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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.11.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-11-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18951109024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895110902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895110902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-11
- Tag1895-11-09
- Monat1895-11
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Er hat die Frage zu beantworten, ob Artikel IV der Reichs verfassung an einem seiner wichtigsten Pnncte, dem, der die Ordnung dcS bürgerliche» Rechts dem Reiche zuweist, zur Wahrbeit werden, oder ob der deutsche Nationalstaat durch den Mangel der Nechtseinbeit auf unabsehbare Zeit als ein unvollkommen funvainentirter Bau unter den auf der Grundlage gemeinsamen Rechts ruhenden Staaten des Festlandes stehen soll. Die Aufgabe der Volksvertretung ist, wie die des Bundesratbs, demEntwurf einesBürgerlickenGesetz- buchs gegenüber nicht die ihr als einem Factor der Gesetzgebung sonst vorgczeichnete. Sie darf, wenn sie nickt von vornherein den Erfolg preisgcben will, den Grundplan nicht in Frage stellen und sie must sich auch bei Abänderungen im Einzelnen eine weitgehende Beschränkung auferlegen. Der Aufbau eines all gemeinen Privatrcchtsbuches kann ebensowenig von 397 mit gleichem Recht bestimmenden Personen geleitet werden, als der Bau einer Brücke. Die Natur des Gegenstandes gebietet eine — verbältnißmäßig — rasche Erledigung, denn lang wierige Erörterungen können unmöglich die Folge haben, die von den Grundsätzen des Entwurfs abweichenden Auf fassungen diesem zu nähern, sie würden vielmehr die gegen über einem Werk, wie das Bürgerliche Gesetzbuch ist, unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten noch verschärfen und vermehren. Eine über eine beschränkte Anzahl von Theilen des Entwurfs hinausgreifende Commissions- berathung birgt noch größere Gefahren, als allzu aus gedehnte Verhandlung im vollen Reichstag. Denn die Commission vermag noch weniger der Tiefe und Breite der Gelehrsamkeit, der Principienreiterei und der Lieb haberei Dämme entgegenzusetzcn, als das Plenum. Stockung und schließlich Versumpfung wären die unausbleiblichen Folgen umfassender Al-änderungöversuche. Die Forderung nach einem raschen Verfahren stützt sich nicht aus die Annahme, daß der Entwurf vollkommen sei, sondern auf die Ueberzeugung, daß ein Parlament an einem Werke dieser Art Verbesserungen im Einzelnen nicht obne schwere Gefährdung des Zustandekommens des Ganzen in Angriff zu nehmen im Stande ist. Daß dem Entwurf als einem Menschenwerke, einem schwierigen Menschcn- werke, Mängel anhasten, wird von keiner Seite bereitwilliger zugegeben, als von seinen Schöpfern. Aber wenn die Berufensten des Volkes in vieljäbriger hingehender Arbeit, der eine nicht minder langwierige, die inzwischen laut gewordene Kritik gewissenhaft berücksichtigende Umarbeitung folgte, ein in allen Stücken tadelloses und namentlich ein allen Wünschen gerecht werdendes Gesetzbuch nicht zu schaffen vermochten, so wird eine Versammlung von Hunderten, m der Sachkenntniß »icbl Vorbedingung der Zugehörigkeit ist, sich nicht mit der Hoffnung eines vollkommeneren Gelingens an die Stelle Jener setzen können. Die Nation wird ein solches Beginnen dem Reichstag nicht ansinnen, sondern sich mit dem erreichbar Besten