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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.04.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-04-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970430010
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897043001
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897043001
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-04
- Tag1897-04-30
- Monat1897-04
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AuS Kreisen des alten CurseS wird unS geschrieben: „Die osficiöse „Berliner Correspondenz" hat kürzlich ein höchst bemerkenswerthes Erkenntnis des Disciplinarsenats dcS OberverwaltungSzerichts mitgetheilt, daS sich früheren Auf fassungen dieses Gerichtshofes in Sachen der Socialdemo- kratie in befriedigender Weise anschließt und überall da mit Genugthuung begrüßt worden sein wird, wo man die sociale revolutionäre Propaganda ihrem wahren Wesen nach richtig beur- theilt.DaSOberverwaltungSgerichthatwiederholt ausgesprochen, daß die socialdemokratische Partei notorisch die Grundlagen der bestehenden Rechts- und Staatsordnung principiell be kämpft und, wofern sie die Macht zur Verwirklichung ibrer Ziele hätte, bis zu deren Erreichung auf gesetzmäßigem Wege schwerlich warten würde; ferner, daß in der Ausbreitung der socialdemokratischen Gesinnung unter der Bevölkerung eine große Gefahr für Staat und Gesellschaft liege. Wenn eine so hohe richterliche Behörde wie das Ober verwaltungsgericht diese Auffassung in einem Namens deS Königs ergehenden öffentlichen Rechtsspruch amtlich vertritt, so wird damit die denkbar schärfste Kritik an der Politik geübt, welche bezüglich der Socialdemokratie zu Anfang des Jahres 1890 im Gegensatz zu der früheren eingeschlagcn wurde. Man war damals der Ansicht, daß der Soccal- demokratie mit der Behandlung, welche Fürst Bismarck in Gestalt deS Socialistengesetzeö gegen sie zur Anwendung ge bracht hatte, Unrecht geschehen sei, daß sie gar nicht auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden StaatS- unv GcseÜichaftsordnung hinarbeite, daß sie vielmehr durch Entgegenkommen, Versöhnlichkeit und immer weitere Zugeständnisse nicht nur entwaffnet, sondern wo möglich zu einer breiten und starken Stütze des „socialen KöniglhnmS" allmählich umzugestalten sei. Fürst Bismarck mit seinem über legenen Urtheile und seiner großen Erfahrung glaubte dies nicht, sondern wollte den Kampf, und zwar mit verschärften Waffen, gegen die Socialdemokratie fortgesetzt wissen, weil er in UeberestisUMmung mit der' Auffassung, die »etzl vom Oberverwaltungsgericht vertreten wird, in der socialisti- schen Propaganda die schwerste aller Gefahren erblickte, die den modernen Staat bedrohen. Wie in allen Fragen, in denen sich seine Beurtheilung von der deS neuen Enrses unterschied, hat der alte Fürst auch hier Recht behalten. Die Politiker, die damals glaubten, mit der Socialdemokratie ohne Repressivmaßregeln allein mit „geistigen Waffen" und durch Appell an ihre Loyalität „fertig" werben zu können, haben sich schwer geirrt. Die Socialdemokratie ist durch die falsche Behandlung, die man ihr hat zu Theil werden lassen, lediglich übermüthiger und frecher ge worden, die Zahl ihrer Anhängerschaft hat sich verdoppelt und verdreifacht, weil alle unzufriedenen Elemente, ohne selbst socialistisch zu sein, ihr zuliefen, nachdem kein Staatsgesetz mehr die socialdemokratischen Bestrebungen als das stigma- tisirle und dem Volke zum Bewußtsein brachte, was sie wirklich sind: staatSgesährliche revolutionäre Umtriebe, die den