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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 31.01.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-01-31
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960131021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896013102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896013102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-01
- Tag1896-01-31
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Rerlamen unter dem Redactionsstrich <4ge spalten) 50^, vor Leu Zamilieuuachrichleu (ü gespalten) 40^. «Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilage» (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe. ohne Postbrsörderung 60.—, mit Postbefvrderung 70.—. Änuahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Jiir die Montag.Morgen-Ausgabe: Sonnabend Mittag. Bei den Filialen und Annahmestelle« je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an dl« Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Freitag dv'n 31. Januar 1896. SV. Jahrgang. Politische Lagesschau. * Leipzig, 3l. Januar. AuS den uns heute vorliegenden Berliner Blättern ist zu ersehen, daß die Gerüchte, der Kaiser habe eine außer ordentliche Verstärkung der Marine verlangt, die „Regierung" aber habe mit Rücksicht auf den Zeitpunct und die parlamentarischen Verhältnisse Bedenken dagegen er hoben, namentlich unter den gelangweilten Spazier gängern der Wandelhalle des Reichstages ein frucht bares Wachsthum erfahren haben. „Heute" — so heißt eS in einem gestern Nachmittag geschriebenen Berichte der „Nat.-Ztg." — „werden dem geehrten Publicum in Blättern, welche diese Foyer-EchoS wiedergeben, bereits eine Anzahl Ersatzmänner für den Fürsten Hohenlohe zur Auswahl präsentirt, und zwar für alle Eventualitäten: je nachdem mit der Forderung von ein paar hundert Millionen Mark für die Marine agrarische Zugeständnisse oder eine politisch-reactionäre Wendung, z. B. unter Verzicht auf die Reform des Militairslrasverfahrens, verbunden und je nachdem mit solcher Politik ein eventueller „Staatsstreich" in Aussicht genommen Werren soll oder nicht, lauten die Namen für die Neubesetzung des Reichskanzler-Postens verschieden — in den Phantasien, welche immerhin zum Theil von Leuten hinter den politischen und Hofeoulissen angeregt sein mögen, denen jedes Mittel für ihre Zwecke recht ist." Daß derartiges Zeug ausgeheckt wird, kann nicht befremden, denn es wirkt aus die Börse; aber daß solche Gerüchte selbst in der Wandelhalle des Reichstags colportirt werden können, be weist, daß selbst unter den deutschen Volksvertretern die Leicht gläubigkeit größer ist, als die Kenntniß der Reichsverfassung. Nach dieser steht dem Kaiser allerdings der Oberbefehl über die Kriegsmarine zu, aber auf ihre Stärke hat er »Ur als König von Preußen Einfluß. Wünscht er eine Ver stärkung, so hat er zunächst der Zustimmung seiner hohen Verbündeten sich zu versichern. Bei der Höhe der Kosten jeder wesentlichen Verstärkung der Marine, bei dein Einflüsse, den möglicherweise ein solcher Verstärkungsplan auf unsere Beziehungen zum Auslande nnd auf die Actionslust fremder Regierungen hat, sowie bei der Fülle von technischen Fragen, die bei der Berathung eines solchen Planes in Frage kommen, ist eine Uebereinstimmung unter den verbündeten Negierungen nicht leicht und jedenfalls nicht im Handumdrehen zu erreichen. Ist