sich begnügen, und dies namentlich, wenn die Wahrheit Verbreitung findet, daß das Gesetzbuch, ganz abgesehen von dem unermeßlichen Werthe der Beseitigung der störenden und be schämenden Verschiedenheiten des PrioatrechtS, Gutes bietet, einen Fortschritt bedeutet. Die Nation über den Entwurf aufzuklären, scheint darum in diesem Augenblick die verdienstlichste Auf gabe, der sich rechts- und lebenskundige Männer unterziehen können. In breiteren Schichten der Bevölkerung vergegen wärtigt man sich nur schwer die Bedeutung, die dem bürgerlichen Recht überhaupt zukommt, und noch weniger klar ist die Vorstellung davon, wie das Neue in dem zur Einführung bestimmten Gesetzbuch beschaffen ist und wie weit es den Bedürfnissen des Lebens entspricht. Bestrebungen, diese Lücke im Wissen des Volkes, die eine vielfach vor eingenommene und leidenschaftliche Preßervrterung nur noch erweitert hat, auszufüllen, daö Juristische im Entwürfe menschlich nahe zu bringen, machen sich neuerdings in er freulicher Weise bemerkbar. Wir rechnen dabin die buch- händlerische Verbreitung eines Vortrags des Leipziger Nechts- lehrerS Professor vr. Sv bin (Berlin, Verlag von Franz Vahlen). Diese Schrift ist ebenso geeignet, Interesse an dem großen gesetzgeberischen Werk zu erwecken, als berichtigend dort zu wirken, wo die vorhandene Aufmerksamkeit die Ent stehung von Vorurtheilen nicht verhindert hat. Sie räumt mit der Vorstellung auf, daß Iuristenrecht dem Volksrecht entgegenstehen muffe und im Entwurf Iuristenrecht im un populären Sinne des Wortes niedergeschrieben sei. So dann begegnet der Verfasser dem Vorwurfe, das Deutsch land zugedachte Recht sei mehr römisch, als deutsch, nach Inhalt und Form so glücklich, daß das Volk in den ihm als römisch bezeichneten Nechtsinstituten so wenig mehr Fremd ländisches erblicken wird, als es sich überzeugen lassen würde, es spräche lateinisch, wenn cs sich der Ausdrücke „Fenster" und „Pferd" bedient. Dem Entwurf ist der in unserer Zeit doppelt schwerwiegende Tadel, er sei nicht social, nicht erspart geblieben. Sohin thut an der Hand von Beispielen dar, daß die Commission sich den Schutz der wirlhschastlich Schwachen hat angelegen sein lassen, und verweist für alle Theile des Gesetzbuchs auf die ausgestaltende Kraft der Praxis, der der Entwurf gestattet, da, wo der Buchstabe dem wahren Recht zuwider ist, den „Buchstaben an die Wand zu drücken". Und in der That, eine Bestimmung, wie die des §. 127: „Verträge sind so auSzulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkebrssitte eS erfordern", ge währt die Bürgschaft, daß Zeit und Leben auch nach der Covisicirung dieses Gesetzbuches an dem Recht arbeiten können und werden. Dergestalt, wie dir Schrift Sohm's thut, daö Verständnlß des Entwurfs weiteren Kreisen vermitteln, heißt diesem im Reichstage die Wege ebenen. Aber mehr noch als die Schrift wirkt das lebendige Wort, und der nationalliberale Verein zu Halle a. S. bat ein nach- ahmenSwerthcS Beispiel gegeben, als er einer Versammlung die Gelegenheit bot, aus dem Munde von Rechtskundigen Belehrung über das Wesen des Entwurfs zu empfangen. Die Wirkung der Vorträge war die einstimmige Annahme des Beschlusses, Buiidcsrath und Reichstag die Herbeiführung des „baldigen Zustandekommens" des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches zu empfehlen. Aebnliche Veranstaltungen an anderen Orten würden gewiß ähnliche Kundgebungen nach