Bestand, die Sicherheit und Wohlfahrt des Landes ge fährden, und deren Begünstigung oder Förderung mithin eine Handlung darstellt, die gegen die Landesgesetze verstößt und von den ordentlichen Gerichten bestraft wird. Der Kaiser selbst bat sich offenbar durch die gemachten Erfahrungen über die Gefährlichkeit der Socialdemokratie helehren lassen; er dürfte schwerlich mehr dieselben Ansichten begen, die im Februar und März 1890 zum Bruch mit dem Fürsten Bismarck und dessen Politik geführt haben. Er hat wiederholt und in schärfster Weise die Socialdemokratie als gemeingefährliche Umstnrzpartei bezeichnet und in eindring lichster Weise zur Bekämpfung derselben öffentlich auf- gefordcrt. Vergegenwärtigt man sich diese Sachlage und nimmt hinzu, daß das königl. preußische Oberverwaltungsgericht die Socialdemokratie und die Ausbreitung ihrer Lehre als eine schwere Gefahr für das Land bezeichnet, so fragt man sich, wie cs möglich und mit der amtlichen Verant wortlichkeit der Minister vereinbar ist, daß nichts destoweniger keine Initiative des preußischen Ministeriums zur pflichtgemäßen Bekämpfung der drobendcn Gefahr beim BundeSrache erfolgt. Hier liegt ein Widerspruch vor, der dringender Aufklärung bedarf. Der LandeSberr und ein oberster Gerichtshof bezeugen in unzweideutigster Weise daS Obwalten einer schweren Gefährdung der Landcssicherheit und Wohlfahrt durch die socialdemokratische Agitation. Aber trotzdem vergeht ein Jahr nach dem andern, ohne baß etwas Ernst liches geschieht, um dieser Gefahr zu begegnen. Woran liegt daS ? Die muthmaß'iche Verwehr-: eine» neuen Srecialge ctzcs gegen die Socialdemokratie durch den Reichstag kann doch eine Regierung, die sich ihrer Pflicht und ihrer Verantwort lichkeit bewußt ist, nicht abhalten, eine solche Vorlage dennoch einzubringen und ihre Annahme mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen, wenn nicht anders, dann auf dem Wege wiederholter Auflösungen deS Reichstages! Kann die Regierung nicht zu dem Entschluß gelangen, entsprechend vorzugebcn, so darf sie sich nicht wundern, wenn in den urtheils- fäbigen Theilen der Bevökerung, namentlich in den Kreisen der gebildeten und besitzenden Classen der Verdacht anfkommt, es seien nicht sachliche, sondern persönliche Gründe, welche bewirkten, daß der kaiserlichen Aufforderung zur Bekämpfung der Socialdemokratie seitens der berufenen Organe der Staatsregiernnz keine Folge geleistet werde; denn das auf fällige Zögern ist nachgerade auf keine andere Weise mehr zu erklären. Tie öffentliche Meinung gewöhnt sich von Tag zu Tag mehr daran, zwischen Worten und Thaten in einer Weise zu unterscheiden, welche für die Entschlossenheit und den moralischen Werth der leitenden Kreise wenig schmeichelbaft ist. Man verliert daS Vertrauen zu der Fähig keit der heutigen maßgebenden Politiker, Worte in Thaten nmznsetzen und mit kräftiger, energischer Hand, getrieben vom kategorischen Imperativ des PflichtbewußtseinS, herzhaft und auf jede Gefahr hin zuzugreifen, wo es nöthig ist. Es ist nur zu begreiflich, daß hierdurch die Sehnsucht nach der Rückkehr zu einer entschlossenen, zielbewußten und starken Politik, wie sie nach innen und nach außen unter dem Fürsten Bismarck geführt wurde, erheblich gesteigert wird. Dieser Mangel an Vertrauen und Zuversicht zu der Kraft und Entschlossenheit der Regierung bildet die haupt sächlichste Quelle der unbehaglichen und unsicheren Stimmung, in der sich ein leider nur zu großer Thei! deö deutschen Volkes befindet. Man sagt sich: Wenn wir gegen die Socialisten keine Eourage haben und uns