sie aber erreicht, so ist auch nicht anznnehmen, daß das preußische Ministerium Einspruch erheben würde. Sollte nun wirtlich —- was wir noch dahingestellt sein lassen — der Kaiser eine außerordentliche Verstärkung der Flotte für nöthig nnd dringend erachten, so tönnte die Sache zur Zeit unmöglich über das Stadium vertraulichen Meinungs austausches unter deil verbündeten Regierungen hinaus gediehen sein. In diesem Stadium hätte aber weder der Reichskanzler, noch irgend ein einzelstaatliches Ministerium Anlaß, zurückzutreten oder auch nur mit der Frage von Zugeständnissen an parlamentarische Fraktionen sich zu beschäftigen. Wenn es also wirklich wieder einmal „kriseln" sollte, so ist jedenfalls die „Marinefrage" daran nicht schuld. Das sollte doch besonders in der Wandcl- balle des Reichstags begriffen werden. Ungleich thörichter als solche Gerüchte sind aber die Ratbschläge einiger Blätter über die Art und Weise, wie ans dem Vol ke heraus die deutsche Kriegsflotte verstärkt werden soll. Allen Ernstes wird in einem Blatte der Rath ertheilt, man solle ganz geheim Geld genug sammeln, um auf einer deutschen Werst zwei Schiffe nach den Fortschritten der neuesten Schiffsbautechnik construiren und gemäß den „bestehenden Vorschriften" ansrüsten und armiren zu lassen, und diese Schiffe solle man dann dem Reiche resp. der Marine schenken! Daß dieser Vorschlag zur Güte den Art. 5»3 der Reichsverfassung, nach dem „der zur Grün dung und Erhaltung der Kriegsflotte und der damit zusammenhängenden Anstalten erforderliche Aufwand aus der ReickScasse bestritten wird", einfach ignvrirt, mag noch Isingeuen. Aber daß ein deutsches Blatt es für möglich hält, das Volk könne durch gebeimen Scparatbeschluß die deutsche Kriegsflotte über die Köpfe der gesetzgebenden Factoren hin weg mit beliebigen Schiffen verstärken. Las kommt aus das 'elbe hinaus, als wenn ein nltramontaner Heißsporn den Plan ausheckte, das Reich mit einer Anzahl Millionen zur Errichtung einer deutschen Botschaft beim Vatikan zu „be schenken". Wenn eine Schenkung aus Volkskrcisen für Marine- zwccke an das Reick überhaupt znlässiig ist, so kann sic nur in Form von Geldsummen an die ReickScasse erfolgen und ist lediglich nach den Beschlüssen der gesetzgebenden Factoren (Bundesrath und Reichstag) zu verwenden. DaS preußische Abgeordnetenhaus hat gestern die erste Berathung eines Lehrerbesoldnngsgesetzes begonnen, dessen Zweck, wie ein nationalliberaler Redner zutreffend hervorhob, es ist, Zuständen, die Preußens unwürdig sind, ein Ende zu machen. Wir haben die Grnndzüge derVorlage schon kurz erörtert, »achtem sie ans dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege des Bertrauensinißbrauchs bekannt geworden waren. ES ist noch nachzutragen, daß die Vorlage insofern stark nach dem Vorbild des heiligen Crispinus arbeitet, als sie den Städten mit über 25 000 Einwohnern 3>2 Millionen Mark, den kleinen Städten 1 Million nimmt und dem platten Lande 1^ Millionen giebt. Entschuldigt wird diese Entziehung enormer Staats Zuschüsse für städtische Sckulzwecke mit deren finanzieller Leistungsfähigkeit und rer Versassungsbeslimmuiig, welche die Ergänzung der von den Gemeinden für Schulzwecke auf- zubriiigeiidcii Mittel durch den Staat von dem Unvermögen der Eommunen abhängig macht. In Wahrheit ist eine nicht geringe Anzahl der betroffenen Städte nicht leistungsfähig im Sinne der Verfassung, und