Suche löschen...
01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.04.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-04-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970423014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897042301
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897042301
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-04
- Tag1897-04-23
- Monat1897-04
- Jahr1897
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
BezugS-PreiS Hl H« -«ptrxpedition oder bea im Ttabt» r»trk ,»d du Bororten «richteten Au«» «chestelleu abgeholt: vtertelj-hrlich^i-LO, bei zweimaliger täglicher Zustellung in« Hau- <-« 5.S0. Durch die Post bezogen für Leotschlaud und Oesterreich: viertrljährltch . Direkte tägliche Kreuzbandiendung in- Au-land: monatlich 7üO. Dt» Morgew-AuSgabe erscheint um '/,? Uhr, dt» Abead-Au-gabe Wochentag» um k Uhr, Nedoction r»n- Lnre-itiov: Anzeigen-Prei- i»ie b gespaltene Petitzeile SV Pfq. Reclame» unter der»» Aehactionsstrich (4«» spalten- vor den Familiennochrichte» (6 gespalten) 40^. Erobere Schriften laut unsere« Preis, verzrichnib. Tabellarischer und Ztsiernsatz nach höherem Tartj. Extra-Betlasen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbef-rde»«n> -ck 80.—, mit Postbeförhernng H 7V-. Annahmeschluß für Anzeigen: Iohanne-gasse 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöfstiet vou früh 8 bi- Abend- 7 Uhr. / -Filialen: vttu Slkmm'S Tortim. (Alfred Hahn). Universitätsstraße 3 (Paulinum), Laut- Lösche, Ikatharinenstr. 14, Part, und KönigSpIatz 7!l Anzeiger. Amtsblatt -es Löuigkichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes und Notizei-Ämtes der Stadt Leipzigs Abrnd-Au-gabe: Vormittag- 10 Uhr. Marge «-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen j» eia« halb« Stunde früher. Anzeigen sind stet- «, di» Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Palz iu Leipzig Freitag den 23. April 1897. König Mert's Geburtstag. Al» im verflossenen Jahre das sächsische Volk daS Geburts fest seines Königs feierte, blickte eS mit freudigem Stolze zurück auf eine lange Reihe glorreicher deutscher Erinnerungs tage, an denen alle deutschen Stämme im Verein mit ihren Fürsten dem letzten Repräsentanten der siegreichen Führer in dem gewaltigen Kriege, der uns das Reich und den Kaiser gab, den Zoll der Dankbarkeit und der Bewunderung ent richtet hatten. Dieser freudige Stolz hob unS empor über Vieles, waS im Reiche während deS damals abgelaufenen Jahres unsere Empfindungen verletzt und tiefe Besorgnisse erzeugt hatte, er erfüllte unS mit der Hoffnung, daß die Nachwirkung jener großen Tage manche Quellen deS Un- mutheS verstopfen und dem „ersten Paladin des deutschen Reiches" Gelegenheit geben werde, durch das Schwergewicht seines Rathes im weiteren Vaterlande ähnliche Zustände herbeizuführen, deren wir uns infolge seines weisen und väterlichen Regiments im engeren erfreuen. Auch in das Jahr, das heute für König Albert abschließt, ist ein großer Erinnerungstag gefallen, der Tag der Er innerung an den ersten Geburtstag des ersten Trägers der in jenem Kampfe geschmiedeten deutschen Kaiserkrone. Und wieder richten sich Alldeutschlands Blicke aus Sachsens König, der einst mit Helden- und Opfermuth jene Krone für einen Anderen hatte schmieden und auSzieren helfen und nun in neidloser Treue dem Gedächtniß Kaiser Wilhem's I. huldigte, ja durch den ersten Anstoß, den er zur Verleihung der deutschen