von ihnen auf der Nase berumtanzen lassen, gegen wen wollen und können wir uns denn überhaupt mit Erfolg wehren, komme der Feind von innen oder von außen? Man hat das Gefühl, daß, wenn die Politik mit Worten und schöner Beredtsamkeit zu machen wäre, wir Wohl geborgen und die erfolgreichste Nation der Welt sein würden, daß aber, weil die Sicherung und die Wohlfahrt des Landes nur durch unausgesetzten Kampf, durch entschlossenes Handeln und Zuzreifen zur rechten Zeit zu erreichen ist, wir bei dem Mangel an Geneigtheit und Fähigkeit unserer leitenden Staatsmänner hierzu nicht mit dem Maße von Vertrauen in die Zukunft ^licken können, wie dies früher der Fall war. Wir würden es als' ein erfreuliches Symptom einer bevor stehenden Wendung zum Besseren begrüßen, wenn die Leiter der Reichspolitik sich zunächst einmal der Socialdemo kratie gegenüber zu einem mannhaften Entschluß aufraffen könnten." Soweit die Zuschrift. Bekanntlich hat kürzlich die „Köln. Volksztg", ohne demenlirt zu werden, die Be hauptung aufgestellt, der Kaiser bestehe auf einer neuen Umsturzvorlage, die der nächsten ReichS- tagSsession als „Hauptarbeit" zugedacht sei. Wäre das richtig, so stände man vor der interessanten Thatsache, daß dieselbe Frage, die s. Z. am meisten zu der Entfremdung zwischen Kaiser Wilhelm II. und dem Fürsten Bismarck bei getragen hat, den Kaiser zur Wiederannäherung an den „alten Eurs" genöthigt hätte. Man stände aber auch zu gleich vor einem Ereigniß von wahrhaft tragischer Natur. Daß die jetzige Negierung mit einem neuen Socialisten- oder Umstnrzgesetze weder im jetzigen Reichstage durchvringen, noch günstige Neuwahlen erzielen würde, bedarf keiner wei teren Begründung. Sie würde nur Niederlagen auf Nieder lagen häufen. Den „alten EurS" zu steuern, vermochte nur Bismarck. Von seiner Rückkehr kann aber jetzt weniger als jemals die Rede sein. Wer ihn entbehren zu können glaubte, muß daher auch auf das verzichten, was nur ein Bismarck durchzusetzen vermocht hätte. Deutsches Reich. t! Berlin, 29. April. BemerkenSwerth für die Beur theilung der Frage, wie die Finanzlage im Reiche und demzufolge die finanzielle Möglichkeit, notwendigen An forderungen der Laudesvertheid igung zu genügen, sich ge staltet, ist der Umstand, daß nach dem Ausweise der Ist- einnahme der Zölle, Reichssteuern und NeichSbetriebSver- Wallungen der Etat für daS vorige Jahr um mehr als 100 Millionen überschritten wird. Nachdem davon über 59 Millionen Mark theils zur Tilgung, theils zur Vermin derung von Crediten verfügt worden sind, bleibt außer einem für das nächste EtatSjahr verfügbaren sehr beträchtlichen Ueberschuffe der Reichscasse noch ein Betrag für Neber- weisungen, welcher um 15 Millionen die Matricularumlagen überschreitet. Ist die Bilanz der ReichSfiuanzen gegenüber denjenigen der Bundesstaaten trotz des diesen zur Tilgung von Neichsschulden entzogenen Betrages von 50 Millionen Mark mithin wieder activ, so ist nicht nur zum ersten Male auch das Extraordinarium des außerordentlichen Etat- in vollem Betrage auS den laufenden Einnahmen bestritten worden, sondern eS sind außerdem auch noch über 45 Millionen Mark zur Begleichung von Ausgaben anderer Jahre verfügbar ge- aeblieben. Einschließlich der den Bundesstaaten über die Matricularumlagen hinaus zufließenden 15 Millionen Mark hat daher das Jahr 1896/97 volle 60 Millionen Mark über die Ausgaben deS Jahres einschließlich der einmaligen Aus gaben deS außerordentlichen Etats geliefert. Diese Thatsache wirft ein Helles Streiflicht auf die wiederum bei der Be ratung des Nachtragsetats