das Gesetz wird deshalb taum so durckgehen, wie cs vorgeschlagen ist. Von all gemeinem politischen Interesse ist die Regelung der Lehrer- besoldung in Preußen in ihrem Verhältnis zu der prenß-ichen Schnlgesetzge bring überhaupt. Die Zedlitz'sche Schul Vorlage Caprivi'schen Angedenkens regelte bas ganze Schul wesen, und nach dem Falle dieser Vorlage erklärten Con- servative und Klerikale, zu einer Ordnung einzelner Schulangelegenheiten, insbesondere der Lebrerdotativn, würden sie sich nun und nimmermehr herbeilassen. Diesen Standpuiict haben sie vier Jahre hindurch noch oft und die Blätter der preußischen Eonservativcn wenigstens gelegentlich noch in den letzten Wochen fcslgehalten; aber die Verhältnisse sind stärker als die Sehnsucht nach einem Zedlitz'sche» Schulgesetz. Wenn die beiden Parteien aus politischen Machtrücksichtcir sich weigerten, den vielfach schmählichen Gehaltsverhältnissen der Lehrer ein Ende zu bereiten, so würden sie bei den Wahlen sehr üble-Erfahrungen machen. So haben sie sich denn ge geben, das Centruin allerdings mit dem Vorbehalt, daß eS eine Erklärung der Negierung über deren Schulpolitik ver langen nnd nach dieser seine endgiltige Entschließung ein richten werde. Dieser Vorbehalt gefährdet aber das Lehrer besoldungSgesetz nicht, denn der Cultnsminifter IK-. Bosse wird sicherlich den Ultramontanen Angenehmes sagen und zwar aus vollem Herzen. Er hätte ihnen vielleicht sogar schon jetzt die Herrschaft über die Schule gegeben, wenn es gegangen wäre. Zwar in der gestrigen Sitzung des Abgeordnetenhauses erklärte er, die Zedlitz'sche Vorlage habe die Ueberzeugung hervorgebracht, daß für ein allgemeines Schulgesetz die Zeit noch nicht ge kommen sei — eine treffende Bemerkung. Die Sitzung war aber kaum geschlossen, als die „Berliner Neuesten Nachr." erschienen und die folgenden, schon vom Telegraphen ge meldeten wenigen, aber inhaltschwercn Zeilen enthielten: „Gegeni'chcr dem in der Presse zu Tage tretenden Verlangen nach cineni Volksschnl-Gesetz erfahren wir aus berufenen Kreijen, dass der Eiiltusiii in ist« r in dieser Beziehung aus be stimmten Widerspruch an höchster Stelle gestoßen ist." Wenn das wahr sein sollte, so datirte Herrn Or. Bosse's Ueberzeugung nicht von Anno 1802, sondern befände sich noch im frühesten Säuglingsalter. Aus Abessinien endlich eine sickere nnd hocherfreuliche Nachricht, um so erfreulicher, als sie völlig unerwartet, ja wider alles Erwarten kommt! „Colonne Galliano wohl behalten mit Waffen in Adahagamus ein- getroffen" konnten wir noch in einem Theile des heutigen Morgenblattes durch ein in später Nachtstunde eingelaufenes Telegramm melden, dem heute Morgen nachstehende ausführ- lichere Meldung gefolgt ist: * Adahagamus, 30. Januar. Heute Abend 6 Uhr ist Galliano mit seinem Bataillon hier eingetroffen. Er war Morgens aus der Umgebung von Haussen aufgebrochen, woselbst gestern Abend die ganze schoa nische Armee ein getroffen ist. General Baraticri war um I Uhr aus dem Lager aufgebrochen, um Galliano entgegenzugehen; Baralieri iiberbrachte Galliano die Anerkennung des Königs und des Vaterlandes für seine Osficiere und weißen und eingeborenen Soldaten, die Bewunderung verdienen für den in ihnen herrschenden Geist und ihre Haltung. Galliano führte Waffen, Munition und Kriegszubehör mit sich und war von einem Unterführer Ras Makonnen's begleitet. Großer Enthusiasmus herrscht im