Cocarde gab, der Feier ihren schönsten und nachhaltigsten Schmuck verlieh. Und wieder hebt uns der freudige Stolz, zu dem der Antheil Köniz Albert'S an der Centeuarfeier und die Erinnerung an all seine unsterblichen Verdienste um Reich und Kaiser berechtigt, empor über Unmuth und Sorgen, die unS als Bürger deS Reiches heute noch mehr als vor Jahresfrist erfüllen und bedrücken. Vergessen können wir sie auch heute nicht und eS wäre nicht im Sinn unseres Königs, wenn wir sie vergäßen. WaS am Körper des Reiches zehrt und seine Zukunft bedroht, be kümmert ihn um so tiefer, je größeren Antheil er an der Errichtung und dem Ausbau deS Reiches hat und je weniger es spurlos an seinem eigenen Lande und Volke vorübergehen kann. Trotz all der tausendfältigen Beweise treuer Liebe und Verehrung, die ihm heute entgegengebracht werden, verschließt WW-^M-SSSS-S-SS-^ ... n. SS-—-SS unser König sein Auge nicht den Gefahren, die dem Reiche drohen, und aus der Gnade, die ihm vergönnt, in voller Frische deS Geistes und des Körpers in ein neues Lebensjahr zu treten, leitet er für sich die Pflicht ab, nicht nur unermüdlich wie bisher dem eigenen Lande seine väterliche Fürsorge zu Weibe», sondern auch seine Kraft und seinen Einfluß einzusetzen, damit das Reich gemehrt und nicht gemindert werde. Jene tausendfältigen Beweise treuer Liebe und Verehrung seiner Landeskinder erhalten für ihn erst dann den rechten Wertb und erfüllen sein königliches Herz erst dann mit wahrer Freude, wenn in ihnen ein Ton der ihn erfüllenden deutschen Sorgen zittert und wenn sich mit ihnen der feste Vorsatz verbindet, zur Besserung und Gesundung der Zustände im Reiche im steten Aufblick zu dem erhabenen königlichen Vorbilde nach Kräften beizutragen. Wie dieses Vorbild geartet ist, niemals haben wir es bester und freudiger erkannt, als in der letzten Zeit. In strenger Selbstzucht hat König Albert nicht nur seine Neigungen unter die Pflicht gebeugt, sondern die Pflicht erfüllung zu seiner Neigung gemacht. Herr seiner selbst, schreitet er sicher und stetig dem klar erkannten Ziele auf sorgfältig gewähltem Wege entgegen. Nie verheißt ein über hasteter Seitenschritt unmäßigen Wünschen einzelner Gruppen Erfüllung und versetzt andere in Sorgen und Mißmuth. Nie nöthigt ein Abirren von der geraden Bahn zu ver wirrendem und enttäuschendem Zurücklenken. Nie erschüttert ein Widerspruch zwischen Wort und That da- Vertrauen und reizt zum Widerspruche gegen Beides. Nie eilt das Wort als prunkender Herold der That voran- die nach langem Kampfe mit Hindernissen gar oft ein anderes Gesicht zeigen muß, als das vom Herold gewiesene. Nie hindert die Thatensreude die gewissenhafte Prü fung der Folgen aller Maßnahmen für das engere und daS weitere Vaterland, nie daS gefestigte Selbst- bewußtsein die Vermehrung des reichen Erfahrungsschätze». Aus jede- Tage«, jeder Stunde Mahnung horu-euv und jece. Anregung zugänglich, bannt König Albert gleichwohl alle unberufenen Rather und Dränger in die Schranken, die in der konstitutionellen Monarchie von selbst sich ergeben. Fest ruben in seiner Gunst alle Bewährten, auch wenn sie in ernsten Fragen das Wohl deS Lande« und de- Reiches auf anderem als dem von der Regierung eingeschlagenen Wege fördern zu können glauben; denn höher als die Meinung I steht ihm die Gesinnung, höher als die Geschmeidigkeit die ei» Kön a über seinem Volke, uver orn ^ ihrem Streite, der nie °S wagt, ihn l-lbst auf den Kampfplatz