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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.07.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-07-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950723027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895072302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895072302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-07
- Tag1895-07-23
- Monat1895-07
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Mit ihm ist ein Mann dahingegangen, der an der politischen und geistigen Umgestaltung Deutschlands in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hervorragenden Antheil genommen hat und auf einem der wichtigsten Gebiete der staatlichen Reform der bahnbrechende Führer gewesen ist. Der Entschlafene war der geistige Urheber der preußischen Selbstverwaltung, wie sie beute zur Befriedigung der Bevölkerung besteht. Ein Kenner des öffentlichen Rechts Englands, dem in diesem Lande selbst kein Zweiter ebenbürtig zur Seite stand, hat er das dort Erforschte für den HeimathSstaat nutzbar gemacht, nicht als Schablone, sondern in praktischer Anpassung an die hier gegebenen Verhältnisse, wie denn die Verschmelzung von Wissenschaft und Leben ein Merkmal deS gesammten WrrkenS Gneist'S gewesen ist. Wir saben ihn diese gerade in Deutschland nicht häufige Fähigkeit als Schriftsteller und Gesetzgeber auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens bethätigen: Bei der Justizgesetzgebung des Reichs, im preußischen Finanzwesen, in kirchenpolitischen und in Wehrfragen. Auch den socialen Aufgaben seiner Zeit stand er nicht fremd gegenüber. Als Präsident des CentralvereinS für das Wohl der arbeitenden Elasten und als Mitbegründer des Vereins für Socialpolitik hat er an den socialen Bestrebungen tbatkräftig mitgearbeitet. Noch im höchsten Alter hat er wohlthätigen Einfluß auf die Gesetz gebung geübt. Sv ist die Uebertragung der letztinstanzlichen Ent scheidung über Steuerbeschwerden in Preußen an das Ober verwaltungsgericht (statt an einen besonderen Steuergerichtshof, wie ihn die Regierung vorgesehen batte) auf einen glänzend be gründeten Antrag Gneist's zurückzuführen. Noch in frischer Erinne rung stehen seine lichtvollen Abhandlungen über dieZed litz'sche Schulvorlage, die dieses von der preußischen Regierung ansgeübte Attentat auf die Autorität deS Staats vom recht lichen Standpuncte beleuchtete. Der politische Leitstern deS Verstorbenen war ein national schöpferischer Liberalismus; auch in der ersten Hälfte der sechSziger Jahre, die ihn in den vordersten Reihen einer energischen Opposition sahen,battea entschieden festgehaltene verfassungsrechtliche Ueberzeugungen ibm nickt den Blick für die materiellen Voraussetzungen einer Lösung der deutschen Frage zu trüben vermocht. Diese politische Grundauffassung mußte Gneist der national liberalen Partei alsbald nach ihrer Begründung zuführen. Sie verliert i» ihm einen ihrer hervorragendsten Mitarbeiter, einen treuen und weisen Berather. Er hat ihr als Parla mentarier im preußischen Abgeordnetenbause, in das der Ver storbene schon 1858 cingetreten war, bis 1893 und im Reichs tage von 1867—1884 angehört. Der Allgemeine deutsche Handwerkerbund ist be kanntlich mit der Art, wie die Commissare des Reiches und Preußens in Oesterreich ihre Untersuchungen über dir Wirkungen der dort durchgeführten Zwangsorgantsatton -es Handwerks geführt haben, unzufrieden. Der Bund hatte verlangt, daß an der Enquete „vor Allem bewährte Kenner