sich ziehen, und diese wiederum würden voraussichtlich dem Reichstage den Entschluß erleichtern, bei der geschäftlichen Behandlung des Gesetzbuches der Eigenart der großen Auf gabe die die Lösung bedingende Rechnung zu tragen. Die auch von uns befürwortete Anregung der „Köln. Ztg.", im Reichstage die (kommissionsverhanülungeu, die von Jahr zu Jahr an Zahl und Ausdehnung zugenommen haben, im Interesse einer prompten Erledigung der Geschäfte und des Ansehens des Parlaments erheblich einzusch ranken, wird von einem großen Theile der Presse zuslimmend be sprochen. Selbst demokratische Organe, denen sonst nicht genug parlamentirt werden kann, verschließen sich den üblen Folgen des eingerissenen Mißbrauchs nicht. Drastisch, aber richtig, schildert die „Franks. Ztg." die jetzige parlamentarische Praxis folgendermaßen: „Nach der Praxis unserer Presse und des Reichstages durchläuft jede einigermaßen wichtige Aufgabe der Gesetzgebung in den letzte» Jahren folgende Stadien: Sie wird zunächst in Nachrichten über ihren Inhalt bekannt gegeben und besprochen, wenn sie im Bundes rath erschienen ist. Dann wird sie dis zu ihrer Einbringung im Reichstage gründlich an Leitartikel» abgehandelt, und ma» erführt ziemlich genau, wie jede Partei zu ihr steht. Die erste Lesung und Generaldebatte im Reichstage bringt dann meist eine große Ent» taujchuiig, denn sie ist nur eine rednerische Wiederholung dessen, was man aus der Presse längst wußte. Dann geht die Vorlage an eine Commission; die ersten Sitzungen dieser und die Berichte darüber stnd nun wieder nichts anderes, als eine Wiederholung der General debatte, dann folgen Wochen und Monate lang Specialberathungen, und wenn die zweite Lesung im Plenum kommt, so hat jeder auf merksame Zeitungslejer die Reden, die dort gehalten werden, An fragen und Abstimmungen schon aus den Commijsionsberichten kenne» gelernt. Diese breitspurige Behandlung aller wichtigeren Vorlage» und Anträge ist nicht nur ein Hauptgrund für die ungewöhnliche Aus- dehnung der Sessionen, sondern auch für Las immer mehr schwindende Interesse an den Verhandlungen des Par laments, deren Schwerpunkt doch nun einmal in den offenen Sitzungen liegen soll. Wenn jetzt eine Session beginnt, fo wissen die Abgeordneten ganz genau, daß i» de» ersten Wochen nur erste Lesungen stattfinden, bei denen diejenige», die nicht Generalredner sind, sich für überflüssig halte», denn es steht ja Loch jest, daß alle Vor lagen an Commijsionen gehe», und daß alle, die nicht Mitglieder der Commissionen sind, wenig oder gar nichts zu thun haben, denn ent- scheidendkAbstiminungen erfolgen nicht, find vielmehrerst einige Monate später zu erwarten. So erklärt sich zum Theil die andauernde Beschluß Unfähigkeit des Reichstages. Er zerfällt nachgerade in zwei Sorten von Abgeordneten: eine Minderheit, die in der GeiieralLebaite spricht und dann auch in die Commission geht, und eine Mehrheit, die ohne rechte parlamentarische Beschäftigung es vorzieht, zu Haufe zu bleiben und erst in Berlin zu erscheinen, wenn in den zweiten Lesungen wichtige Abstimmungen erfolgen. Kommen dann unerwartet, wie es oft geschieht, ernste Debatten oder Ent scheidungen, jo ist der Reichstag beschlußunfähig." Auch die „Voss. Ztg." erwartet eine erhebliche Besserung von einer Beschränkung der Eommissionsberathungen, glaubt aber, daß zu dieser Beschränkung auch noch die Einführung von Tagegeldern kommen muffe, um den