berabzuziehen oder seine Weisheit, Gerechtigkeit und Gute ^DaS "sächsische Volk würde dieses Vorbildes völlig un- Werth sein, wenn eS nichts von ihm sich anzueignen vermo , kätte. Thatsachen erweisen und Zeugnisse Berufene auS allen Theilen dcS Reiches bestätigen es, daß wenigstens für einen großen Theil seiner Unterthanen König Albert nicht vergebens vorbildlich zu wirken gesucht hat. Wohl schlagen auch über Sachsens Grenze di- wilden Wogen jenes wüsten Parte,- und Jnt-reffenkampfeS. der die ReichSgesetzgebung 'ahmt, den Blicken immer weiterer Kreise die dringendsten ^.edurfnisf ceS Reiches verschleiert und dadurch ein "nmer bedroh- lichereS Anwachsen der nach den, Umsturz der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung trachtenden Elemente ermöglicht. Aber diese Wogen begegnen in König Albert« Landen einem festeren Widerstande, da die Wenige», d.e sich von ihnen tragen lassen, in der Klarheit und Festigkeit deS Trägers der Krone einen unüberwindlichen Damm finden, hinter dem die ihrem Könige folgenden besonnenen Bürger zur Abwehr sich sammeln. Zaghafter weil boffnungS- Lrmer wagt die Eigensucht sich hervor und die Werber der extremen bürgerlichen Parteien von rechts und links finden hier eine schwächere Gefolgschaft als anderwärts. Leichter als im Reiche und den meisten Einzelstaaten finden die Ver- treter der bürgerlichen Schichten deS sächsischen Volke- auf einer mittleren Linie sich zusammen, froher der fruchtbringen den Tbat, als deS tönenden Wortes. Nirgends zeigt sick ein besseres verständniß für die Voraussetzungen der nationalen Größe; kein deutsches Land darf sick, rühmen, zu größeren Opfern für eine allen Anforde rungen deS Kriege» und des Frieden« genügende Wehr- mack>t zu Lande und zur See bereit zu sein. Grübt, das Nötbige über dem WüasebenSwertben nicht zu vergessen, haben die sächsischen OrdnungSparteien soeben erst durch Erneuerung de- LandtagswablcartellS dem ganzen Reiche ein Beispiel gegeben, daS bisher ohne Nachfolge geblieben ist, aber, wenn eS bei den nächsten Reichstagswahlen Nachfolge findet, die Sorgen um die Zukunft de» Reiche- nicht unwesentlich mildern wird. Daß Sachsen selbst, wenn die Stunde der That für das Gesammtvaterland schlägt, hinter seinem ru Lause aeaebenen Beispiele nicht Zurückbleiben werde, daS S1. Jahrgang. zu geloben, ist der beste Dank, den e- seinem Könige heule darzubringen vermag. Bei Erfüllung dieses Gelöbnisse- wird König Albert der Helle Leitstern sein. Und unsere Hoffnung in dieser trüben Zeit deS Reiche- ist, daß da- sichtlich gesegnete Walten so hoher Tugenden auch außerhalb des Landes den Trieb zur Nacheiferung erwecken werde. Zum Himmel aber richte sich heißer als je in diesem Jahre das Flehen: Gott erhaltr, schirme und segne zum Heile Sachsens und de- deutschen Vaterlandes das lheure Leben und vorbildliche Wirken unsere- Königs Albert! Deutsches Reich. O. II Berlin, 22. April. In der vielbesprochenen Streitsache Liebknecht-Schoenlank hat nun auch einer der Hauptfiibrcr der holländischen Socialdemokratie, Genosse W. H. Dl Legen, daS Wort genommen. Er war als Abgesandter der holländischen Socialdemokraten auch auf dem Gothaer Parteitag erschienen, war zum Londoner internationalen Socialistencoagreß delegirt und gilt als einer der gemäßigtsten Männer in der Partei. Er fertigt Liebknecht geradezu erbarmungslos ab, indem er sagt: „Die elendeste Lage der Arbeiter klasse findet sich in Ländern wie