane zu verwirklichen, so kann man darin keine Gefährdung eines politischen Interesses, das für Deutschland wichtig wäre, erblicken; sollte sich aber ans Ruß lands chinesischer Politik eine Gefährdung deutscher Handels- interessen entwickeln, so müßten selbstverständlich Rußland gegenüber die gleichen Gesichlspuncte betont werden, welche Rußland selbst in Gemeinschaft mit Deutschland und Frank reich Japan gegenüber gellend gemacht hat. Deutsches Reich. * Berlin, 15. Mai. Herrn Cugen Richter das Lob des Ministeriums Bismarck singen zu hören, ist ein so be zeichnender Vorgang, daß er nicht mit Stillschweigen über gangen werden darf. Herr Richter schreibt nämlich in der »Freis. Ztg.": „Ein unbefangener Zuschauer der Verband- l'ungen über die Umsturzvorlage in der vorigen Woche wird nicht leugnen können, daß die Minister bei diesen Verhandlungen ein Bild der Hilflosigkeit und Zusammen- hanglosigkeit boten, wie es niemals zuvor im deutschen Reichs tag geschaut worden ist. Hier und da machte der einzelne einen mehr oder weniger schneidigen Vorstoß, ohne daß man zu begreifen vermochte, was damit weiter be zweckt werben sollte. Kein das Ganze überschauender Feldherr leitete die Schlacht, sondern jeder Einzelführer schlug sich hier und dort herum, wie es ihm gerade der Augenblick eingab. Ein erfolgreicher Verkehr mit dem Parla ment aber setzt voraus genaues Vertrautsein mit den parla mentarischen Zeit- und Streitfragen, parlamentarische Terrain- kenntniß und Uebung im parlamentarischen Auftreten und im Verkehr mit de» Parteien. Fürst Bismarck vereinigte alle diese Eigenschaften in sich, er war im Laufe seines 28jäbrigen Ministeriums immer mehr in diese Dinge und Verhältnisse hineingewachsen. Dazu kam ibm das Hobe Maß seiner persönlichen Autorität zu statten. Freilich blieb er selbst in den letzten Jahren dem Parlament fern; aber die untergebenen Resfortchefs befanden sich bei ihm in fester Hand. Im Parlament blieb man sich stets bewußt, einer in sich zusammenhängenden und geschlossenen Regierung mit einer bestimmten Politik und Taktik gegenüber zu stehen. Herr v. Boetticher hat mit der Länge der Zeit sich diejenigen äußeren Eigenschaften im parlamentarischen Verkehr erworben, die fast allen seinen College» abgehen. Er war aber in der letzten Zeit als Sprechnunister mehr und Die Erbin von Äbbot-Cajtte. 10) Original-Roman von F. Kltnck-LütetSburg. Nachdruck »erdet«». (Fortsetzung.) Harry Ruthbert gebrauchte mehr als einen Tag, um sich von dem Schlage, welcher ihn betroffen, zu erholen. Er sah zu seinem Schrecken ein, daß ein Gefühl seiner sich bemächtigt, von dessen Größe und Allgewalt er erst in dem Augenblick eine Ahnung erhielt, als er erkannt hatte, daß eS nicht er widert wurde. Er war überzeugt, daß es ihm nie gelingen werde, sich wieder von demselben frei zu machen, aber zu stolz um ferner nur noch die Möglichkeit einer aussichtsvolleren Zukunft zu erwägen. Das Glück war ihm nicht hold gesinnt, er wußte es aus seinem früheren Leben, und bereute beinahe, daß er vermessen genug gewesen war, feine Hand darnach auszustrecken. Seine bescheidenen Wünsche und ZukunftSpläne, die er auf ein Leben voll Mühe und Arbeit emporgerichtet, würden durch eine Verbindung mit einer geliebten Frau gekrönt Worden sein und eine vollkommene Weihe empfangen haben. ES sollte nicht sein. Die Enttäuschung, welche Lord Ruthbert erfahren, übte eine tiefe und nachhaltige Wirkung auf ihn aus, obgleich er es sich selbst nicht gestehen wollte. Es lastete wir ein Druck auf ihm, dessen er sich nur schwer erwehren konnte und der ihm die Arbeitsfreudigkeit zu rauben drohte. Alle Vrrnunft- gründe, der festeste Wille reichten nicht auS, ihm den ver lorenen Gleichmuth zurückzuaeben. Er konnte das süße Ge sicht nicht vergessen, und seine Gedanken beschäftigten sich unablässig mit ibr, deren Bild lebendig