schleppenden Gang der Arbeiten zu beschleunigen, die chronische Beschluß- unsähigkeit des Hauses ganz zu beseitigen und das gesunkene Ansehen des Reichstages zu heben. Wir gestehen, daß wir diesen Optimismus uicht theilen und von der Einführung von Tagegeldern eher einen noch schleppenderen ArbeilSgang, eine noch weitere Vermehrung der Commissionöberathungen und eine noch häufigere Beschlußunfähigkeit des Reichstags als das Gegentheil erwarten. Jedenfalls liegt die Beschrän kung der Commissionsberatbungen in der eigenen Hand des Reichstages, während die Einführung von Tagegeldern von der bisher nicht erreichbaren Zustimmung des Bundesraths abhängt. Man sollte daher nicht säumen, das zu thun, was man selbst thun kann. Und da der Mißstand allgemein empfunden wird, so sollte man glauben, daß auch über das Mittel zur Beseitigung eine Einigung zu erreichen wäre. Die Bedeutung des von sämmtlichen Mächten bei der Pforte unternommenen Schrittes liegt darin, dem Sultan, der bis jetzt gewohnt war, eine Macht gegen die andere auS Zuspielen, einmal zu zeigen, daß die Mächte in der Frage des nothwendigen Schutzes der Christen solidarisch Vorgehen. In dieser Solidarität liegt auch eine Beruhigung bezüglich des allgemeinen Friedens; denn wenn alle Mächte die Noth- wendigkeit gemeinsamen Auftretens erkennen, muß es wohl als ausgeschlossen betrachtet werden, daß cs jetzt zu Ent zweiungen zwischen denselben kommen könnte, da eine solche das in der Türkei um sich greifende Unheil de« Neligionskampfes in nicht absehbarer Weise vergrößern würde. Die Interessengegensätze, welche zwischen einzelnen Mächten bezüglich mancher andere Gebiete betreffenden Fragen ob walten. bestehen ja zweifellos, und es muß nach wie vor mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß sie früher oder später eine ernste Austragung erfahren. Allein das hindert nicht, daß die Herstellung der Ordnung in der Türkei als die nächste Aufgabe ausgefaßt wird, die ei» Zusammen wirken erheischt, und vor welcher alle anderen Fragen zurücktreten. Dieses Zusammengehen der Vertragsmächte zum Schutz der Christen wird in seiner Wirkung noch dadurch ver stärkt, daß dieselben auch die Durchführung der versprochenen Reformen jetzt gemeinsam betreiben, dieses Geschäft also nicht mehr England , Frankreich und Rußland allein überlassen bleibt. Die Pforte wird dadurch zum Bewußtsein gekommen sein, daß die armenische Angelegenheit von der Frage des Schutzes der Christen sich nicht mehr trennen läßt. Be merkenswerth ist, wie in der „Kr.-Ztg." auf Grund zu verlässiger Informationen hervorgehoben wird, bei dem Hinzutritt der Dreibundmächte zu den bisher auf eigene Faust vorgegangenen Interventionsmächten, daß öster reichisch - uiigarischerseils eine solche Erweiterung der Behandlung der armenischen Angelegenheit schon vor einiger Zeit inö Auge gefaßt worden ist; Graf Goluchowski hatte bereits in einer früheren Phase der armenischen Angelegenheit England gegenüber die Ansicht ver treten, daß cs sich empfehle, die Erledigung dieser Angelegen heit dadurch in einen beschleunigteren Gang zu bringe», daß sämmtliche Pertragsmächte aus Grund des Artikels 6l des Berliner Vertrages von ihrem Rechte, von der Pforte Mil theilungen über die Durchführung der Reformen zu verlangen, Gebrauch machen. Vielleicht wäre eS von Äortheil gewesen, wenn dieser Vorschlag seinerzeit zur Ausführung gebracht worden wäre; denn die gemeinsame