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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.07.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-07-27
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950727022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895072702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895072702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-07
- Tag1895-07-27
- Monat1895-07
- Jahr1895
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Dies darf wohl zunächst als Beleg dafür gelten, daß die Veranschlagung des Reichshanshalts im Großen und Ganzen genau den tatsächlich ein getretenen Verhältnissen entsprach, soweit es sich eben um diejenigen Ziffern handelt, in denen der eigentliche Ber- waltungsbedarf und die eigenen Einnahmen des Reiches sich darstellen. Ja man kann noch einen Schritt weitergehen und die Frage auswcrfen, ob noch die nöthige Vorsicht bei der Veranschlagung der Einnahmen geübt ist, wenn, wie nun schon zum dritten Male, der Reichstag sich unter dem Ein flüsse des Eugen Nichter'schen Einnahme-Optimismus bewegen läßt, ihrer Natur nach schwankende Einnahmen in der Regel so hoch festzusetzen, als sie möglicherweise sich ge stalten können. Dies gilt insbesondere vom Ueberschuß der Postverwaltung und dem Ertrag der Zuckersteuer. Elfterer beziffert sich im verflossenen Jahre auf 29,9 Millionen und steht fast ebenso hoch (29,77) im Voranschlag für das gegen wärtige Jahr, nachdem es Herrn Richter gelungen war, eine Mehrheit zu bewegen, den von der Finanzverwaltung ver anschlagten Ueberschuß um 1,83 Millionen zu erhöhen. Die Zuckersteuer hat 1894/95 rund 80,4Millionen erbracht, siewar für 1895/96 auf 77 veranschlagt; wiederum wußte Herr Richter eine Mehrheit zu bewegen, den Voranschlag auf 80 zu erhöhen. Dabei war natürlich immer auf die erfreulichenErgebnisse der unmittel bar vorhergegangenen Jahre verwiesen. Wie bedenklich es aber ist, den Optimismus an solchen Durchschnitts-Ermittelungen künstlich zu nähren, lehrt ein Blick auf den Titel „Bank wesen". Auch hier war für 1894/95 mechanisch der Durch schnitt der Jahre 1891 biö 1893 zu Grunde gelegt. Dieser Durchschnitt betrug über 7 Millionen, und eine ebenso hohe Summe steht denn auch im Etat des gegenwärtigen Rech nungsjahres. Aber die Wirklichkeit des vorigen Jahres hat alle auf den Durchschnitt gegründeten Erwartungen zu Schanden gemacht. Der Antheil des Reichs am Reingewinn der Reichsbank ist auf 3,8 Millionen heruntergcgangen. Auch der Ueberschuß der ReichSeisenbahn-Verwaltung be trägt 582 000 weniger, als er veranschlagt war. Erwägt man nun, daß die übrigen eigenen Einnahmen des Reiches von Jahr zu Jahr näher nach der höchstmöglichen Grenze ihrer Ertragsfähigkeit veranschlagt sind, so kann man sich der Besorgniß nicht erwehren, daß irgend eine ernstere Ealamität national- oder wcltwirthschaftlichen Charakters unsere Reichssinanrwirthschaft in die größte Verlegenheit stürzen könnte. Schon aus diesem Grunde vermögen wir uns nicht zu dem Hochgefühl emporzuschwingen, mit welchem Herr Richter heute den Ueberschuß von t Procent des Netto-Etats als glänzende Rechtfertigung seines und seiner Freunde steuerpolitischen Verhaltens betrachtet. Wir sind aber auch andererseits nicht bösartig genug, in jene „stürmische Heiterkeit" zu verfallen, mit welcher auf den freisinnigen Bänken vor drei Monaten die Mittheilung der Regierung