vor seiner Seele stand- Dennoch war nicht ein einziges Mal die Versuchung an ihn herangetreten, wieder nach Violel-Valley zu gehen. Erst lange nachdem er die Geliebte zum letzten Male gesehen, war ibm klar geworden, daß unüberwindliche Hindernisse, di» wohl gar in einer persönlichen Abneigung bestanden, zwischen ihr und ihm sich aufgethürmt. Ihr Benehmen ihm aegenübrr, ihre Worte hatten darauf bingedrutet, daß sie sehr ernst gesprochen, daß sie einer Unmöglichkeit, ihm nur weiter an- zuhörea, sich gegenüber gesehen. Er mußte ihr noch die feinfühlende Art danken, m>t welcher sie ihn gehindert, seine Niederlage zu einer ganz offenen zu machen. Den Rest des Sommers war Lord Ruthbert allein ge blieben, Will Gullbam's Besuch hatte einstweilen den Beschluß gebildet. Die Einsamkeit war ihm lieb; er dachte, daß es ibm in ihr am ehesten gelingen werde, das verlorene Gleich gewicht wieder herzustellen, ohne daß seine Hoffnung sich ver wirklichte. So war der Herbst gekommen. Er schloß sich mit ver heerenden Stürmen unmittelbar an den Sommer an. Noch grün wurde das Laub von den Bäumen gerissen, und was der Wind nicht gepflückt, blieb naß und schlaff in dem Octobernebel hängen, bis es langsam auf die Erde herniever- ftatterte, um an derselben Stelle zu vermodern. An einem der letzten Octvbrrtage war es auch, als er einen Brief von Will Gullham erhielt. Als er denselben geöffnet, fiel ihm zuerst «ine Einlage in die Hände. Erblassend las er die Adreffe: „An Miß Lilian Smith in Violet-Valley." Gullham bat Lord Ruthbert, das Billet an seine Adresse zu befördern und zwar, wenn irgend möglich, persönlich. Außerdem enthielt der Brief noch «inen Dank für die Gastfreundschaft, welche er auf Ruthbert Hall genossen, und Mittheilungen aus seinem Leben. Gullham hatte feine Ab sicht erreicht, er war bereits in die Armee eingrtrelen und glaubte sich dem Ziel seiner ehrgeizigen Pläne nahe. Harry Ruthbert'S Blick» waren unablässig auf das zier liche Billet gerichtet, welches Lilian's Adreffe trug. Sein» Gedanken verwirrten sich förmlich. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wir um einen Nebel zu verscheuchen, der ihn klar zu denken hinderte. Was war dqS? Was hatte Will Gullham an Lilian Smith zu schreiben? WaS wußte er von ihr? Wie kam er dazu, ihm diesen Brief zur Besorgung zu übergeben? DaS waren Fragen, auf welche er auch bei dem an strengendsten Nachdenken keine Antwort fand. Will Gullham batte ihm mit keiner Silbe verrathen, daß er Lilian Smith kenne, sondern im Gegrntheil, durch Fragen nach ihr und ihrer Umgebung den Schein erweckt, als erblicke er in ihr ein« durchaus Fremde. Und dock! Blitzähnlich durchzuckte ihn «in Gedanke. Er erinnerte sich plötzlich jenes NackmittagS, an welchem er Will Gullham nach Violet-Valley geführt. Tr vergegenwärtigte sich den Augenblick, in welchem er mit ihm am Waldrand ge standen hatte und LiUan Smith di» Lichtung de- Laubgange« pasfirte. Nie zunop war ihm ein ähnlicher Gedanke gekommen, Will Gullham und Lilian Smith ein Zusammenhang tr nur dünkte es ilm eine Unmöglichkeit, zu ergründen, well Art dieser fein könne. Auch Lilian kannte ihn ohne Zwei aber woher — wann konnte sie ihm vorher begegnet sei Die Angelegenheit regte ihn ganz ungeheuer auf, und bemühte sich vergebens, sich über dieselbe zu beruhigen. Dc legte er sich die Frage vor, ob er in per Thal selbst des i gewordenen Auftrages sich entledigen sollte. Die ganze Sache war ihm aus mehr als einem Gru> unangenehm, und er wünschte aufrichtig, Will Gullham hc nicht geschrieben. Er war seither einer Wiederbegegnung i Lilian aus dem Wege gegangen und hatte die Absicht geha eS auch ferner zu thun, wenigstens so lange, bis das wi Blut ruhiger geworden war. Wenn er doch Bob nach Vio> Valley schickte! Doch das ging auch nicht, er konnte dem i direct gewordenen Auftrag nicht aus dem Wege