Geltendmachung ihrer Rechte Seitens sämintlicher Mächte würde verhütet haben, daß der Sultan Mißtrauen gegen einzelne Mächte fasse, und hätte zur Beruhigung der christlichen Bevölkerung zu einer Zeit beigetragen, wo die Leidenschaften noch nicht in der Weise, wie es später der Fall war, zum Ausbruche gekommen waren. Offenbar hat das gemeinsame Vorgehen der Mächte tiefen Eindruck auf den Sultan gemacht und denselben voll ständig aus dem Eoncept gebracht. Er sieht, daß er das alte Recept türkischer Diplomatie „äivicks vt impsra" nickt mehr gebrauchen kann und macht wenigstens den Anfang zu ernsten Beruhigungsmaßregeln. Sollte trotz seines ehrlichen Willens es ihm nicht gelingen, dem Bürgerkrieg Einhalt zu thun oder sollte fein Eifer bald wieder erschlaffen, so dürfte Europas Einspruch allerdings nicht auf dem Papier stehen bleiben. Es haben zwischen den Botschaftern befreundeter Mächte bereits Vorbesprechungen stattgefunden, uni in diese», Falle den Worten auch die Thaten folgen zu lassen. Es ist also immer möglich, daß wir am Vorabend weittragender Ereignisse sieben, die, falls sie eintreten, für Europa aller Voraussicht nach von weitestgehenden Folgen begleitet sein werden. Trotz der großen Opfer, welche Japan sein letzter Krieg gekostet hat, macht es doch gewaltige Anstrengungen, um seine Kriegsmacht aus eine Höhe zu bringen, aus welcher es im Stande ist, allen Eventualitäten, auch einem Waffeugang niit Rußland ruhig entgegenzuseben. Die Volksvertretung hat schon vor einigen Wochen eine Heeresvorlage an genommen, deren Einzelheiten erst jetzt bekannt' werden. Binnen vier Jahren werden jecks neue Znfanterie-Truppen- Divisionen zu zwei Brigaden errichtet. Gleichzeitig werden FeiriHetsir. Der Kampf nms Dasein. 10j Roman von A. von Gersdorsf. Nachdruck verboten. (Fortsetzung.) Mit einem Aufschrei rasender Wuth» sinnloser Ver zweiflung warf Helmntb, der sich aufrecht gehalten hatte, seinen geschmeidigen Körper gegen den riesenstarken Kerl und brachte ibn zu Fall. Mit dem oberen Theil der Klinge aber schlug er ihn so furchtbar über Kopf und Gesicht, daß das Blut in breitem Strom herniederschoß und Wächter mit dumpfem Stöhnen zurücksank. „Auseinander!" Schutzleute um sie her, eine berandrängende Masse, die stetig wuchs. Aufschreien, wirre Rufe: „Nieder mit dem Lieutenant! — Bindet ihn! — Der ist toll! — Betrunken ist er! — Kiek doch, wie er torkelt!" Wächter blutüberströmt am Boden, Helmuth ohne Mütze, kreidebleich, die Zähne zwischen den keuchend atbmenden Lippen blitzend — in der Hand den zerbrochenen Säbel. Einer der Schutzleute, welcher die Lage sofort richtig er kannte, reichte Helmuth die Mütze, schob die beiden Stücke des Säbels i» die Scheide, während er einige leise, höfliche Worte zu ibm sprach. Helmuth kam langsam zur Besinnung. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen schweren Traum da fortwischen, nnd folgte dem Schutzmann durch die Menge, welche ibn nur widerwillig hindurch ließ. Nach der andern Seite wurde der blutüberströmte Wächter abgeführt. Herr Fino batte seine» Dortbeil wahrzunebmen verstanden, als der Kampf zwischen Wächter und dem Officier persönlich geworden. Mit katzenbafter Schnelligkeit und Lautlosigkeit batte er sich vom Kampfplatz entfernt, nur Börse und Cigarren» spitze blieben zurück und wurden von einem Schutzmann mit genommen. Dumm, daß er da sein gespicktes Portemonnaie batte liegen lassen. Aber