Italien, Spanien und — Holland. Es tbul mir Leid, mich in so schroffem Gegensatz zu Genossen Liebknecht aussprcchen zu muffen, aber die Wabrheit will es. DaS holländische arbeitende Volt steht, waS seine materielle Lage «..betrifft, unter allen west- und mitteleuropäischen Völkern auf der niedrigsten Stufe, und das Proletariat i» allen Ländern, die in der ökonomischen Entwickelung zurückgeblieben sind, ist hoffnungsloser und macht loser als anderswo. So auch das holländische Proletariat und daher auch der verhältnißmäßig starke Anarchismus in Italien, in Spanien, in Holland, in den nichtindustriellen Theilen Frankreichs." Genosse W. H. Vliegen weist nun zahlenmäßig nach, wie erbärmlich dir Löhne der Arbeiter in Holland sind: „Im Jahre 1889 gab es 810 930 Familien, al'v 20 Proc. der ganzen Bevölkerung, die Armenunterstützung erbielten." Liebknecht hat ferner die Bildung und Gesittung der holländischen Arbeiter gerühmt; Genosse Vliegen sagt trauer- erfüllt: „Ick weiß nickt, ob.noch roheres Volk denkbar ist, als in manchen Gegenden Holland», in „manchen Gegenden", die die Mehrheit des Lande- auSmachen." Jede Aeußerung, welche Liebknecht gelban, jede Wahrnehmung, welche er ge macht baden will, stellt Vliegen al« falsch hin. Er schließt seinen Artikel, durch den Liebknecht als grober Ignorant ge zeichnet wird, mit folgenden Worte»: „Siehe, Genosse Lieb knecht, es tbut einem Armen weh, wenn man ihm erzählen kommt: „O, dir gebt c- ja noch gut", wenn der arme Kerl völlig psennig-lo- ist, und so war r» nn» zu Feuilleton. Federzeichnungen aus Leigien. Bon Gerhard Bäcker. Nachdruck vrrdatkn. In diesem Jahre ist es Belgiens Hauptstadt, die die Völker zu einem jener großen Friedensfeste lädt, als welche man die modernen Ausstellungen glücklich charakterisirt bat, — Brüssel, ein anderes „Klein-Paris", dem Seinebabel an Eleganz und Reichtbum, am Zuschnitte und Geiste deS Daseins, an Lebenslust und auch an — Zügellosigkeit so nahe verwandt wie keine andere Stadt Europas. Die belgischen Künstler, Literaten, Kaufleute wandern nach Paris, um dort zu studiren und bringen dann ein gutes Stück pariserischen Geistes in die Heimatbsstadt zurück, die dadurch allmählich etwas von einer Dependance von Paris bekommen hat. Aber dem war nicht immer so. Es gab eine Zeit, wo Vlamland's Städte mit Lutelia sich messen konnten. Kaiser „Karel de Vyfde", noch heute eine Lieblingsgestalt des vlä- mikchen Volkes, konnte zu seinem feindlichen „Bruder" Franz von Frankreich stolz sagen: „3e wottrai rotre karis ükw8 mon 6avä^ (Wortspiel mit dem Namen von Gent und gant, der Handschuh), und Brüssel war in jener wunder samen Glanzepoche der burgundischen Zeit, als Herzog Philipp und Karl gegen Frankreich siegreiche Kriege führten, eine sehr gefährliche Nebenbuhlerin von Paris. Diese Zeit schwand freilich schnell dabin, wie ein Traum; aber auf Schritt und Tritt wird man in Brüssel daran erinnert, wie eigen seine und seines Landes Schicksale, wie ganz ver schieden von den Erlebnissen der Riesenstadt an der Seine sie waren. Hier am Rathbause zogen die adligen Herren an Margarethe von Parma vorüber und Barlaimcnt sagt« zur Rcgentin ironisch: ^ce v'sst qu'une troups äs gusiul" Drüben im „Brodhause" verbrachten Egmont und Hoorn ihre letzte Nackt und körten draußen auf dem Platze ihr Blutgerüst zimmern. Und wie beredt spricht sich der ganze große Unterschied von Paris in jenem kleinen Bildwerke au-, das so recht eigentlich