italienischen Lager. Die Truppen erwiesen dem Bataillon Galliano militairische Ehren. Weiter wird uns gemeldet: - Rom» 30. Januar. Tie Nachricht von der Ankunft des Oberst- Lieutenants Galliano im Lager General Baratieri's wurde hier mit der lebhaftesten Genugthuung begrüßt. In den Kaffeehäusern, Wirthschaften, Clubs und Theatern fanden BeNallskundgtLungen kür den König und die Armee statt. Drahtmeldungen aus den Provinzen berichten ähnliche Aenßernngen der Bevölkerung. Nur zu begreiflich ist dieser Jubel über die Rettung der io gut wie anfgegebene» Tapferen von Makalle und er ballt ireudig wieder im verbündeten Deutschland. Allein so weit sich von hier der Gang der Dinge überblicken läßt — der Depeschendienst aus Abssinien ist ein äußerst spärlicher und, da die ossiciellen italienischen Quellen auf Kundschastermel- dungen angewiesen sind, ein sehr unzuverlässiger — hat sich die allgemeine Lage auch beute noch nicht geändert, es sei denn zu Gunsten der Abessinier. Denn rer Umstand, daß Menelik die Eolonne Galliano nickt direct von Agnla nach Adahagamus schickte, sondern sie auf dem Marsch nach Haussen, diesen dadurch erschwerend, mitschleppte und erst dann freigab, als er in Haussen angelangt war, legt doch den Gedanken nahe, daß er tbatsächlich, so lange der Weg von Agula nach Adna dem äußerst gefährlichen Flankenangriff der Italiener ausgesetzt war, die Truppe Galliano's als "Schild benntzte und man wird daraus, daß er sie, in Haussen angelangt, entließ, den Schluß ziehen dürfen, daß er dieses Schutzes nicht mehr bedurfte, also ans sicherem Wege, unbehelligt Avua zu er reichen gedenkt, vielleicht schon erreicht hat. Dort siebt er in ausgezeichneter Position den Italienern gegenüber und hofft, General Baratieri eine entscheidende Niederlage beizu bringen. Unterliegt er, dann ist er wenigstens davor geschützt, daß die Italiener schwere persönliche Rache für einen allen Kriegsgcpflogenheiten hobnsprechenden Act nehmen, was die Ermordung der Leute Galliano's und ihres Führers selbst gewesen wäre. General Baratieri wird nun schnell los- chlageu müssen, wenn ihm die Friedensbrdingungen Menelit's nicht genehm sind. Da er nach den letzten Berichten au« Kbarluin, wo eine Revolution ausgebrochen und die Herr ckaft des Mahdi in Frage gestellt ist, von den Derwischen aum etwas zu fürchten hat, verspricht ein energisches Ver gehen immerhin Erfolg. Aus den en gtischen B laubüchern über die armenische Frage, welche bis zum October 1895 reichende Depeschen nnd den Bericht der internationalen Untersuchungscominission im Kreise Sassun enthalten, geht zweierlei hervor: erstens, daß die Berichte der englischen Presse über die „Greuel in Armenien", welche von mehreren Tausend Opfern kurdischer Blutgier und grausamer Hinschlachtung von wehrlosen Frauen zu berichten wußten, wesentlich übertrieben waren und zweitens, daß die Armenier eS waren, welche angeftiflet durch den einheimischen Agitator Hamparsum Boyadjan und die meist aus Engländern bestehenden armenischen Agitationscoinites in London, zuerst zahlreiche Ausschreitungen gegen die Kurden begingen, welche dann ihrerseits zu Repressalien schritten. Damit wird in dessen nur sestgestellt, was bereits allgemein angenommen worden war. Immerhin bleibt die Thatsache bestehen, daß die Kurden sich großer Barbareien schuldig gemacht haben; denn 900 Opfer ihres Fanatismus, das ist gewiß auch für türkische