und Vertrauensmänner des Handwerks theilzunehmen hätten", und will nun, da diese Forderung nickt erfüllt worden ist. auf eigene Faust eine Enquete bei den österreichischen Genossenschaften und sonstigen Handwerker-Bereinigungen veranstalten. Auf diese Absicht bezieht sich augenscheinlich eine Ausführung der „Verl. Polit. Nachr." in der es heißt: „Die bezeichnet-» Beamten sind erst kürzlich von ihrer sehr an- strengenden Studienreise zurückgekommen und waren sicher noch nicht im Stande, die zahlreichen, von ihnen gemachten Wahr nehmungen und das reiche ttiatsüchliche Material, das zu sammeln sie in der Lag» waren, zu einem umfassenden Gesammberichte zu ver arbeiten. Sicher ist aber, dag die Studienreise nicht, wie vielfach behauptet wurde, überflüssig war und Laß ma» sich nicht mit dem Studium der wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die öster reichischen Handwerkerverhältnisse hätte begnügen könne». Denn diese Veröffentlichungen liefern, wie die gemachten Wahrnehmungen ergeben haben, auch nicht entfernt ein vollständiges Bild der thatsächlichen Verhältnisse, sondern sind überwiegend auf einem sehr lüctenhasleu Material aufgebaut, das, selbst wenn es im Einzelne» überall zuverlässig ist, schon aus diesem Grunde ein sicheres Urtheil nickt gestattet. Es ist vielfach noch neues und für die Beurtheitnng wichtiges Material gewonnen worden, dessen Verarbeitung auch für die Ordnung unserer Handwcrkergesetzgebung von besonderem Interesse ist. Nicht wenig hat zu diesem günstigen Ergebniß der Studien- reise das bereitwillige Entgegenkommen der österreichischen Ver waltungsbeamten beigetragen. Bei durchschnittlich gründlicher volks- wirthschaftlicher Durchbildung haben auch die nicht speciell mit den Gewerbeangrlegenheiten betraute» höheren Beamten überall nicht nur ein reges Interesse, sondern auch eingehende Kenntnisse und weitgehendes Verständniß mit Bezug auf die Verhältnisse des Klein gewerbes bekundet. Besonders nützliche Informationen sind aber von denjenigen höheren, speciell mit der Bearbeitung der gewerblichen An gelegenheiten betrauten Beamten erlangt worden, welche jeder Bezirks- hauptmannschaft, also de» unseren Landrathsämtern vergleichbaren, wenn auch zumeist mit etwas größeren Bezirken betrauten Verwal tungsstellen beigeordnet sind, denn diese sind durchweg mit den Gewerbefragen und den in Betracht kommenden thaljächlichrn Ber- hältnissen bis in das Einzelne genau vertraut." Das heißt mit anderen Worten: Wir bedürfen keiner Privat-Enquete, die nichts zu Tatze bringen könnte, was die Eomnlission nicht bereits in Erfahrung gebracht bat. Sollte diese Zurückweisung nichts fruchten, so würde jeden falls gar bald eine weniger höfliche erfolgen, denn keine Regierung kann sich Material, das durch eine Privat-Enquete kerbeigeschafft ist, als Grundlage für ein gesetzgeberisches Vorgehen aufdrängen lassen. Wie energisch würde der Bund dagegen protesliren, wenn die Gegner von Zwangsinnung und Befähigungsnachweis eine Enquete veranstalten und von den gesetzgebenden Factoren verlangen wollten, daß die Resultate dieser Enquete als beweiskräftiges Material erachtet würden! In drei Kronländern Oesterreich» berührt sich das Deutschthum mit dem slowenischen Bolksstamme: in Steiermark, Kärnten und Krain. In Steiermark haben in dem Jahrzehnt von 1880—l890 die Deutschen um 7 Proc., die Slowenen dagegen nur um 3 Procent zugenommen, so daß heute in dem schönen Kronlande ungefähr 850 000 Deutsche und 100 000 Slowenen leben. Durch Errichtung zahl reicher deutscher Schulen haben die Deutschen die Sprach grenze gut gesichert, so daß nur in wenigen Grenz dörfern ein Rückgang und nur in einem Orte (in St. Primon ob Hohenmauthen) ein völliges Verschwinden des deutschen Eleinentes stattgefnnden hat. In vielen Orten wurde dagegen ein Zurlickweichen der Slowenen beobachtet. So lebten z. B. in Brunndorf bei Marburg im Jahre 1880 1045 Deulsche und 263 Slowenen, 1890 aber 1360 Deutsche und nur 213 Slowenen, in Pobertsch bei Marburg 1880 574 Deutsche und 178 Slowenen. 