da- Wahrzeichen von Brüssel genannt werden kann, etwa so wie die alten plumpen Holzbilder von Goa und Magog die ehrwürdigen Symbole der Londoner City sind, — in dem „Manuelen", daS auf den alten schönen Marktplatz blickt. Die Brüsseler haben da» kleine drollige Kerlchen, einen echten Au-druck vlämisch-derben Humor-, von je sehr lieb gehabt, reiche Männer haben r- zu ihrem Erben gemacht, e« verfügt über einen eigenen Diener und über e»ne eigene Festgarderobe, unter der sich alte Gewänder au- dem 17. uud 18. Jahrhundert befinden. So zeigt «ine tiefere Betrachtung bald, daß Brüssel doch etwa recht Andere- al- Pari- und der Belgier etwa-Änderet al- der Franzose ist. Wäre der Charakter de- Belgier- nur so leicht zu fassen und zu beschreiben! ES mischen sich ja in ibm zwei Rassen: di« germanische Raffe der Vlamen, der Nachkommen jener „kübnrn, schnellen und scharfen" Franken in der Schelde- Eden», und LaS Romanenblut der Wallonen von der Maas und dem wilden Ardennerwalde. Eine Eigenschaft hat viel leicht vor allen anderen diese Mischung zur scharfen Aus prägung gebracht; die quellende Lebenslust und Lebensfreude. Der breit«, tiefe, behäbige Humor der vlämisckea Kirmr-, wie wir ihn au» Ostade'S unverwüstlichen Werken kennen, und der Champagnergrist der gallischen Belgier haben sich vermählt. Darum war und ist dies Volk so sesteSfrob. Von den Zeiten, da Herzog Philipp in Brüssel die glänzendsten Turniere der Welt abdielt, und beim Einzug» de- jungen Kaiser- Karl Antwerpen sich in einen Jubel rausch stürzte, die Stadt märchenbaft geschmückt war und ihrer lieblichsten Jungfrauen blumenstreuend dem Herrscher vorangingen, bi- zu de» siebcnwöchigen Festen, mit denen Belgien 1880 da- fünfzkgjäbrige Jubiläum seiner Freiheit beging, waren die Belgier Meister in der Kunst, Feste zu feiern. RubenS, dessen Gemälde wie von einem gewaltigen Rausche erfüllt sind, ist der echte Maler diese- Lande-, und Goethe hat das Volk in jener Schützenfestscenc, die den „Egmont" eröffnet, bewundernswerth treffend geschildert. Gerade diese Feste waren e«, bei denen der Belgier die „schöne freundliche Gewohnheit de- Daseins" voll genoß und „Keiler Karel" selbst einen Becher mit fden Fröhlichen leerte. Wo Fahnen flattern, Teppiche glänzen, Musik ertönt, da ist ver Belgier ganz an seinem Platze, in seiner eigenen Freude dir beste Festzierde. Aber ach l die Zeiten haben sich in Belgien leider gar sehr geändert. Wobt bleibt der Nationalckarakter konstant, wohl gleicht der Belgier au- der Zeit Leopold'» ll. im Grunde seine» Wesen- dem lustigen Schützenbruder Kaiser Karl'». Aber da» leichte Leben Alt-Belgien« ist erdrückt durch die fast schreckenrrreaende industrielle Entwickelung deS Lande-. Wer von VervierS auS der Hauptstadt rureist, der fährt fast durch eine ununterbrochene Stavt, ein Wald von qualmenden Essen und Riesenöfen ist ausgewachsen, und selbst im altehrwürdigen Gent, wo man eigentlich nur die steife behagliche Würde alter RathSherren sich denken kann, ist die allmächtige Maschine zur Herrschaft gelangt. Und ist schon dadurch das Leben dumpfiger und düsterer geworden, so hat sich obendrein in die alte Harmonie der Lebensfreude in unserem Jahr hundert ein schriller Mißton gedrängt — da- garstige politische Lied. E- liegt un» gewiß fern, hier von Politik zu sprechen, aber selbst die flüchtigste Skizze belgischer Zustände muß de» tiefen Risses gedenken, der durch den Gegensatz zwischen den beiden großen