gehen, mußte selbst zu Lilian und sie fragen, welche Bewandtniß mit Will Gullham habe. Wenn sie es wußte, würde sie keinen Augenblick besinnen, eS ihm zu sagen. Indem er darüber nachdachte, war er doch wieder zu Vermuthung gelangt, daß Lilian von Will Gullham. ti des BilletS, vielleicht nichts wisse. Ihr Anblick hatte ohne Zweifel erschreckt. Warum? Thor, der er gewe war! Sollte nicht auch ihm eine Aebnlichkeit mit M. Connor ausgefallen sein? Er fragte weiter und weiter, der Kops ihm förmlich brannte, er wußte nicht mehr c noch ein, und noch viel weniger, was er zu dem Gan sagen sollte. Bei einem besonders gefühlvollen Menschen hätte es ka adU'" könne»' wenn ein« große Achnlichkeit mit rin Unglücklichen Mädchen, das ihm persönlich zu einer trauril Zen nahe getreten war, ihn ungewöhnlich aufgeregt ha wenn auch e,n Erschrecken, wie er eS gezeigt, sich schwer klaren ließ. Aber Will Gullham war ,hm keineswegs besonders gefühlvoll bekannt, und daneben durfte Ha Ruthbert keinen Augenblick v-raeffen, daß er Marv Cvn m einer höchst abfälligen Weise beurtheilt hatte. eS ma den Eindruck, als ob er von der Schuld derselbrn vollkonn überzeugt gewesen sei. Vielleicht war ja dies auch ar Wenn W.Ü Gullham, durch den Tod des Grafen Saunt nur den geringsten Vortheil hätte haben können so w! Harry Ruthb.rt vielleicht der Erst, gewesen ^ auf ihn den furchtbaren Verdacht geworfen hätte. Will Gullham hatte ihm gegenüber zwar eines Testamentes Er wähnung gethan. das ihn zum Universalerben batte einsetzen sollen, aber dasselbe war ohne Zweifel nur in seiner Ein bildung gewesen, denn er ging so leer aus, daß Harry Ruth- bert sogar etwas wie Mitleid darüber empfunden hatte. So war er bis zur Stunde achtlos au jenen Vorgängen vorübergegangen, die doch gewiß wohl zu beachten gewesen sein würden, wenn nicht Mary Connor durch ihre vor Gericht gemachten Aussagen selbst jeden Verdacht von Anderen ab- gelenkt hätte. Heute aber drängten sie sich in einer Weise an ihn beran, die ihn erschrecken ließ und die dazu diente, seine eigenen Gefühle und Empfindungen vollkommen in den Hintergrund zu drängen. Harry Ruthbert wurde sich nicht ganz klar, was er dachte, er kam auch nicht dazu, irgend einen bestimmten Schluß zu ziehen. Ihn beschäftigten offene Fragen, welche vielleicht für immer unbeantwortet bteiben würden. Es war ein Mord an dem Grafen Saunders verübt worden. Wer batte es gethan? Eine Mary Connor nicht. War Will Gullham es gewesen? Nein — auch er nicht. Es wäre ein Unrecht, ein solches Maß von Verworfenheit aus einen Menschen zu häufen, auch wenn man die Unverdorbenheit seines Charakters anzweifeln wollte. Das Gehennniß, welches den Tod des Grafen saunders umgab, würde nie mehr ergründet werden, die dabei Betheiligten waren todt. Vielleicht batte es sich um eine Unvorsichtigkeit gehandelt, wie man hier und da milda anzunehmen geneigt gewesen war. In der Nach,nittagsstunde befand sich Lord Ruthbert zu Fuß aus dem Wege nach Violet-Valley. Es war ein stürmischer Tag. Brausend fuhr der Wind durch die Kronen der Bäume "ud zerbrach die dürren Zweige und Aeste, sie dem einsamen Wanderer vor die Füße werfend. Mehr als einmal sah Lord Ruthbert durch einen Baumstamm seine Schritte gehemmt, der Sturm batte arge Verwüstungen in den letzten Tagen angrrichtet. Aber der Sturm machte ihm nichts aus. Die Luft war rein und frisch, kein Modergeruch feuchter Herbst tage legt sich ihm beengend auf die Brust nnd erschwerte das Athmen, wie es in den letzten Wochen der Fall gewesen war. So hatte er die Umzäunung der Cottage erreicht. Mary Connor stand am Fenster neben der Verandathür, als der Klang der Glocke sie au« ihrem Sinnen aufschreckte. T»e erkannte sogleich Lord Ruthbert und fühlte sich von einem ohnmächtigen Gefühl ergriffen. Gerade heute hatte fis
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