1890 dagegen 862 Deutsche und 85 Slowenen, in Gegenthal 1880 507 Deutsche und 123 Slowenen, 1890 dagegen 595 Deutsche und 54 Slowenen, in Saldenhosen 1880 498 Deutsche und 1179 Slowenen, 1890 dagegen 787 Deutsche und 872 Slowenen ,c. Die meisten deutschen Sprachinseln südlich der Drau, besonders Marburg, Cilli, Windisch-Gratz, Windisch-Feistritz, Rann und Tiiffer, haben sich, Dank der langjährigen Arbeit des Wiener Schulvereins, gut erhalten und werden auch in Zukunft meist im Stande sein, den deutschen Eharakter zu bewahren. Nur in Cilli werden die Deutschen durch die Errichtung eines slowenischen Gymnasiums arg geschädigt werden und in Zukunst dem Slowenenthum langsam unterliegen. In Kärnten hat die letzte Volkszählung eine Abnabme der Slowenen und ein beachtenswerthes Wacküthum der Deutschen ergeben; 254 632 Deulsche stehen beute 101 030 Slowenen gegenüber. Wer von den Slowenen ini südlichen Kärnten sich wirthschaftlick besser stellen will, muß die deutsche Sprache erlernen. Daher kommt es, daß an der Sprachgrenze, z. B. am Wörther See, das Deutsche meist Fortschritte «nackt und eine Anzahl Ortschaften allmählich zweisprachig und zuletzt überwiegend deutsch werden. Die Bemühungen der aus Krain eingewanderten slowenischen Agitatoren und der slowenischen Geistlichkeit, die deutsche Sprache zurückzudrängen, haben bis jetzt nur geringen Erfolg gehabt. In Krain ist das Tentschthuin nur 28 000 Köpfe stark, während die Slowenen 464 000 Seelen zählen. In« Jahre 1880 lebten in diesen« Kronlande »och 30 000 Deutsche. Die starke Auswanderung aus der deutschen Sprach insel Gottschee hat aber eine Verminderung unserer Stammes- genossen herbciaesührl; in vielen kleinen Orten hat inan auch die deutschen Minderheiten einfach den Slowenen zugezählt. Selbst in Laibach ist bei vielen Hunderte» von Deutschen als Umgangssprache das Slowenische angegeben worden. Fast alle 17 l Ortschaften der Gottscheer Sprachinsel sind heute noch so deutsch wie im Jabre 1880. Nur in 4 Dörfern des Gerichtsbezirles Tschernembl (in Bistritz, Rodine, Bresvwitz und Saderz) hat ein starkes Anwachsen der Slowenen statt gesunden; in den westlichen Grenzdörfern dagegen, in Suche», Gehag, Mertainsrauth, Obergras und Mittergras, bat sich eine starte Zunahme der Deutschen ergeben. Daß das Deutsch- lhun« in Krain bei seiner Schwäche einen sehr schweren Stand hat, haben die letzten 16 Jahre zur Genüge gezeigt. Weite Verbreitung wünschen wir in Frankreich des spanischen „Diario de Barcelona" vom 14. Juli, in welcher der bekannte offene Brief des Akademikers Larisse an den deutschen Kaiser gerichtet hat, ein Brief, der unter unaufrichtigen Schmeicheleien dem Kaiser räth, Europa die Segnungen des Friedens dadurch zu gewähren, daß er Elsaß- Lothringen durch einen Act seines völlig unabhängige» kaiser lichen Willens au Frankreich zurückgebe. In dem Artikel deS in dieser Sache gewiß unbefangenen spanischen Beurtheilers ist eine Antwort des Kaisers an Herrn Larisse singirt, in der