Verhältnisse keine Bagatelle. Zwar sind die Einzelheiten englischer Berichterstattung über die Ermordung von Armeniern sehr übertrieben, aber die Schändung von Frauen, welche von ihren Männern getrennt wurden, ist tbatsächlich erwiesen, eine ganze Reihe Ortschaften wurden eingeäschert und die Bevölkerung der bittersten Notb, ja zum Theil dem Hungertode preisgegeben. Das Schlimmste aber ist, daß die türkischen Behörden „weniger die Unterdrückung des Pseudo-Aufstandes, als die Vernichtung der Districte von Ghelie Guzan und Talori wünschten", d. h. die Ausrottung der Armenier, mit der damals begonnen wurde und mit der man bis in die jüngste Zeit consequent fort gefahren ist. Fragt man nach der Zahl der«»-, welche im Ganzen dem türkischen Fanatismus zum Opfer fielen, so kommt man doch aus ganz ungeheuerliche Zahlen, und es fragt sich noch sehr, ob die Zabl 900 für die Opfer im Districte Sassun und manche andere Angabe der Blaubücher authentisch ist, da die Commission erst ein halbes Jahr nach den Metzeleien dort eintraf und die Aussagen der armenischen Zeugen, welche als durch Furcht vor der Rache der Kurden befangen bezeichnet werden müssen, auf volle Glaubwürdigkeit keinen Anspruch erheben können. Will man aber den Armeniern seine Sympathien entziehen, weil sie mit den Ausschreitungen ansingen? Jahre hindurch haben sie die Roheiten und Bedrückungen der Kurden geduldig ertragen, bis sie endlich die Geduld ver loren. Sie gelten als eine durchaus ruhige, gutmütkige, arbeitsame Nasse und würden zweifellos keine Ausschrei tungen begangen haben, wenn sic dazu nicht erst pro vocirt und durch ihre beklagenswertbe Lage getrieben worden wären. Selbst der Commissionsbericht erkennt an, daß die türkische Regierung ibrer ersten Pflicht nicht nach- gekommcn ist, und zwar der Pflicht, allen Claffen ihrer Unter lbanen Schutz zu gewähren. Wie in Armenien, so ist es ja auch in Makedonien und überall in der Türkei» wo die Be völkerung sich zum Cbristenthum bekennt: Religiöser Fana tismus türkischer Behörden, türkischer Soldaten, türkischer Ärbeitgeber, namentlich auf dem Lande, macht den Christen das Leben zu einer Last, ja vielfach zur Qual. Darüber liegen unanfechtbare Berichte völlig einwandfreier, glaub würdiger Zeugen vor, die nicht aus der Welt zu schaffen sind. Schon im Berliner Vertrage war der Erlaß von Reformen sür die armenischen Landestheile ver langt worden, und an die Einlösung des Versprechens, solche Fe«Nletsir. Annalise's Pflegemutter. 85j Roman von L. Haidheim. Nachdruck vnl-otcn. „Knitter?" ächzte die Kranke und Preßte die Hände auf das Herz. Sie sah tödtlich erschrocken aus. „Er, Mama! Sie sagen, um schnell zu seinem Gelbe zu kommen. Er hat — er soll schon fast überführt sein." „O, mein Gott! O, mein Gott!" stöhnte Adele Iwanowna. „Und wo ist mein Schwager? Todt?" „Man weiß es nicht, Mama! Aber sie sind so unglück lich und ganz arm, die Tante und Carola —" „Erinnere mich nicht! Wenn Du wissen könntest, wie eS hier innen aussieht! Die Reue, ich habe mich dagegen ge wahrt, o, wie sehr! Aber das ist stärker; ich bin am Ende. Ich sterbe, Annalise, es ist unmöglich, so weiter zu leben. O, könnt' ich noch einmal anfangen! Ach, ach!" Minutenlang jammerte Adele Iwanowna so vor sich hin, die Hände ringend, sie in einander krampfend, mit ganz ver zerrtem Gesicht, eine Beute der qualvollsten Gedanken. Dann raffte sie sich auf. Die