da war nichts mehr zu machen. In ernsten Gedanken erreichte er die Wohnung seine« „Freundes*. Dieser Mann, ein krummer Kerl mit tbörichten Augen und mächtigem, spärlich bewachsenem Schädel, saß in Hemds ärmeln, einen dicken Shawl um seinen entzündeten Hals ge schlungen, vor seinem Ladentisch und machte Cassc, das beißt, er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und — beulte. Als Fino in den kleinen Laden trat, sab er auf. „O, Adalbert, warum bist Du fortgegangen?! In Deiner Abwesenbeit ist die Ladencasse bestohlen worden!" „Nicht möglich!" sagte Fino, während er mit den langen Fingern, so gut es ging, seine derangirte Frisur in Ordnung brachte. Neben dem „Freund" stand dessen Frau, eine üppige, ältliche, bemalte Kokette, die einen begrüßenden Blick auf Fino warf. „Ja", seufzte der arme Mann, „als ich eben herein kam, fand ich sie offen, und es fehlten zwanzig Mark." „I — was!" meinte Fino, „und Du ahnst nicht, wann und wo?" „Keine Ahnung, keine blaffe Ahnung." „Na — dann laß nur die Sache gehen. Wiederbekommen tbust Du den Dieb doch nickt!" „Aber zwanzig Mark! Adalbert! Zwanzig Mark!" meinte der kleine Händler, „wie bekomm ich die wieder herein!" „Hin ist aber doch hin! Na nu, sei ein Mann und beule nicht! Hören Sie mal, Madame Schulze" — wandte er sich an die Frau — „ich muß durchaus etwas essen, und dabei werde ich Ihnen meine phänomenalen Abenteuer er- zäblen. Nachher muß ich arbeiten — ich habe keinen Groschen Geld." „Abenteuer?" fragte Madame gedehnt und zog die ge malten Augenbrauen hoch. „Nichts, waS das Herz berührt, schöne Frau", flötete Fino, die Hand aufs Herz pressend, „wie könnte ich?" Sie machte ihm ein rasches Zeichen mit der falschberingten Hand und verschwand im Ladenstübchen. Dann kam sie zurück und bat zu Tische. Es war das gar kein übler Tisch. Eier und eingelegter Hering, Brod, Butter und Wurst mundeten Herrn Fino gar nickst schlecht. Seinen ZnkunftSplan hatte er im Reinen. Zunächst aber hatte er noch zu „arbeiten" und die« mit einiger Aussicht auf Erfolg. Kurze Zeit nachher sitzt der Edle im Laden an dem kleinen Pult der Lasse und arbeitet fleißig. „Hochverehrte Frau! Ihre kleinen Privatvergnügungen in der F. . . straße sind nahe daran, entdeckt zu werden. Man will eine von Beweisen getragene Mittheilung an Ihren Herrn Gatten gelangen lasten. Sie haben erbitterte Feinde. (Welche schöne Frau hat nicht abgefallene Liebhaber?) Ich aber bin Ihr treuester, aufrichtigster Freund. Ich verehre Sie schon lange aus der Ferne, aber icki begehre nichts, als Sie zu retten vor dem furchtbarsten Scandal. Aber der Mensch, welcher Sie zu verderben trachtet, der Elende, er will unter allen Umständen Geld. Eine ge wisse Summe soll allein sein Schweigen erkaufen. Er will damit nach Amerika gehen. Wer in Amerika ist, ist so gut wie todt. Nun steht er schon mit dem einen Fuße ans dem Dampfer. Er wird ihn zurückriebcn und beute über acht Tage Ihrem Gatten die furchtbare Mittheilunz mit Beweisen Ihrer Untreue machen, wenn wir ihm nickt zuvor- kommen. Ich ratbe Ihnen, als Ihr bester Freund, zahlen Sie lieber selbst die Summe. Es sind hundert Mark. Die Gefahr drängt, das Schwert ist erhoben. Ihr Verehrer und Freund aus der Ferne. L. R. Unter der letzten Stufe der nächsten Kirche ist daS Geld heute in acht Tagen hinzulegen." Herr Fino hob sinnend den Kopf. „Wirklich, Glück muß der junge Mann haben! Daß ich sie da zufällig bei dem Rendezvous ertappe und auch von cer dämlichen Eondilormamsell höre, wie sie heißt. Na — also Schluß." „Frau Betti Wächter. O.