entgegengenommen wurde, daß von den bewilligten 156 Millionen Baukosten des Norv- ostseecanals etwa i/, bis 2/4 Procent erspart sein würden. — Etwas anders hat sich das Bild gestaltet, soweit eS daö finanzielle Verhältniß zwischen Reich und Einzel st aaten betrifft. Tatsächlich haben die Einzelstaaten nicht 33, sondern nur etwa 5 Millionen Zuschuß zu de» Reichsausgaben für 1894/95 zu leisten gehabt. Aber daß von den 33 Millionen etwa 15 nicht zur Hebung kommen würden, wußte man schon zu Anfang des Rechnungsjahres; denn auf diesen Betrag war die Mehr-Einnahme aus der Börsenstcuer geschätzt, deren höhere Sätze bereits am 1. Mai 1894 in Kraft traten. Immerhin war noch veranschlagt, daß die Einzel staaten mit 18 Millionen für Reichszwecke belastet sein würden. Doch baden Zolle und Tabaksteuer den Voranschlag um 13 Millionen Übertrossen, so daß die Be lastungsziffer auf 5 Millionen berabsinkt. (Thatsächlich 15, worunter aber etwa 10 Millionen sogenannte Aequivalente.) Nun vergegenwärtige man sich, daß die Einzelstaaten im Jahre 1892/93 vom Reiche erhalten baden nahezu 4t Millionen, daß sie in den folgenden beiden Jahren aber an das Reick zu zahlen hatten 29 und 5 Millionen, daß sie nach dem Vor anschlag 1895/96 an das Reich zu zahlen haben 10 Millionen und daß auf absehbare Zeiten an eine Herstellung des Gleich gewichts zwischen den Matricularbeiträgen und den Ueber- weisungen nicht zu denken ist. Im Gegentheil werden die Ansprüche des Reiches an die Einzelstaaten bis zu Ende deS Jahrzehnts noch erheblich wachsen. Und da bringt es die „Freisinnige Zeitung" fertig, darüber zu triumphiren, daß auch in der letzten Reichstagssession die Finanzreformpläne der Regierung zum Scheitern gebracht worden sind! Der von dem belgische» Uiiterrichtsminister Schollaert den Kammern unterbreitete Gesetzentwurf über die Elementarschule erregt in allen liberalen Kreisen des Landes die heftigste Erbitterung. Die Brüsseler Demonstra tionen der letzten Tage waren von manchen Ausschreitungen begleitet, die sich wohl aus dem allgemeinen Unwillen gegen eine Vorlage erklären lassen, welche die Schule zum großen Theile derKirche ausliefert. Nun soll am morgigen Sonn tag eine allgemeine Kundgebung in Brüssel folgen, an der sich im öffentlichen Aufzuge alle nichtklerikalen Vertreter des Parla ments und alle nichtklerikalen Honoratioren von Stadt und Land,Liberale und Socialisten, betheiligen werden. Der Umstand, daß die belgische Schulvorlage das ganze Land, weit über die politischen und parlamentarischen Berufskreise hinaus, in Auf ruhr bringt, rechtfertigt es, daß wir die Hauptpuncte und insbesondere die von der öffentlichen Meinung Belgiens am meisten angefochtenen Stellen des Schulgesetzes hervorheben, In dem Artikel 3 heißt es: „Der Primärunterricht faßt not Hw endig den Unterricht in Religion und Moral in sich." Damit wäre, entgegen dem Geiste der belgischen Verfassung, welche die unbeschränkteste Gewissensfreiheit ver kündet, die katholische Religion zur Staatsreligiou erhoben und die bisherige confessionslose Staatsschule in eine katholische Volksschule verwandelt. In dem Artikel 3 heißt es weiter: „Die erste oder die letzte halbe Stunde des Vormittags- oder des Nachmittags-Unterrichtes ist jeden Tag dem Religions-Unterrichte zu widmen." Die allgemeine Regel erfährt jedoch folgende Einschränkung: „Die Kinder, deren Eltern ausdrücklich darum ansuchen, sind von diesem