es u. A. heißt: „Um den Frieden von Europa zu gewährleisten, giebt es ein einfacheres und natürlicheres Mittel als das, welches Sie mir vor- schlagen. Findet Euch einmal darein, kein Ausnahmrvoik, kein privilegirteS Volk zu sein! Unterwerft Euch dein Rechte und den internationalen Gebräuche», welche alle übngen Völker binde» und deren Ihr Euch nur bedient, wenn es Euch paßt — und die Gefahr eines nahen Krieges würde verschwinden. Alle Nationen haben den Verlust eines Elsaß-Lothringen zu beweinen, und sie beweinen ihn im Stillen, ohne Herausforderungen, ohne Drohungen, ohne alltäglich den Bestand ihres Heeres zu vermehren, um sich auf die Revanche vorzubereiten. Sie wissen, daß der Krieg Wechselsälle hat, bald günstig, bald ungünstig, sie finden sich in ihr Schicksal, ohne die Welt mit ihren Klagen zu ersülle», ohne sich das Opfer allgemeiner Ungerechtigkeit zu nennen. — Sie rathen mir, ich solle Ihnen Elsaß-Lothringen zurückgeben, aber indein Sie mir diese» Rath geben, vergessen Sie, daß diese Provinzen nicht der Krone Preußen gehören, sondern der ganzen Nation, und obwohl nieine Macht in Deutschland größer ist als die des Präsidenten in Frank reich, so sieht es mir nicht zu. ein Territorium abzutrete», das der Nation gehört, das mit dem Blute des deutschen Volkes gewonnen würde, und welches das deutsche Volk nur unter de « Bedingungen abtreten wird, unter denen es das französische Volk abgetreten bat, d. h. nach der Niederlage aus den Schlachtfeldern. Ihr bildet Euch ein, daß nur das französische Volk Vaterlandsliebe, Gefühl seiner Würde und Festhalten a» de:» siegreich Errungenen hat, und darin irrt Ihr Euch eben vollständig. Was diesen Punct betrifft, ist das deutsche Volk, und ich glaube jedes Volk der Erde, ebenso »»nachgiebig als Ihr. Wenn ick uiiteriiühme, was Sie mir rathen, ich glaube, ich setzte mich b-i Gefahr aus, die Krone zu verlieren. Jin Kriege von 1870 wurde eine Partie gespielt, in der jeder der Spieler ein Rheinuser riskirie, und es ist billig, daß der, dem das Glück entgegen Ivar, den Einsal.« bezahle, da er ihn ja auch beansprucht »nd genommen haben würde, wenn er als Sieger hervorgegangen wäre. Und auf welches Bei spiel würde ich mich berufen vor meinem Volke, um de» Act des Edelmuthes auszuführen, den Ihr von mir verlangt? Fiel cs Euch etwa jemals ei» , Artois, Flandern, Caiilbrai, die Franche- Evintö, Rvsello» und andere Provinzen znrückzugeben, die Ihr mit deinsetben Rechte besitzt, wie wir Elsaß-Lothringen? Habt Ihr Elsaß-Lothringen nicht etwa Deutschland weggenommen? War»»« waren Eure jetzt so zarten Gewissen dainals so ruhig? Gebot Euch die Ritterlichkeit nie, uns das Gewonnene wieder zurückzugebe»? Nun wohl, wir fügte» uns damals in unser hartes Schicksal und haben 250 Jahre auf den Tag der Revanche gewartet. Wartet Ihr ebenso lange, bis die Reihe a» Euch kommt — und wir werden jenes Friedens genießen, den Sie so sehr ersehnen wie^ich selbst!" Leider ist nicht daran zu denken, daß diese Strafpredigt in Frankreich die Wirkung finden wird, die der Verfasser sich von il>r verspricht, obwohl man nicht nnr in Spanien, sondern überall i» der Welt, auch in — Rußland genau so denkt wie der spanische Vertreter des normalen Menschenverstandes. An die Bestattung Ttambulow's haben sich widerliche S c a » d a l s c e n e n geknüpft, die auf der einen Seite die politische Reise und den politischen Anstand des bulgarischen Volkes in bedenklichem Lichte erscheinen lasten, andererseits wiederum den für die Negierung, welche