Todesangst kam. „Lasse mir Deinen alten Doctor rufen, Mohnreut soll kommen! Er ist ehrlich, er soll mir sagen, wieviel Tage oder Wochen er mir noch giebt. Nur nicht sobald sterben! Ich will erst sühnen, ich. — Und ich kann eS. Du und Natalie, Ihr Beide. — Ich will Gutes thun mit meinem Gelbe! Sieh dort, ich soll dem alten Schurken Alles ver machen, sonst wollte er mich — verrathen. — So schlecht wie der, bin ich nicht, nein, aber. — Hörst Du — Kind? Natalie, sie soll mein Geld haben, — die eine Hälfte, — Du die andere. — Aber noch nicht, noch darf ich nicht sterben! Ich muß noch leben, — mein Gott, lasse mich noch nicht —!" Sie veränderte sich mit jedem mühsam gekeuchten Wort. Und jetzt — Ein erstickter Schrei brach von ihren Lippen, sie schnellte nach Last ringend empor» dann sank sie bleischwer in Anna- lise's Arme, die, selbst halb todt vor Schrecken, nicht die Kraft hatte, die Sterbende zu halten. „Hilfe! Hilfe! Sie wird ohnmächtig!" rief Aniialise. Aus der Kammer stürzte die Gärtnerfrau. Sie hob mit kräftigem Arm die zum Skelett abgcmagerte Gestalt und trug sie mit Aiiiialise'S Hilfe auf das Bett. Ein Zucken, ein Sichstrecken, und dann ein langer Seufzer, der letzte. Annalise begriff. Aber es war doch so unfaßbar, daß dies der Tod sein sollte. Eben noch sprach die Kranke mit ihr, und nun sollte sie für ewig stumm sein ? todt? Entrückt in das unbekannte Jenseits? Sie wollte, konnte es nicht glauben. Sie horchte an der Brust der Tobten auf den Herzschlag; Alles still, ganz still; schon zog die Blässe des Todes über das Gesicht, und die Züge begannen sich zu ebnen. „Joachim!" Annalise s erster Impuls war, an sein Herz zn fliehen; aber durfte sie die Tobte verlassen? So schickte sie die Gärtnerfrau: er sei bei seiner Mutter. Diese lief laut klagend nach dem Pavillon. Doctor Mohnreut, der Annalise und Joachim mitgcbrackt hatte und dann weitergefahren war, kam jetzt auf den Hof. Annalise stürzte ibm entgegen, zog ihn in das Zimmer, an das Todtenbett. Bestürzt sab er, was geschehen war. „Sie ist todt, Annalise!" sagte er mitleidig und fragte, ob sie schwer gekämpft habe, forderte, sie solle sich zusammen- nebnien. Sie gehorchte, so gut sie konnte. Annalise berichtete in fliegenden Worten. Daß Adele Iwanowna sich mit ihr versöhnt hatte, war dem erschütterten Mädchen jetzt die Hauptsache. „Bleiben Sie hier, ich gehe zu Frau von Linowitz", be stimmte er, und wieder war sie allein mit der Leiche. Zart und sorgsam legte sie ihr die schon kalten Hände zureckt, ordnete das etwas verwirrte Haar über der bleichen Stirn und dann kniete sie nieder am Bett nnv sah still in das stille, von Leiden verheerte Antlitz, daS einen wunder voll ruhigen Ausdruck annahm. Einen Schmerz fühlte sie nicht; im Gegentbeil tiefen Frieden. Nun gehörte si« Joachim, kein Anderer batte ein Recht auf sie. Nnd die Pflegemutter war versöhnt von ihr geschieden. So fanden sie Fran von Linowitz und Joachim. Tbränen- loS, ganz still und ruhig, aber sehr ergriffen. Sie trat ihnen entgegen. „Mutter! Nimm sie an Dein Herz!" flüsterte er. Frau von Linowitz hatte die Bitte nickt erst erwartet. Sie hielt Annalise schon umschlungen. „Wir wollen uns lieb haben und treu zu einander stehen. Gott wird unS aus unserer Noth helfen!" sagte sie sehr bewegt, in der festen Ueberzeugung, daß Adele Iwanowna sie enterbt habe. Der Anblick der Tobte», die Erinnerung an daS tiefe Zerwürfniß