hervorgetretenen Klagen über Fenttlatoir. Ostender Stillleben. Von PaulLindenberg. Nachdruck verbetm. Ostende, 16. April. „Wie finden Sie unsere Ausstellung?" fragte mich ge spannten Ausdruckes ein Brüsseler am Abend des Eröffnungs tages der Internationalen Ausstellung in Brüssel. „Wenn ich sie erst gefunden habe, kann ich Ihnen auch Antwort geben", mußte icd ihm erwidern, „vorläufig war dieser Liebe Müh umsonst!" Ja, sehr umsonst! Den Ausstellungsplatz habe ich ja mit Hilfe eines findigen Eollegen entdeckt, sah auch einige fertige und noch mehr unfertige Gebäude, durchwanderte die Riesenhalle,"um zehn Mai in Lebensgefahr zu gerathen, von drohenden Balken erschlagen zu werden, in .Mörtel bottichen zu versinken, einem Axt- oder Spatenhiebe der emsig arbeitenden Soldaten — denn die Arbeiter streikten oder eS waren ihrer zu wenig — zn erliegen und rettete mich glücklich ins Freie, wo ich unter Lobpreisung meiner einstigen Turnlehrer mit einigen kühnen Sprüngen über breite Gräben, mit dem Besiegen mächtiger Sckutthügel dem geschickten Ausweichen vieler Dutzende von Karren und Lastwagen endlich den Ausgang erreichte. UebrigenS wird die Ausstellung mit ihrem hübschen landschaftlichen Nahmen sehr sehenswerth und interessant werden, kein Zweifel, Brüsseler mit dauerhafter Gesundheit werden ja auch Wohl ihre Vollendung erleben, ebenso wie anzunehmcn ist, daß in einigen Tagen schon etwas mebr zu sebcn sein wird, und da ich's in der journalistischen Geschicklichkeit doch noch nicht so weit gebracht habe, über gänzlich leere Säle einen blühenden Artikel zu schreiben — „der Mann taugt nichts!" werden allerdings erfahrenere Genossen von mir sagen — so rettete ich mich, entgegengesetzt dem berühmten Muster, in die Einsamkeit hierher. „In die Einsamkeit von Ostende?" höre ich erstaunt fragen, „der Mensch lügt doch, lügt wie — gedruckt!" Nein, obwohl» gedruckt dasteht, eS ist diesmal wirklich wahr, ich bin einsam in Ostende, in demselben Orte, in welchem sich allsomiuerlich an fünfzigtausend Fremde umhertnmmeln, einsam in dem eleganten Bade, welches sonst den Zielpunct zahlloser Schwärme von Reisenven auS aller Herren Ländern und daneben der heißesten Wünsche bildet, und ich fühle mich unendlich wohl in dieser Einsamkeit. Schon meine Ankunft mit dem Erpreßzuge gestern früh, was sage ich Ankunst, mein Einzug in die Stadt, waS war da» für ein Triumph, mit welch selbst herrlichen Gefühlen konnte er mich erfüllen! Mitleidig dachte ich dabeiderarnienSominergäste,wiesie ihrGepäckoftselbstschlrppen müssen, da über alle dienstbaren Hände verfügt ist, wie sie von Hotel zu Hotel irren, um die furchtbare Wiederholung zu hören: „Alles besetzt!", wie sie endlich sich mit einem jämmerlichen Kämmerlein für zehn Franc» den Tag de gnügen müssen, wie sie in den Restaurants nicht als denkende Menschen, sondern bloS als zahlende Maschinen behandelt und auSgepochert werden, daß ihnen Hören und Sehen vergeht, na und ähnlich fort. Da konnte ich mir wie rin Fürst Vorkommen, eine gar nicht unangenehme Empfin dung, wie ich versichern darf. Dreißig Hausdiener rissen und prügelten sich auf dem Bahnhofe um mein Köfferlein, dreißig Stimmen priesen mir in Französisch, Englisch, Deutsch > daS beste Hotel an, sirenenhast klang eS in allen Zungen.! „billige Preise", und als endlich der Herkules eines Hotels in unmittelbarer Nähe des Curhauses den Sieg über seine Eollegen davongetragen, da folgten ihm der neidischen Blicke und Reden genug, denn ich war hier der einzige Fremde, der angelangt mar, da die übrigen Insassen des Zuges sich sofort auf daS