gegenwärtig den «nuthig im Ausland weilenden Prinzen vertritt, tief be schämenden und mit Bcsorgniß für den weiteren Gang der Dinge in Bulgarien erfüllenden Beweis liefern, daß in Sofia nicht die Negierung, sondern die Polizei herrscht, daß sie macht, was sie will, oder was eine hinter den Coulissen etablirte Nebenregierung, der aber sehr wohl der eine oder der andere Minister des Eabinets Stoilow angehören kann, ihr vorschreibt. Die vsficiösen und die unabhängigen Berichte stimmen darin überein, daß die Polizei einschritt, als Petkow an der UeberfallSstelle eine die Verdienste Stambulow's würdigende Ansprache zu halten begonnen hatte. Während aber der bulgarische officiose Draht weiter meldet, es sei auf alarmirende Zurufe nnd Pfiffe aus der Menge hin ein wilder Lärm und eine maßlose Panik ent standen, so daß die Polizei habe eingreifen müssen, um „die Ruhe wieder herzustellen", stellt das Wiener „Fremden- blatt", das Organ des dortigen Auswärtigen Amtes, in einem den Stempel der Zuverlässigkeit tragenden Bericht die Sache so dar, daß nach dem ersten Satz der Rede Petkow's ohne jeden Anlaß 25 berittene Gendarmen von einer Seitengasse her plötzlich in die Menge ge sprengt seien, daß darauf hin erst ein wirrer Lärm sich erhoben habe, ein durchdringendes Wehegeschrei ertönt und durch die Menge ein panischer Schreck gegangen sei. Dann heißt es in dem Bericht weiter: Man wird zwischen 500 Personen so fest eingeklemmt, so daß ich Ihnen, gewissenhaft bei der Wahrheit bleibend, momenlan nicht mittheilen kann, ob geschossen wurde oder nicht. Personen aber, die ferne standen, schworen, daß sie in die Luft schießen gehört und gesehen haben. Ich meinerseits habe nur wilde Zurufe gehört: „Flieht, flieht, man schießt!" Nach allen Richtungen sprengte die Menge auseinander. Wo die anwesenden diplomatische» Vertreter gegenwärtig sind, weih ick nicht, ich sah ein zelne von ihnen sich gegen die Menge wehren, damit sie nicht erdrückt werden. Ein Stacketenzaun, der an dieser Stelle Fenrlletsn. ^ Das verlorene Paradies. Roman von Anton Freiherr von Perfall. Nachdruck verboten. (Fortsetzung.) „Ach, Wenn Sie wüßten, wie gesund ich bin! Nerven, sage ich Ihnen, wie ein Bauernmädchen!" „Um so beneidenSwerther sind Sie, Comteffe, weil um so genußfähiger. Lernen Sie nur erst dieses Zauberland kennen, des Unbewußten! Wo Alles Bedeutung gewinnt, an dem Sie jetzt achtlos vorübergehen, und Alles Bedeutung verliert, dem Sie jetzt noch welche zuschreiben. In dem jede Blume spricht, jede Wolke, der Abend, die Nacht, der Morgen! — Die Führerin dahin fehlt Ihnen nicht, sie blickt auS Ihren Augen mir entgegen — die Phantasie! Nicht wahr, Sie haben eine starke Phantasie?" Kitty mußte immer in diese sprechenden Augen sehen, obwohl ihr Leuchten geradezu Kopfschmerz verursachte, wie eine auf- und abzuckende Flamme. Auch dir transparenten, seingegliedertcn Hände, welche in ständiger Bewegung waren, fesselten sie. Und doch hätte sie viel darum gegeben, sich diesem Manne rasch entziehen zu können. „Sie irren sich wieder, Herr von MakowSky. Ich bin vollständig phantasielos. Wie ich Ihnen schon sagte, eine ziemlich gute Reiterin, weiter gar nichts." „Sie kennen sich selbst nicht, Gräfin. Warum zogen Sie sich vorhin in da« einsame Gemach zurück? Warum schlossen Sie die Augen?" Kitty machte eine unwillige Bewegung. „Wie kommen Sie dazu, mich derart zu beobachten?" Der Maler ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Das Neckt müssen Sie jedem der hier Anwesenden zu- gestehen. Weil