zwischen ihnen, ihres Gatten Rückkehr und die hoffnungslose Armilth, die ihnen entgegenstarrte, machten Frau von Linowitz ganz fassungslos. Sie schluchzte herzbrechend. Molmreut und Joachim führten sie hinweg. Wieder blieb Annalise allein; aber nun drängte sich das ganze Hofpcrsonal an den Thüren nnd Fenstern: jeder wollte die Tobte sehen. „Was ist der Mensch? Nun hilft ihr all' ihr Geld nicht mehr!" war der oft wiederholte AnSruf der Leute. Annalise ordnete sackte das Zimmer. Es sab noch genau so unordentlich aus, wie es Adele Iwanowna stets um sich zu haben pflegte. Dabei fiel Annalise der breite Ledergurt in die Hand. Was war das? Sic betrachtete daS feine, Weiche Leder, die vielen Taschen, in jeder Papiere. Da? erste, das sic heransnahin und öffnete, war in russischer Sprache verfaßt, die sie nicht sebr geläufig laS: aber das verstand sie dock, eS war ein Testament, die Namen Natalie und Adele Iwanowna standen nebeneinander, „meine Universalerbinnen" entzifferte sie obne Müde weiter, und die Unterschrift der Großmutter der beiden Schwestern. Da kam Joachim zurück. Er dankte ihr mit warmem Blick für ihr sorgliches Walten. Eie hielt ihm das Schriftstück hin. »Pieber, sieb! Was bedeutet vieS?" Er sprach und las das Russisch», seine „Muttersprache", geläufig. Sie blickte ibm ins Gesicht, wäbrend er bald sie, kalb das Schriftstück in maßloßcr Ueberraschung anstarrte. „Woher hast Du dies? Es ist jenes Testament der Großmama, von dem wir immer glaubten, daß es eristirt habe, und welches sich bei ihrem Tode nicht fand. Sieh her — beide Schwestern sollten sie beerben zu gleiche» Tbeilen, ganz wie sie cs Mama hatte hoffen lasten. Fandest Du es hier?" Er zeigte auf den mit Papiere» bedeckten Tisch, den sic in eine Ecke gerückt batte. „Nein, Lieber! Es steckte in jener Tasche!" Er nabm den Gurt, besichtigte ibn verwundert, erklärte sich dessen Verwendung und zog einzelne der Papiere heraus. Es waren die Depositenscheine verschiedener Banken, ans hohe Summen lautend, alle ganz dünn zusammengelezt; offenbar hatte Adele Iwanowna nicht gewagt, ihre Reichthümer und wichtigen Papiere anderswo aufzubeben als am eigenen Körper. Joachim interessirte vorläufig nur da- Testament. Wie oft war bei ihnen der Fall besprochen worden, daß es sich finden könnte! Ein späteres war nicht gemacht, das stand fest, aber ein älteres existirte noch und trat wieder in Kraft durch das Verschwinden des zweiten. Se. Ercellenz und der Notar kamen sebr eilig angelaufen. Man hatte ibnen, als sic von dem Spaziergange zurück kehrten, den Tod der Baronin entgegengerufen. Der StaatSratb, welcher vor einiger Zeit seine Entlassung auö dem Dienst erhalten batte, sab unbeschreiblich verstört aus, aber er rang nach der gewohnten Würde. Daß dieser Schlag ibn furchtbar traf, konnte er doch nickt verbebien. Seine Selbstbeherrschung zu bewahren, gelang ihm aber nicht. Wie kam dieser junge Mann hierher, den er in« Gefäng niß wußte, der Brandstiftung angcklagt? „Was haben Sie da?" fragte er Joachim scharf. „Es steht Ihnen kein Recht zu, hier irgend etwas anzuordnen. Ich bin der Nächste, weicher dazu ein Reckt bat." Ein heißes Roth schoß in Ioachim'S Gesicht. Aber ihm gelang eS bester, sich zu bezwingen. „Danken Sie eS der Achtung vor dem Tode und Ihren Jahren, Excellenz, daß ick den Ton »ntscknldigi» brn Ti» biir anstrmmen. D»r Herr
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