nach England gehende, neben dem Schienenstrange liegende Dampfschiff begaben. Welch' ein Empfang dann im Hotel! Madame im blauen Seidenkleide begrüßte mich mit bewill- kommenden Worten, Jean, der Oberkellner, Alfred, der Jüngling des Restaurants, Lisette, daS Stubenmädchen, denen sich der Hausknecht mit dem kübn eroberten Koffer und Piccolo mit dem Regenschirm anschlosien, geleiteten mich feierlich in das Zimmer, welches ich mir unter vierzig aus suchen konnte, denn ich bin ja der einzige Gast! Wie ein Prinz werde ich verhätschelt bei Tisch, Jean bat mich, meinen Platz nabe der großen Spiegelscheibe einzunehmen; „wissen Sie, mein Herr, damit'S die Anderen sehen!" Ich kann das Dejeuner und Diner in allen Einzelheiten bestimmen, kann essen, wenn ich will, die Hausordnung richtet sich ja nach mir — so lebt man in Ostende in der „tovten «Saison!" Sie ist noch „todt", diese Saison, jeder Schritt überzeugt uns davon auf der Promenade, wo sich sonst ganz Europa ein Rendezvous giebt, auf der Digue, dem herrlichen Spaziergange längs deS MeereS. Die äußeren Hallen deS prächtigen, monumentalen CurhauseS sind mit Brettern ver schlagen, dasselbe Bild zeigt noch die Mehrzahl der vor nehmen Hotels und Villen, die großen Läden sind geschlossen, verbarrikadirt die Terrassen der eleganten Restaurants, wo sonst seidene Schleppen rauschen und Caricaturen von Männern mit Anstrengung die Worte bervorbringen, wie „Gnädige, Bad überstanden", spielen die Kinder der Schiffer, nirgends auf dem gelben Strande ein Badekarrrn zu ent decken, nirgends eine verdrehte Ausgeburt der neuesten Mode zu finden, doch wozu braucht man all' daS — das Meer ist ja da in seiner wunderbaren Erhabenheit, brausend und schäumend kommen die Wogen angestürzt und sprudeln mit weit weißem Gischt an den festgefügten Steinmauern empor, in wildem Spiel bäumt sich Welle über Welle, die Schiffcr- boote da vor un» tanzen auf und nieder, ein großer Dampfer dort hinten zieht zielbewußt seine Bahn, im goldigen Frühlingssonnenschein flattern zn unseren Häuptern die Möven, und bald rollend und grollend, bald schmeichelnd und kosend singt un» die See ihr großes, unvergängliche» Lied, die schönsten Weisen im gewaltigen Orchester der Natur. Stundenlang kann man draußen stehen am äußersten Ende des Pier, nicht gestört durch thörichteS Geklatsch und Ge tratsch, in eine Holzkütte gekleidet ist daS sich hier Über den Wogen erhebende Eaf6, einige Fischcrjungen liegen lang aus dem Bauch und strecken die Kopfe durch die Barriere, um zu sehen, ob sich dem Angelhaken noch immer nicht- nahen will, dicht an un« vorüber fahren nach dem Hafen »u die Barken mit der reichen Ernte deS Meere», in großen Massen häufen sich die glänzenden Steinbutten übereinander, in mächtigen Körben kribbelt» und wimmelt» von grauen Seekrebscn, lange Butten beherbergen die Vlatten Schollen, die schweren Schellfische und grauenhaften Nochen, und dort, nahe dem Vischmyn, der runden Halle für die Fisch- , Versteigerungen, warten schon die Frauen mit ihren weißen i Häubchen und den Strickstrümpfen in den fleißigen Händen, * um den Fang im Einzelnen davonzutragrn. Aber was poltert und holtert denn da auf dem langen Holzwege plötzlich heran — die moderne wilde Jagd, ein Schwarm radelnder Französinnen, jung, hübsch, flott, fünf an der Zahl, und chic, o ja, sehr chic, vom Kopf bis zn Fuß, daS sieht man, wenn ein indiScreter Windsturm kommt — und der Wind auf diesem Pier ist oft indiscret! — aber schon sind sie wieder fort und biegen in kühnem Bogen nach deni Damme zu ein, dem Eurhause zneilend. Richtig, da