Unterrichte dispensirt." Artikel 6 d) lautet: „Ein von der Legislative zu Gunsten des Primärunterichtes jährlich votirter Credit wird sich auf die Commuualschulen, auf die vom Staate anerkannten Schulen und auf die nicht anerkannten Privatschulen vertheilen, welche die gesetzlichen Bedingungen der Anerkennung in sich tragen." In die Wirklichkeit über setzt heißt dies: Die bisherigen mit dem Oeffentlichkeitsrechte versehenen Klosterschulen und die privaten Congregations- Schulen sollen fortan den Staatsschulen gleichgestellt werden und zwei Drittel des Unterrichts-Budgets verschlingen. Im Artikel 9 lesen wir: „Die Oberaufsicht über alle diese Schulen übt der Staat; doch darf seine Ueberwachung sich nicht auf den Lehrcurs der Religion und der Moral erstrecken." Das italienische Grünbuch über die afrikanische Colonialpolitik deö Königreichs verfolgt den Zweck, die öffentliche Meinung Italiens hinsichtlich der in der erytraischen Colonie unternommenen Aktion und der daraus sich für Gegeuwart und Zukunft ergebenden Notwendigkeiten möglichst zu beruhigen. Italien hat seine afrikanische Politik ins Werk gesetzt, um seine Weltmachtstellung zu accentuiren und bei der allgemeinen Auftkeilung des schwarzen Erd- theils nicht leer auszugehen. Die Festsetzung Englands in Egypten und die Erkenntniß, daß die Festhaltung des Errungenen England und Italien auf ein enges Zu sammengehen in den afrikanischen Dingen hinweist, hat das maritime Bündniß zwischen den Cabineten von Rom und London zu Stande gebracht, und damit einen Gegensatz der englisch-italienischen zu den französischen Afrikabestrebungen geschaffen, der als solcher nicht weniger vermerkt wird, weil er sich bis jetzt meist im Hintergründe gehalten hat. Neuerdings ist durch die Reise einer abeffhnischen Gesandtschaft nach Petersburg auch die Politik Ruß lands in jenem der italienischen Machsphäre zuzurechnenden Lande zum Gegenstände allgemeiner Beachtung geworden. In Italien scheint man von der jüngsten Evolution der abeffhnischen Beziehungen zu Rußland nicht ganz erbaut zu sein; die Reise des Obercommandirenden in Erythräa, General Baratieri, nach Rom wird ausdrücklich damit motivirt, daß der General mit der heimathlichen Regierung conferircn wolle. Den Schlüssel zu der Reise Baratieri'S dürfte man in dem gegenwärtigen Stande der abeffhnischen Angelegenheiten finden. Abeffhnicn ist ein mindestens recht zweifelhafter Freund Italiens. Dem Negus Meilelik bleiben in dem Grünbuch harte Vorwürfe nicht erspart. Er verdankt seine Stellung nur der italienischen Unterstützung, und zumDank dafür ist er an Italien zum Verräther geworden. Mit wem Menelik es hält, ist ebenfalls kein Geheimniß. Französische und russische „Forscher" sind ständige Erscheinungen in Abeffhnien geworden, und wenn auch in den Beziehungen Frankreichs und Rußlands zu Italien der Gesichtspunct formeller Correctheit bestens ge wahrt erscheint, so wird dadurch doch nichts an der Thatsache geändert, daß die afrikanischen Interessen beider Mächte mit den Interessen Italiens nicht nur nichts gemein habe», sondern den letzteren sogar direct zuwiderlansen. Zwar Rußland hält sich einst weilen noch im Hintergrund; es hat der italienischen Regierung erklärt, in Aethiopien nur religiöse Interessen zu verfolgen. Bei der ausschlaggebenden Bedeutung indessen, welche das religiöse Moment auch in politischer Beziehung sowohl in Rußland als in Abeffhnien hat» kann