Ihre Seele dieser schalen Umgebung ent fliehen wollte — irgend wohin! „Aus'S Pferd!" In die freie GotteSnatur hinaus! Was weiß ich! — DaS ist Phantasie! Sie wollen morgen den Eircu» besuchen. Nicht in einer langweiligen Logt, unter dem Publicum, um verbrauchte Scherze zu belachen, sondern um einen Blick zu werfen in eine bunte, fremde Welt, von der Sie sich einen besonderen Reiz erhoffen. Das ist Phantasie! Ihre Seele ist unbefriedigt von Ihrer jetzigen Atmosphäre und sucht sehnsüchtig nach einer andern, nach Unbekanntem! „Sie sind wirklich unheimlich, Herr von MakowSky", sagte Kitty in gezwungen scherzendem Tone. Im Grunde ge nommen war es ihr Ernst mit dieser Bemerkung. „Zürnen Sie mir, wenn ich Sie auf die Ihnen allein heilsame Atmosphäre aufmerksam mache, in der Sie sich wie neu belebt fühlen werden?" „Und die wäre nach Ihrer Meinung?" fragte Kitty. „Ich sagte eS Ihnen ja eben." „Ah so, ja! Wie nannten Sie es nur? Das Zauber land — deS . . „Des Unbewußten!" „Wissen Sie keinen andern, verständlicher», Namen dafür?" „Das Zauberreich der Kunst, der Phantasie — deS (Über sinnlichen, das keine Grenzen kennt, nie auSgcnossen werden „Und wie soll ich den Weg dahin finden? In meiner Umgebung hat man ja gar keine Ahnung, wo es überhaupt liegt." „Ja, das ist allerdings wahr! Da haben Sie recht! Sie bedürfen eines Führers . . ." „WaS malen Sie denn eigentlich?" fragte jetzt Kitty, bei den letzten Worten des MalerS sich rasch erhebend. Die Musik war verstummt, der Tanz beendet. Einzelne Paare betraten, um sich abzukühlen, den Raum. Kitty spähte nach Georg und dem Vater, nach Hülfe vor dem entsetzlichen Mann, der ihr ganzes Innere durchschaute nnd aufwuhlte. „Haben Sie wirklich noch nicht von dem verrückten MakowSky gehört?" fragte der Maler, unbekümmert um seine Umgebung. „Offen gesagt, nein! Bis eben zuvor — Baron Prech- ting . . ." sie stockte. „Von ihm sprach, von dem verrückten MakowSky" . . . Kitty wurde feuerrotb. Sie brachte diesem Manne gegen über, der Alles durchschaute, nicht die einfachste Nothlüge zu Stande. „Oh, sagen Sie es nur, Comteffe! Der Baron hat auch ganz recht von seinem Standpuncte aus. Denken Sie sich einmal eine bunte Wiese, bunter, als Sie ie eine erblickt. Die Blumen, die in unserm Nebellande nur kümmerlich sich durchringen durch das Gras und bei diesem Kampfe «bren ganzen Farbenreichtbum einbüßen, in der vollen Pracht einer glücklichen Zone. Blaue, purpurrotbe, weiße Sterne, violett» sammtne Glocken auf zierlichen Stengeln schwantend, sich kräftig abbebend vom saftigen Grün. Die Sonne geht aus, über dem flachen Horizont, drei singende Mädchen im duftigen Florgewand, einander die Hände reichend, schreiten heran, im Glorienschein des nahenden Gestirnes. Die Blumen duften ihnen entgegen, kebren ihnen die Blüthen zu ..." „Das ist der Morgen, die Geburt des Lichtes!" erwiderte Kitty, welche da« phantastische Bild in dem glänzenden Auge, in dem sich verklärenden Antlitz des Sprechers zu erblicken glaubte, selbstzufrieden. „Sehen Sie! Sehen Sie!" rief MakowSky so laut, daß einige Vorübergehende erstaunt sich uinwandten und Kitty leise, warnend, seine Schulter berührte. „DaS ist aber einfach verrückt für diesen Herrn von Prechting, oder . . . Waren Sie schon in einem Bergwerk?" Kitty zuckte zusammen, die Frage erschreckte sie und regte aber zugleich die heftigste Neugierde. „Gewiß! Papa besitzt selbst eines in Vals", erwiderte sie heftig. „Ach ja, ich vergaß! Nun dann! ES ist Dämmerung, Nacht beinahe. Alle Formen lösen sich. Die