ist ja heute Nachmittag, zur Feier des FrühlingSsonntagcs, in der Rotunde „ürruul Ooncort public^, das muß man sich wirklich anhören, nicht wegen . . . , nein, nein, die kecken Französinnen sind ja, glaube ich, vorbeigefahrcn, aber man kann ja doch einmal Nachsehen, was los ist, ein bischen Musik schadet übrigens nie . . .! Der gewaltige Raum macht gleichfalls einen ziemlich öden Eindruck, überall sieht man die Spuren der Herstellung der Toilette für die kommenden Monde; unten drängt sich die Bevölkerung OstendeS, die älteren Semester, sehr ehrbar ausschauende Damen und Herren, sitzen auf Stühlen in der Mitte und lauschen höchst aufmerksam der gratis gespendeten, recht guten Musik, die jüngere Welt wandert rings herum in weiten Bogen: hübsche, freundliche Blam- länderinnen mit wundervollem blonden Haar und rothen Wangen, daun die Elegants der Stadt in schwarzen« Geb rock und mit blauen Eravatten, die kleinen Pitou-PitouS (wie man auch hier die Infanteristen nach Pariser Muster nennt) mit frisch lackirten EzakoS, wettergebräunte Fiscker, denen der ungewohnte leinene Kragen höchst unbequem sitzt, ein Schock Engländer und Engländerinnen, die hier über wintert haben, nirgends aber der Tust von Patchouli oder Ulang.-flang, nirgends Pariser Toiletten, Ostende ist ganz unter sich. Da könnte ich womöglich stören hinaus also wieder auf die Digue, sie ist jetzt völlig leer, einige uralte Meergreise mit weißen Stoppelbarten sitzen auf einer Bank und schnurren sich wahrscheinlich kolossale Abenteuer vor, aber dort plötzlich ein eleganter junger Mann, er nähert sich und grüßt mich höflich. Herrjeb, das ist ja Jean, mein Oberkellner, der sich und eine lange Havannah spazieren führt. „Na, Jean, Niemand an gekommen?" — „Nein, mein Herr!" — „Wirklich Niemand, Jean, wenn auch nicht bei Ihnen, so doch vielleicht wo ander»?" — Jean schmu«uelt, zwinkert mit den Augen und flüstert mir etwas ins Ohr, obgleich keine Seele in der Nabe ist; gedämpft setzt er hinzu: „Wissen Sie, mein Herr, eS sind die ersten Zugvögel, auS Pari», bald geht- nun loS, mit dem Spazierengehen ist'» zu Ende, aber dir Trinkgelder sangen an ", und er lächelt dabei vrrständnißvoll. Za, ja, ich versteh», Jean, und morgen packe ich meinen Koffer! — — Meyer's Converjations-Lerikon, Land XV. Man hat das TonversationS-Lexikon vielfach alS den Gradmesser der heutigen Cultur bezeichnet. Da» ist richtig, soweit man von der Bearbeitung eine» solchen Werke» vorauSsetzen darf, daß sie dem einzelnen Gegenstand unter Berücksichtigung der herrschenden Strömungen gerecht wird» seine Bedeutung von der gesammten geistigen Bewegung auf jenem Gebiete ablriret und so ein Spiegel bild mrnichlichrr Forschung und Thütigkeit schafft, da« vollen Ein blick gewährt in die Entstehung, Gestaltung und Ausbreitung jeder Wissen-srage bis auf die Gegenwart. Es muß zugestanden werden, daß da» Meyer'schr Werk auch diesen modernen Anforderungen vollkommen entspricht. Es unterrichtet über die älteren Forschungen mit derselben erschöpfenden Gründlichkeit, mit welcher eS den Ereig nissen der Gegenwart auf Schritt und Tritt folgt. Das besonders sollte jeder beherzigen, der die brennenden Tagesfragen und ihren innern Zusammenhang zurückversolgen, gegenüber den täglichen Ein drücken zu einem klaren Urtheil gelangen will. Aus dem ncuerschienenen, die Stichworte „Russisches Reich" (Geschichte) bis „Sirte" umfassenden fünfzehnten Band heben sich die umfangreiche» geschichtlich-geographischen Arbeiten über das Russische Reich, Russisch.Centralasien (mit