-Straße Nr. 12." Er hatte für bente seine Arbeit beendigt. Gedanken voll lehnte er sich in den Stuhl zurück. Frau Schulze trat ein. „Guten Abend, Frau Schulze. Ich trage jetzt diesen Brief —" „St—st! Sie sind wobl nickt bei sich! Wenn Sie doch einmal lernen könnten, bei der Arbeit Ihr Maul zu halten. So macht man kein Geschäft nicht!" „Horen Sie 'mal." „Ach was! Sie denken Wohl» er schläft. Nee — so ganz auf den Kopf gefallen ist er nicht! Er liegt da halb wach im Bett nnd brütet auf die zwanzig Mark." „Bah — das sind hoble Eier." „Hanne! Hanne! Sprichst Du da mit Jemand?" ertönte eS aus dem Stübchen. „Ja. Herr Fino ist zurückgekommen. Er wollte bloß fragen, ob er nicht Deinen Verlust morgen bei der Polizei anzeiaen soll." „Nee, da« nick." 6. N An diesem Abend, der Helinuth'S Schicksal eine so furcht bare Wendung gab, saß Iakoba strahlend und hoffnungsselig in einem kleinen Kreise gleichgesinnter Menschen im Birke'schcn Salon. Ein rechter stilvoller Salon war dies nun durchaus nicht, und Iakoba, in ihrem Kreise gewöhnt an Stil und Pracht und Kunstwerk und Kunstspielerei, übersättigt von „malerischer Dekoration", von Hallen, Kemnaten und Araberzelten, eckt und unecht, konnte einen innigen Freudenruf kaum Zurückbalten, als sie in dies große, belle, saubere Familienwohnzinimer trat, wo Alles Einfachheit, Friede und Behaglichkeit bekundete. Als sie näher binsab, bemerkte sie freilich, daß diese Ein fachheit nicht billig war, sondern nur dem Geschmack entsprach. Diese einfachen, bequemen Stüble waren von Eichenholz, die dunklen, unscheinbaren Bezüge von gepunztem Leder, die alten Kupferstiche in schmucklosen Rabinen an den grauen, glatt ge strichenen Wänden kostbare Werke von Meisterhand. Tie Dielen waren braun geboknt, nur vor dem Sofa lag ein dunkler Teppich, echter Smyrna. Auf dem großen, runden Sopbatisch mit der weißen Damastscrviette stand eine große, feste Lampe mit einfacher Milchglasglocke und warf ibr mildes Licht auf die alte, weiß-goldene Porzellanschale mit ihrer glänzenden Farbenpracht von Georginen und Astern. Dann standen noch Teller mit belegten Butterbrödchen und eine Caraffe mit goldgelbem Ungarwein, auch ein aller schön- gearbeiteter Steinkrug mit schäumendem Bier auf dem Tisch. Herr Birke, ein bober Greis mit dichtem, schneeweißem Haar und großem Vollbart, mit jugendlich funkelnden, blauen Augen und schöner, vollklingender Sprache, kam Iakoba mit ausgestreckten Händen entgegen und stellte sie seiner Frau vor, die, ebenso all wie er, ein Gefickt hatte wie der Friede selber, dachte Iakoba. Welch stille, lickte Augen, welch ein ruhevolles Lächeln, welch tiefe Güte im Ausdruck der ganzen Erscheinung! ES waren außer Iakoba noch drei Herren und zwei Damen anwesend. Darunter Or. Bergmann und Redakteur Sckmidt von der „Deutschen Zukunft" und ei» großer schlanker Mann mit tieftraurigen Augen, gelblich blassem Gesicht, welches von einem prachtvollen, lichtvraunen Vollbart, der bis auf die Brust beruntersiel, fast zur Hälfte bedeckt war. Um so wir kungsvoller war rer concentrirte Blick der dunkel umschatteten Augen. DaS leicht gelockte Haar war an den eingesunkenen Schläfen schon reich mit Silber durchmischt. Er war in feinster Grsrllsckaststoilrtte, und seine Manieren,
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