alten Parteien des Lande- sich ge bildet hat. Denn dieser Riß geht über die Politik hinaus, er scheidet die Landschaften, er zerreißt da« Familienleben. Di« Katholiken und die Liberalen haben, wie ein neuerer belgischer Schriftsteller richtig sagt, ihre eigenen Club», Schulen, Uni versitäten. Armeen, Lieferanten, Clienten. An der »Iw» w»tsr von Löwen giebt e» nur katholische Wissenschaft; an der Brüsseler Universität ist die Freiheit deS modernen Gedankens so weit entwickelt, daß der anarchistische Professor Elisse Reclu» dort lehren kann. Selbst von den beiden Wirths- häusern im kleinen Städtchen ist gewiß da- eine liberal und da« andere katholisch. Auch ver ZeitungS^Verkäufer auf der Straße nimmt Partei und Heftel, wie Roden berg treffend beobachtet hat, ein Schild „journLur catdoliques" über seine Mappe. Und schon tritt dieser schwere Gegensatz vor einer noch schlimmeren Gefahr in den Hinter grund. AuS den Kohlenbecken, au- den Industriestädten rückt »ine finstere Schaar rußiger Gestalten an, entschlossen, den Bau des heutigen Belgien» zu zertrümmern. Das sind die wallonischen Umsturzmänner, die schlimmsten vielleicht aller Umstürzler, pietätlos, zur Gewaltthat bereit. Wie so ganz unähnlich sind sie den vlämischen Gesinnung-verwandten, wie sie etwa Domela Nieuvenbuys im benachbarten Nieder land vertritt. DaS ist ein SocialiSmuS mit blauem Auge und blondem Haar, ein Schwärmerthum und Menschen- beglücker-Traum; aber die Männer von VervierS und Lüttich sind Gesellen der harten That, bereit, ihre Ansichten zu ver wirklichen, und voll bitteren Hasses gegen den König der Belgier. Dabei hat König Leopold diesen Haß gewiß nicht verdient. Er ist, wie sein Vater, ein guter Bürgerkönig; der Badegast in Ostende kann es leicht erleben, daß oer statt liche alte Herr, aus seinen Krückstock gelehnt, ihm neugierig und freundlich über die Achsel sieht, und nirgend- wohl ist weniger als in Belgien die Steifheit höfischen Lebens und höfischer Sitten zu Hause. Die Gebildeten de« Landes wissen das und ehren den König, aber jene dunkle Waffe denkt unfreundlich von dem „Coburger", der doch gewiß kein Fremder in diesem Lande mehr ist. So zeigt sich auch auf diesem Gebiete der Unterschied der beiden Nationalitäten, die da» belgische Volk bilden, und man kann in der That, wenn man daS Leben Bel- gienS genauer beobachtet, überall auf ihren Gegensatz stoßen. Die Oberstadt von Brüssel, einst die Resiven, der Herzö e von Burgund und heute die de- König«, kennt nur Fran zösisch; aber steige eine der moutsgues hinab und du findest auf dem Markte eine echte Vlamrnscene, wie auS einem alten Bilde geschnitten, und belebt vou den breiten, derben Humor- vollen Lauten der dem Deutschen verwandten Blamensprache; Hinterjimmer des eleganten 8adenL, wo du eben sranzöstsch bedient worden bist, — da wird der Kaufmann mit Weib und Kind wahrscheinlich vlämisch sprechen; denn drei Fünftel der Bevölkerung sind Vlamen, und ihre Ge- wobnbe.ten und Sitten treten überall deutlich hervor. In Brüssel wird, wie ,n jeder Stadt Holland«, früh das gemacht", d. h. mit Wasser von oben bi» umen tüchtig begossen, und da« Landvolk vollend- hat die aUe Nationalität gar treu bewahrt. Wer in einem kleinen Dorfe der belgischen Seeküste lebt, die schweren Loli- sckuhe klappern dort, da- würdige, fast feierliche Wel.n de» ^S-rman-n si-ht daS sich schon j„ den bre.tröckigen K.ndern so drollig autzert, der wird gewiß kaum einen Um«" ck.ed