dampfenden alden, die gespenstigen Schlote und langgestreckten Gebäude, a und dort ein Lichtblitz, die Piirpnrglutb einer Effe. Auf einsamem Wege ein Paar. Ein Arbeiter hält sein Mädchen dicht umschlungen, das intensive Licht der Grubenlampe am Gürtel wirft seinen Schein über ibr seliges Gesicht, das seine tief beschattet. Wie würden Sie dieses Bild nennen, Comteffe?" Die Stimme deS alten Grafen erlöste Kittv von der Antwort, welche dieser unheimliche Mensch, daS fühlte Kitty, sich erzwungen hätte. „Ja, wo steckst Du denn nur immer, Kitty?" — Der alte Herr war sichtlich ärgerlich über daS Verhalten seiner Tochter. Er beachtete kaum die Verbeugung des jungen Mannes. Kitty fühlte sich verpflichtet, ihn darüber aufzuklären, wen er vor sich habe. „Herr MakowSky!" stellte sie den jungen Mann vor. „Eine unserer ersten künstlerischen Notabilitäten." „DaS nicht, Comteffe. Ihr Herr Papa würde sich gewiß sehr wundern, in diesem Falle meinen Namen noch nicht ge hört zu haben", bemerkte MakowSky. „Na, deshalb, weil ich Ihren Namen noch nicht kenne, können Sie getrost eine künstlerische Notabilität sein. Ich bin, offen gesagt, auf diesem Gebiete gar nicht au kalt. Ich weiß nicht — ich komme wirklich nicht dazu — und dann fehlt mir auch wirklich jegliches Verständniß. Kitty schämte sich über die Offenheit des Vaters, die ihr vor einer Stunde gewiß nicht ausgefallen wäre. „Um so mehr muß ich das hohe Interesse und den feinen Sinn bei Ihrem Fräulein Tochter bewundern!" meinte MakowSky. „Bei der!" sagte der Graf, lachend auf Kitty zeigend, „feinen Sinn sür die Kunst? Na, das ist mir ja das Aller neueste! Wenn ein wildes Pferd oder eine neue Flinte mit Ihrer Kunst was zu thun hat, dann gebe ich es zu." Kitty war mit Gluth übergossen. Noch nie in ihrem Leben fühlte sic^sich so beschämt. „Du gehst denn doch zu weit in Deinem Scherz, Papa", erwiderte sie. „Wenn ich auch in dieser Beziehung viel versäumt habe, was ja am Ende nicht meine, sondern die Schuld meiner Erzieher wäre — so bat es mir doch nie an warmer Emvsindung gefehlt für alles Gute und Schöne. Herr MakowSky muß mich geradezu für ungebildet halten, Deiner Schilderung nach . . ." „Beruhigen Sir sich, Comteffe, daS ist nicht mehr möglich", cutgegnete galant der Maler. Kitty warf ihm einen dankerfüllten Blick zu. „Für ungebildet? Weil Du nichts von der Kunst verstehst ? Das wäre nickt übel! Nicht wahr, Herr MakowSky, das glauben Sie ja selbst nicht. Aber sehen Sie, so ist meine Tochter! Jede Woche für etwas Anderes begeistert! Einmal ist es die Jagd, dann sind es Pferde, auch die Kohlengrube war schon an der Reibe. Morgen kommt der Circus daran und dann wahrscheinlich — Ihr Atelier." Graf Seefeld lachte in seiner gewohnten lärmenden Weise. Kitty standen die Hellen Thränen in den Augen. „Das finde ick ganz begreiflich, Herr Graf, so gebt eS allen Phantasiemenschcn, und ich würde eS mir zur größten Ehre schätze», wenn mein Atelier Ihrem Fräulein Tochter auf dieser wechselvollen Reise vielleicht einen kurzen Ruhe- punct bieten darf", entgegncte MakowSky, im Begriffe, sich zu empfeblen. „Nach all' den müßigen Spielereien? Dazu dürfte Ihnen Ihr Atelier doch zu gut sein", sagte Kitty bitter. „Im Gcgeiitheil, Comteffe, ich bitte Sie sogar nach all' den durchaus nicht müßigen Spielereien. Eö wirkt dann besser. Ja, Sie müssen kommen! Sir sind mir noch den Namen schuldig unter dem Bilde." Sie reichte ihm die Hand. Er hielt sie länger al« nöthig in der seinen.
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