Geschichtskarte), Sachsen, Schleswig-Holstein, Schweden, Schweiz (mit reicher Statistik), Sansibar, Sibirische Eisenbahn (mit neuer Karte von Sibirien) ab, die den schwierigen Stoff mit gewohnter Meisterschaft der Bestimmung des Werkes dienstbar machen. Aus den, Gebiete der Kunstgeschichte wird weiteren Kreisen der Artikel „Schauspielkunst" von Interesse sein. Zwei der vornehmsten Repräsentanten und Meister des deutschen LiedeS und deutscher Musik: Franz Schubert und Robert Schumann, sind biographisch vorzüglich gewürdigt. Glänzende lexikographische Leistungen nach Inhalt und Form sind ferner die literaturgeschicht« lichen biographischen Artikel „Schiller", „Schopenhauer". „Shakespeare". Der Autorschaft ausgezeichneter Forscher ver dankt das Werk in diesen Arbeiten Beiträge von hohem wissenschaft lichen Werth, die sich durch Vertiefung, Klarheit des Urtheils und warme Empfindung für das Geistesleben jener Dichter und Denker auszeichnen. Die Abhandlungen aus dem Bereiche der Naturwissen schaften, der Physik und der Technik weisen auch in der gegenwärtigen Fortsetzung die herkömmlichen Vorzüge der Bearbeitung aus. Die Artikel „Salz" (mit Tafel „Salzgewinnung"), „Schaugebilde" (mit farbiger Tafel), „Schmarotzerpflanzen" (mit farbiger Tafel, „See" (mit Tafel „Scebildungen"), „Schall" (mit vielen Text- illustrationeift, „Schießpulver", „Schiff" (mit Tafel „Schiss- bau") und „Silber" (mit Tafel „Silbergcwinnung") sind gleich musterhaft in erschöpfender, gemeinverständlicher Darstellung des Gegenstandes. Dem Kunstacwerbe sind die instructiven Aussätze „Schmicdekunst" (mit Tafel) und „Schmuck" (mit Tasel „Schucksachen") gewidmet, während die Architectur neben andern Beiträgen besonders durch den Artikel „Säule" (mit Tasel „Säulenordnnngeir") eine würdige Vertretung gefunden hat. Reiches fachmännisches Wissen ist in den der Laudwirthschaft zugehörigen Mittheilungen über Saat, Säe Maschinen (mit Tasel), Schaf zucht (mit Tasel), Schweinezucht (mit Tafel), Schlachthaus re. niedergelegt. Neben dem Reichthum an bildlichen Darstellungen (wir zählen in dem neuen Band außer 250 Textabbildungen nicht weniger alS 87 Sondertafeln, darunter 13 Tafeln in Farbendruck und 21 Karten und Pläne) fällt aber auch die planmäßige AuS- gestaltung dieses Theils bei der Beurtheilung deS Meyer'jchen Werkes ins Gewicht. Einleuchtend veranschaulicht eine Anzahl der neu eingefügten Jllustrationstafeln die für das neue Werk charakteristischen Merkmale der Umgestaltung und Erneuerung ini Geiste der modernen Forschung und Erkenntniß. Daneben pflegen die Herausgeber mit Sorgfalt die weitere Ausführung der in frühern Bünden zu Tage getretenen Ideen. So begegnen wir aus natur- wissenschaftlichem Gebiete den in prachtvollen Farbendrucken aus- grsührtrn Tafeln „Schaugrbilde der Pflanzen", „Schling- pflanzen", „Seeanemonrn"rc.. ferner der auf photographiichen Ausnahmen beruhenden Holzschnitttasel „Schneegebilde" u. a.; die Tafeln „Schiff-typen" bringen die Entwickelung de» Schiff baues vom Alterthum bis zum moderne» Oreandampfer und eisernen Segelschiff in historischer Treu» zur Darstellung. Der umfangreiche kartographische Apparat ist bereichert worden durch thiergeographische Karten (wie die „Karten zur Verbreitung der Säugethierc"). Auch dir geologischen Karten der Hauptausflugsgebiete Deutschland» haben durch eine solche des Schwarzwa'.de» eine Erweiterung erfahren. Endlich sei noch LeS instructiven Blattes „Serkartendarsiellung" gedacht, da- sich dem früher erfchtrnenrn Blatte „Landkarten- darstellung" anschlirßt.
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