die Tragweite einer auf religiöser Grundlage basirenden Action in Abeffhnien kaum umfassend genug veranschlagt werden. Jedenfalls tritt die Fundirung der italienischen Position in Abeffhnien dahinter zurück, und Italien hat alle Veranlassung, dem Negus Menclik klar zu machen, daß er seine Würde und seine Stellung nur von Italiens Gnade einnimmt. Auch läßt das Grünbuch keinem Zweifel Raum, daß die italienische Politik be schlossen hat, mit dem Negus Menelik so oder so zu Ende zu kommen, und nicht gesonnen ist, die Einmischung eines Dritten in seiner Abrechnung mit dem verrätherischen Herrscher Abesshniens zu dulden. Alles in Allem spricht aus den glatten diplomatischen Redewendungen des Grünbuchs ein sehr be stimmter Entschluß. Sie bilden offenbar das Vorspiel zu einer dramatischen Entwickelung, als deren AuSgangspunct man die bevorstehenden Confercnzen deS Generals Baratieri mit der Regierung wird ansehen dürfen. Prinz Ferdinand von Bulgarien weilt, immer weiter vom Schauplatz der historischen Ereignisse entfernt, die einen anderen Fürsten keinen Augenblick außer Landes ließen, in Coburg. Dorthin haben sich auch die übrigen Mitglieder der Familie, namentlich die Prinzessin Clementine, die Mutter des Bulgarenfürste», begeben, wie es heißt, um die Feier eines Familiengedcnktages zu begehen. Aber nach Lage der Dinge äiin man sich der Vermuthuna nicht entschlagen, daß es sich um andere Dinge handelt. Man will wissen, daß die Frage der Thr onentsagung Ferdinand's gegenwärtig im Schooße der Coburgischen Familie den Gegenstand lebhaftester Er örterung bildete, und sie wird auch in Coburg als erste Nummer auf der Tagesordnung des Familienrathes stehen. Wie verlautet, ist der größte Theil der Verwandten dafür, daß Fürst Ferdinand den unter den heutigen Verhältnissen völlig fruchtlosen Kamps aufgebe, um so mehr, als zu be- orgen ist, daß Stambulow Rächer finden werde und es nicht unmöglich scheint, daß diese Rächer sich zunächst an die Person des Fürsten halten werden. Man weiß, daß die Brüder des Fürsten Ferdinand von Anfang an dem bul garischen Unternehmen keineswegs geneigt waren, daß sie es als ein abenteuerliches bezeichneten, und mehrere Jahre lang war das Verhältniß insbesondere zwischen dem Fürsten Ferdinand und seinem Bruder Philipp ein ziemlich ge- panntes. Nur dem Einflüsse der ehrgeizigen Mutter der >eiden Brüder, der Prinzessin Clementine, hat es Fürst Ferdinand zu danken, daß er den bulgarischen Thron eümehmen und jene bedeutenden Geldmittel auswenden konnte, die nament lich in den ersten Jahren der Regierung nothwendig waren, um eine Position zu befestige». Sicherem Vernehmen nach hat Prinzessin Clcmcntine von ihrem bei einem englische» Bankhause erliegenden Privatvermögc» von 22 Millionen bisher circa neun Millionen sür bulgarische Zwecke geopfert. Nunmehr scheint die Coburgische Familie diese Millionen sür verloren zu erachten und sie will zum Mindesten erreichen, daß nicht auch das Leben deS Fürsten Ferdinand oder dessen Familie gefährdet werde. Auch die Fürstin Maria Louise von Bulgarien denkt nicht anders, denn sie hat erst vor wenigen Tagen ihrem Manne in Karlsbad erklärt, daß sie, wenn er jetzt nach Sofia zurückkehre, ihm nicht folgen werde. Augenblicklich ist indessen Fürst Ferdinand, wie aus authen tischer O.uclle verlautet, nicht geneigt, auf den bul garischen Thron zu verzichten, denn er empfindet wohl selbst am deutlichsten, daß eine allsällige Abdication ihm heule auch in jenen Kreisen, i» denen er noch persönliche Sympalhieu genießt, nur schade» könnte und daß das einstimmige Unheil Europas lauten würde: Fürst Ferdinand geht, denn er fürchtet für sein Leben. Deutsches Reich. * Leipzig, 27. Juli. Mit welcher Unzenirtheit von social demokratischer Seite Behauptungen ausgestellt werden, die den Thatsachen nicht entsprechen, dafür liefert die „Leipz. BolkSztg." wieder einmal einen „classischcn" Beleg. Wir schrieben vorgestern wörtlich: „Das neue socialdemokratische Agrarproaramm, das aus dein Breslauer Parteitage durchberathen werden soll, hat eine» kleinen häuslichen Krieg im socialdeinokratischen Lager zur Folge. Angriffe, die der von der Commission zum Parteitagreserenten bestellte Redacteur der „Kaufmünn. Presse", Ouarck, gegen die Partei richtete, haben in dieser so böses Blut gemacht, daß die Absetzung Quarck'S von seinem Referentenposten gefordert wurde. Darob großer Kriegsratb, der indessen zu dem Resultate sührte, daß Quarck mit einem Rüffel davonkam und Referent für de» Parteitag bleibt. Es ist ihm jedoch aufgegeben worden, seine Stellung innerhalb der kaufmännischen Gehilfenbewcgung baldigst vor der Oeffentlichkeit zu klären." „Davon", behauptet die „Leipz. Volksztg", „ist kein Wort Fsrrilletoir. Das verlorene Paradies. Roman von Anton Freiherr von Perfalk. Nachdruck verboten. (Fortsetzung.) Kitty starrte auf das phantastische Bild. Auf der Bühne hatte sie ja Derartiges oft gesehen, aber da störte sie immer in ihrem ausgesprochenen Wirklichkeitssinn der Gedanke an die Decoratio», an den maschinellen Apparat dahinter. Aber das war Wirklichkeit! Es gab noch mitten in dem lang weiligen Leben solche Märchenwinkel! Die Grotte erweiterte sich für sie in das Unendliche. Sie ward ihr daS Symbol der Phantasiewelt, nach der dieser Mann an ihrer Seite so beiße Sehnsucht erweckt in ihrer Brust! Jetzt war ihr Alles klar! Darum fühlte sie sich stets so unbefriedigt trotz aller Genüsse deS ReichthumS. Darum konnte sie Franz nicht folgen in seine Welt, weil sie ein unstillbares Weh in sich trug nach einer ganz anderen, ihr von Anfang an zur Heimath bestimmten. Da lag sie vor ihr in mystischem Lichte, und unnennbares Glück wehte heraus. Wer sollte ihn einnehmen, den leeren Thron? Wer ihn umwerfen, den köstlichen Purpur? MakowSky las die Frage in ihren glänzenden Augen. Er nahm sie bei der Hand und führte sie die Stufen hinauf. Sie folgte ihm wie iin Traume. Makowsky riß den Purpur weg und warf ihn ihr über die Schultern. Sie wehrte sich nicht. „Nun bin ich wirklich die ver wunschene Königstochter!" sagte sie lächelnd. „Die ihren Ritter erlöst?" fragte Makowsky, auf den Marmorstufen vor ihr knieend und ihre Hand leidenschaftlich fassend. „Der sie selbst befreit von niederen Gewalten", er gänzte Kitty. „Wahrheit, Gräfin? Wollen Sie wirklich Königin sein in diesem Reiche? Meine Königin? — Oder nur Märchen?" ,Mtty! Kitty! Ja, wo steckst Du denn? Das mußt Du Dir ansehen! ES ist ja wirklich eine Schande, daß man davon gar nichts weiß als SportSman! — Verkäuflich, Herr Makowsky, die ganze Geschichte?" rief iu diesem Augen blick der Graf mit einer Stentorstimme. „Da haben Sie des Märchens Ende, den Ruf in das öde Land der Wirklichkeit", sagte Kitty, den Mantel ab treifend. „Es soll nie ein Ende nehmen, wenn Sie nur wollen. Wollen Sie, Gräfin? Wollen Sie um jeden Preis?" Er umfaßte stürmisch ihre Hüfte. Ein Taumel ergriff sie, darin vibrirte noch immer des Vaters Stimme. „Ich komme gleich!" stammelte sie, ihm antwortend, während sie mit schwachen Kräften die entfesselte Leidenschaft Makowsky's zurückwies. „Aber komm doch hierher! — Hierher!" — Es klang jetzt wie ein Hilferuf. — So schön! So märchenhaft schön! Ein glühender Kuß verschloß ihre Lippen. Sie riß sich gewaltsam los und schwankte die Marmorstufen hinab, den Purpur nachschleppend, der sich an ihr Kleid geheftet. „Sie müssen, Gräfin, um jeden Preis!" flüsterte Ma- kowsky, ihr folgend. „Für uns beide giebt es keinen Willen mehr." Kitty wandte hastig dem Eingang den Rücken, unter welchem ihr Vater erschien. „Nun, das gefällt mir wieder weniger," sagte er, sich umsehend, ohne die Erregung seines KindeS und Makowsky's zu bemerken. „Etwas theatralisch! DaS müssen Sie selbst rugeben, Herr Makowsky. Aber das gehört wohl zum Ge schäft. — Für die fahrenden Engländer und Kunstmäcene. Mir haben Sie mit dem Ridinger mehr Freude gemacht." „Das sind so kleine Privatstebhabereien von uns Künst lern", bemerkte Makowsky, sich rasch fassend. Der Graf drohte lachend mit dem Finger. „Herr Ma kowsky, ich glaube, Sie sind ein großer Schwcrenöther. Wie oft sind Sie denn schon gekniet vor diesem Throne, als er- lösungsluftiger Ritter?" Kitty wandte sich auffallend rasch. „Herr Graf", versetzte Makowsky, mit einem diesem un begreiflichen Eifer, „ich muß mich gegen eine solche Auffassung meiner Liebhabereien entschieden wehren." „Na, na, man kennt Euch Künstler schon! Aber sür wen halten Sie mich denn eigentlich, lieber Makowsky? Ich bin doch kein Sittenprediger! Da müßte ich mich gut ausnehmen!" „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Graf, daß diesen Platz, 0 lange er besteht, nur ein weibliche« Wesen eingenommen", agte Makowsky mit einem für den Grafen geradezu komischen Ernst. „Aba! Na ja! Aber ich bitte, regen Sie sich doch nicht auf. Ich will gewiß der Glücklich« nicht zu nahe treten." „Die Glückliche — ist Ihre Tochter, Comtesse Kitty", erwiderte Makowsky scharf; etwas Feindseliges leuchtete aus seinem Blick. Graf Seefeld stutzte einen Augenblick. Jetzt erst fiel ihm die Bläffe und die Erregung Kitty's aus. „Höre, Kitty, was Du in der letzten Zeit schon Alles vorgestellt! — Es klang mehr herber Spott als gute Laune aus den Worten des Grafen —, an Dir ist eine Komödiantin verloren gegangen. „Eine Künstlerin gewiß", bemerkte Makowsky. „Seien Sie so gut! Sie glaubt es Ihnen sofort." „Glaube ich auch, weil ich es fühle! Bisher bot sich mir allerdings keine Gelegenheit dazu. Uebrigens keine Sorge, Papa, ich bin zu gründlich verdorben für dieses Fach", fügte sie gezwungen lachend hinzu. „Gott sei Dank, Kitty", erwiderte sichtlich erleichtert der Graf. „Eine Malerin! Fürchterlich!" „Nun, eine Dame kann Künstlerin sein, ohne eine be stimmte Kunst auszuüben. In ihrem ganzen Sehe», Denken, Fühlen." „Blaustrumpf, meinen Sie?" cntgegnete der Graf. „Nun, dazu hat Kitty wirklich nicht die geringste Anlage. Aber jetzt wollen wir gehen, wir haben Herrn Makowsky lange genug aufgehalten und — offen gesagt, es ist keine Luft für uns — eS legt sich förmlich auf die Brust und verwirrt uns die Sinne. Offen gesagt, Herr Makowsky, Sie werden mich auslachen, für sehr ungebildet halten — aber für waS diese Malereien gut sein sollen — ich begreife eS nicht. Da lob' ich mir wieder den Sport, den Wald, die frische Haide! Das erhält frisch und gesund. Die denkt nämlich gerade so! Alles andere sind nur Schrullen! Jeden Tag eine andere! Glauben Sie eS mir, Herr Makowsky!" Cr legte seine schwere Hand auf die Schulter deS Malers und schüttelte sie so derb, daß der schwächliche Mann fast seinen Standpunct verlor. Der Graf verließ rasch die Grotte, der Athem versagte ihm in dem engen, schwülen Raume. „Lassen Sie nur Papa seine Meinung. Ich bleibe Ihnen doch treu", sagte Kitty, dem Maler die Hand reichend. Er ergriff sie und hielt sie fest, ohne Erwiderung, dann schlossen sie mit einem gegenseitigen Blick einen ewigen Bund inmitten dieser phantastischen Traumwelt, deren hohle Lüge Kitty im Rausche ihrer erregten Sinne nicht erkannte. ' Ans Georg von Prechting hatte die offene Erklärung Kitty's auf dem Wege nach dem Circus eine entscheidende Wirkung. War einerseits für ihn eine vortheilhafte Partie verloren, seine Eitelkeit verletzt, so fühlte er sich andererseits irei und, trotz Allem, wie von einem schweren Druck erlöst. 5r empfand nichts für Kitty. Sie war ein verwöhntes, chlecht gezogenes Kind in seinen Augen. Ihre Vorliebe für Franz von Kindheit auf war ihm ein Dorn im Auge. Ihr Aötzllch erwachtes Interesse an dem Maler Makowsky war irr ihn geradezu eine Beleidigung. Trotzdem wäre er, von Jugend auf gewohnt, rings um sich her derartige Herzens angelegenheiten den Familieninterefsen untergeordnet zu sehen, vielleicht über all' das hinweggekommen, wenn er nicht zu seiner eigenen Ueberraschung selbst von einer starken Leiden schaft ergriffen worden wäre, von einer wirklichen Leidenschaft zu einem Weibe, über die er sich längst erhaben dünkte — zu Arabella, der Kunstreiterin! So sehr er sich auch Mühe gab, seinem Verhältniß zu ihr eine ihm geläufige Erklärung zu geben, Alles umsonst! Er liebte sie mit dem ganzen Ungestüm eines reifen, erfahrenen ManneS, der viel gelebt, aber nie geliebt. Arabella hatte, als Artistenkind von Jugend auf zu ihrem Berufe bestimmt, eine reiche Lebensschule durch gemacht. Ihr war strenge Arbeit, die ihren Körper und ihr Gemüth abhärtete und beide eher vor verderblichen Einflüssen bewahrte, als, wie vielseitig bei dem ungebundenen Wander leben angenommen wird, solchen aussetzte. Ihr ganzes starkes Temperament ging in dem Ehrgeiz auf, in der Ruhm sucht ihres Standes. AuS dem Sattel, beim Tageslicht, war sie praktisch-nüchternen Sinnes und ließ sich den Kopf nicht verrücken van abendlichen Erfolgen und nachfolgenden Huldi gungen. Sie war stolz auf ihre Verdienstkraft, die ihr Selbstständigkeit verlieh, und sah mit Verachtung auf ihre Colleginncn herab, welche diese einem augenblicklichen, schmählichen Bortheile opferten und damit zugleich den Ruf ihres Standes gefährdeten. Kurz, eine echte Amazone, auch in ihrer Geringschätzung deS männlichen Geschlechts. So legte sie auch der Umwerbung Prechting'S keinen großen Werth bei, duldete sie aber, weil er ihr sympathisch war. Besaß er doch in ihren Augen schwer wiegende Vorzüge. Schöner Mann, verwegener Reiter, klingender Name — sie hatte nie Gelegenheit, über Andere nachzudenken — dabei nicht aufdringlich, von einer gewissen Achtung für ihren Stand durchdrunAen. DaS genügte vollkommen für einen angenehmen Verkehr d,e Wintersaison hindurch. Weiter dachte sie nicht — bi- Kitty ihr die Augen öffnete. Wenn er sie wirklich liebte-
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