von einem kleinen holländische« Dörfchen entdeckt., können So bat d.e vlämische Bewegung, die seit .inii n Jahrzehnten sich entwickelt, die vlämi,che Sprache :., neu!n Ehren gebracht und eine neue Literatur, die Werke des «>» reichen Hintergrund. Es giebt jetzt gebildete Häuser, in denen jede» französische Wort streng verpönt ist, und an solchen Stellen ersetzt regelmäßig eine treue Sympathie für da- ver wandte Deutschland die gewöhnliche Vorliebe für den west lichen Nachbar. Die vlämische Literatur, so hat rin Kenner richtig geurtheilt, trägt nickt den Charakter der boben Poesie — das liegt nun einmal nicht in der Natur diese- Volke- —, aber sie spiegelt all' dessen liebenswürdige, tüchtige Züge, seine Liebe zum HauS und zur Heimatb, sein« Geselligkeit, seinen gesunden Realismus und seinen fröhlichen Humor treu wieder. In der Kunst war der französische Einfluß noch bi« vor unlanger Frist ganz dominirrnd, und noch heut« ist einer der feinsten Schilderet deS pariserischsten ekio «in Belgier, Alfred Steeven». Aber seit einiger Zeit tritt auch hier der vlämische Zug bervor, — die Liebe zum lauschigen Wiokel, die Innerlichkeit und Gewissenhaftigkeit statt der Neigung zun. brillanten Birtuosenthum, die alte, echtgermanische Freude an allem, wa» da Leben a.hmet, e» sei selbst noch so klein und unscheinbar. Und dies Hervortreten de» VlamentbumS wird vielleicht eine Quelle der Gesundung für da- moderne Belgien werden, daS der unruhige, unstete Wallone — wie der Gallier stet- rerum uovurum cup.äus — bedroht. Sollte man daS Belgien von beute mit einem Worte ckarakterisiren, so müßte man eS vielleicht da- Land der Gegen sätze nennen, — der Gegensätze der Raffen, der Landschaften, der Geister, der Zeiten. Wir wandeln durch Brügge» oder NpcrnS stille Straßen. Weit, weit ab liegt da da- moderne Leben. Die Häuser stehen zierlich und schön, wie in alten Tagen, vor Sauberkeit glänzend; aber leer scheinen sie, denn diese einst volkreichen Städte sind zurückgeaangrn und für die heutige Bevölkerung zu groß geworden. Leer uud doch nicht leer. Denn wir meinen würdige Rathsberren ihnen ent schreiten zu sehen mit ihren kräftigen gesunden Frauen, die in ihrem Feierstaate so ehrbar rinhergehen und doch den Schalk in. Auge haben. Sie wandeln zur alten gothischen Kirche, wo heilige Gebeine in ehrwürdigen Särgen ruhen; vom Tburme klingt wundersam da- tiefe Glockenspiel, der Belfried blickt bedrohlich nach Feinden au- und in der langen Linie d«S Canal-, der die blühende Landschaft vor dem Thore schnurgerade durchschneidct, spiegelt sich die Sonne, ein unaus sprechlicher Frieden, eine ruhevolle Atmosphäre der Ver gangenheit herrscht Aber im selben Belgien regiert und schafft anderwärts ein fieberhafter Geist, dem da« Neueste nicht neu genug ist, der riesenhafte Werke der Technik ins Leben ruft, der im Brüsseler Justizpalast wohl di« gewaltigste Schöpfung der modernen Architektur erzeugt bat. Da draußen in den Industrie- und Kohlenstädtea ver sinkt Alt-Belgien, da geht daS Leben der Zeit brausend über die Reste des Alten bin und so mächtig ist sein Strom, daß selbst Brüssel trotz seine- Ra.hbause-, trotz St. Gudule und zahlreicher anderer historischer Stätten und Winkel al- eine ganz moderne Stadt erscheint. Und da- spricht gewiß für die Kraft diese- belgischen Volke-, da- nun seit 300 Jahren der Spietball so wechselnder Schicksale gewesen ist.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite