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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.06.1897
- Erscheinungsdatum
- 1897-06-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189706064
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18970606
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18970606
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-06
- Tag1897-06-06
- Monat1897-06
- Jahr1897
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.06.1897
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffrrasatz nach höherem Tarif. vt.tr«-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbrsörderung ^l 70.—. Änuahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Sonntag den 6. Juni 1897. A. Jahrgang. Aus -er Woche. Kirchenglocken und Maiengrün locken zum Doppelfeste der Ausgießung des Geistes und der höchsten Prachtentfaltung der Natur. Sie finden allüberall willige Menschen, die ihnen folgen, froh, sei eS im Hause des Herrn, sei es am Anblick seiner Schöpfung, sich zu erbauen, dcö Alltages Mühen und Kämpfe zu vergessen und für die Zukunft neue Kraft und frische Hoffnung zu schöpfen. Pfingsten sieht von allen christlichen Jahrcssesten die höchste Sonne, wie es in seiner kirchlichen Bedeutung den Bau der großen Bot schaft krönt. Nach des Heilandes Geburt, seinem Er lösertod und seiner Himmelfahrt die Ausgießung des Geiste» Gottes „auf alles Fleisch", deS Geistes, der von den Menschen übel verstanden, übel gebraucht werden kann, der aber, ihnen unverlierbar innewohnend, ihr Köstlichstes verbleibt und sie aufwärts leitet. Nicht geraden WegeS, nicht stetig, sondern durch Wirrnisse oft und durch Finsterniß, die schon ergossenem Licht gewichen. ES ziemt sich wohl, an diesem Psingstfeste mit Segenswünschen der wenigen muthigen Männer zu gedenken, die mit der Fackel des Geistes in die Nacht des Aberglaubens leuchten, mit deren Ausbreitung auch über dem deutschen katholischen Volke sich arge Lehrer eben wieder und vielleicht schwerer, als jemals in unserem Jahrhundert geschehen, wider den heiligen Geist versündigen. Es ist ein stolzes und tröstendes Bewußtsein, daß cs abermals deutsche Katholiken waren, die zuerst den Muth gehabt haben, ihre Stimme wider die Verderber deS religiösen Sinnes zu erheben. Mögen ihnen selbst die Erfolge auch nur spärlich zusallen, sie haben eine gute Saat für die Zukunft des Geistes auSgestreut. Von lichtscheuem Wesen hat man in den letzten Wochen auch sonst nur allzuviel sehen müssen. Konnten wir der Auffassung AuSdrnck geben, daß die Verurtheilung v. Tausch' s den verhängnißvollen politischen Fehler, der mit der „Flucht in die Oeffcntlickkeit" gemacht worden war, in keinem milderen Lichte hatte erscheinen lassen, so müssen wir auch sagen, daß die Freisprechung des Beamten und die gelinde Bestrafung seines Agenten die Ueberzeuguug .. cht erschüttern kann, daß in dem Procefse ein sittlich verwerfliches Treiben aufgedeckt worden ist. DaS Philister-Wehe über die Geheim polizei und die Verwendung anrüchiger Personen in ihrem Dienste mag den Philistern zu rufen überlassen bleiben. Wir brauchen die Geheimpolizei, namentlich auch die politische, und diese braucht die Nichtgentlemen. Die Uebcrwachung der Interna der Presse ist allerdings unseres Erachtens über flüssig; doch daS ist ein Capitcl für sich. Jene Erwägung der Nothwendigkeit eines Uebels hat jedoch Herrn v. Tausch gegenüber nicht Platz gegriffen. Er galt für „voll", obwohl man sehr bedenklichen Handlungen des Mannes auf die Spur gekommen war und ihn ein Fürst Bismarck als ungeeignet für sein Amt bezeichnet hatte. Er unterhielt mit Normann-Schumann finanzielle Beziehungen, war einem viel genannten Berliner politischen Reporter verpflichtet gewesen und hatte die guten persönlichen Dienste eines andern Journalisten in Geldsachen in Anspruch genommen. Gegen seinen obersten Vorgesetzten v. Köller hat er mit verdächtigem Eifer gearbeitet; daß dies im Auf trage einer andern Behörde geschehen sei, läßt — wir haben das schon berührt — das politische Gesammtbild des Pro- cesses sowohl als auch die persönliche Physiognomie v. Tausch's nicht anziehender erscheinen. Mußte der Polizeicommissar v. Tausch als ein laut Wabrspruch juristisch Unschuldiger Qualen erdulden, so ist sein Anspruch auf Sympathie schon allein durch daS schändliche Schweigen verwirkt, das er be obachtete, als er die von dem Musterschurken v. Lützow gegen den Ehrenmann Kukutsch geschleuderte doppelte Anklage niedrig ster Handlungsweise im Beruf und des Meineids mit einem Worte zu nichte machen konnte. Es wäre nicht nöthig, in diesem Augenblicke solche Dinge ins Gedächtniß zu rufen, wenn nicht vorausgeseben werden müßte, daß diese zweifel hafte Persönlichkeit morgen von einer gewissen Sorte von Preßgeschäftsleuten als Märtyrer und zwar tbeilweise sogar als Märtyrer seiner zur Schau getragenen Bismarck-Verehrung gefeiert werden wird. Wir tbeilen eben den Optimismus des „Reichsboten" nicht, der sich von der Bloßstellung, welche ein SpccicS von Journalisten in dem Proceß erfahren hat, eine Eindämmung des elenden politischen ScribenteuthumS zu versprechen scheint. ES wäre recht gewaltsam zu nennen, wollte man der Fehde, die der freien Lehre an den Hochschulen angesagt worden ist, mit einer Betrachtung über die Bedeutung deS Pfingstfestes begegnen. Wir überlasse» das Berufener?» und begeben »ns in die, Wenn man will, flachen Niederungen der Parteipolitik, um dort zu zeigen, wie daS blinde Würben des Herrn v. Stumm gegen Alles, was nicht mit ihm ist, Schaden an- rickket. Der Gegensatz zwischen Nationalliberalismus und Freisinn läßt an Tiefe nichts zu wünschen übrig. Er ist noch schroffer vielleicht als in Nord- und Mitteldeutschland im Westen und Süden, wo der Freisinn durch die Stärkung des ultramontanen Einflusses die nationalgesinnten Liberalen an einer besonders empfindlichen Stelle Jahre hindurch verletzt hat. Was aber hat sich jetzt in Saarbrücken, der Haupt-, wenn auch nicht Residenzstadt des Königreichs Stumm, zugetragen? In einer von nationalliberaler Seite einberufenen Versammlung standen die überaus zahlreich Erschienenen durchaus — wir berichten nach einem national liberalen rheinischen Blatte — auf dem Standpunkte, „einen Zug nach links" zu machen. Von einem Redner vom Lande wurde der Anschluß an die Freisinnige Volkspartei empfohlen, dem jedoch der eigentliche Wortführer der Versammlung nicht glaubte daS Wort reden zu dürfen. Die Versammlung richtete sich in der Hauptsache gegen Herrn v. Stumm, dessen Einfluß und Thätigkeit scharf krilisirt wurde. Nach der Theilnahme und dem Verlaufe der Versammlung, sowie nach der Stimmung weiter Kreise im Saar-Revier zu schließen, wird die Bewegung gegen Herrn v. Stumm und seine un bedingte Gefolgschaft immer größere Kreise ziehen und werd»» die nächstjährigen Wahlen im Kreise Saarbrücken eine be^ sondere Bedeutung und Beachtung finden. So der Bericht. Man sieht, was durch das Gewaltprediaen erreicht worden ist. Unter gemäßigt liberalen, für die Reichspolitik brauch baren und einer verständigen Bekämpfung der Socialdemokratie geneigten Elementen ventilirt man ein Abrücken nach der Richtung des Radikalismus. Diese Entwickelung ist für die preußische Negierung ebenso lehrreich wie für die bürgerlichen Freunde des Herrn v. Stumm. Gerade als ob wir des Unerquicklichen nicht genug nn Bereiche der Thatsachen hätten, construirt man noch Miß- belligkeiten. In Hamburg hat man bei einer fest lichen Gelegenheit vom ofsiciellen Trinksprechen abgesehen. Jedenfalls hat man sich hierbei von keiner anderen Rücksicht leiten lassen, als der auf die Ungezwungenheit und Munter keit, Zustände, die bekanntlich durch eine Reibe von Reden nicht gewinnen. Aber die Herren Veranstalter hätten sich sagen können und müssen, daß die allgemeine politische Lage und die Anwesenheit von Socialdemokraten unter den Gasten zu anderen Schlüssen über den Grund der Unterlassung geradezu Herausforderin würden. Wenn die Hamburger klug sind, sind sie bei der nächsten Gelegenheit — klüger, wenn nicht in Bezug aufs Toastiren, so doch in Be treff deS Einladens. Ergötzlicher als die Erörterungen wegen der Trinksprücke waren die Ausbrüche der Gesinnungs tüchtigkeit des Herrn Schoenlank, der in der Theilnahme socialdemokratischer NeichstagSabgeordneter an einer vom Hamburger „Großbürgerlbum" veranstalteten Festlichkeit Ver- rath an der „Völkerbefreienden" witterte. Du lieber Himmel! Mil Fürsten- und BourgeoiSblnttrinken kann man erst den Durst löschen, wenn man cs hat, und außerdem: die Ham burger Herren führen einen guten Keller. Die von uns sofort als glaubwürdig bezeichnete Mit- theilung» Herr v. Miquel gedenke sich der Dienslgeschäfte in naher Zeit zu entledigen, ist anfänglich heftig bestritten worden Jetzt erfährt sie von verschiedenen Seiten Bestätigung. Wir glauben aber nochmals betonen zu sollen, daß für den Entschluß deS preußischen Finanzministers Gesundheitsrücksichten be stimmend sind. Es giebt heutzutage so viererlei politische Gründe, die einem Minister den Rücktritt wünschenswerth oder nothwendig machen, daß es schon der Rarität wegen festge stellt werden muß, wenn einmal einer wirklich aus unverfälsch ten Gesundheitsrücksichten geht. Herr v. Miquel ist vorgestern nach Wiesbaden abgereist, Herr v. Marschall weilt im Badischen und Fürst Hohenlohe hat sich nach Podiebrad be geben, nm dort die Feiertage zu verleben. Nock während der Abwesenheit deS Reichskanzlers dürfte der zur Zeit in K:cl wellende Stellvertreter deS beurlaubten Staats- secretairs deS ReichSmarineamtS Contreadmiral Tirpitz in Berlin eintreffen. Er wird von manchen Zeitungen als der „kommende Mann" oder doch als die Seele der kommenden Politik angesprochen. Darin liegt vielleicht Uebertreibung, eine nickt geringe politische Bedeutung wird dem Amtsantritt des Herrn Tirpitz aber ohne Zweifel mit Recht zugeschrieben. Die Wachsamkeit der Staatsanwaltschaft und eines der Vertheidiger im Proceß v. Tausch hat die Verhandlung vor einem nicht ganz kleinen Mißgeschick bewahrt. Ein anderer Vertheidiger wollte einen der Presse angehörigen Zeugen gutachtlich über die Begriffe „inspiriren" und „lanciren" vernommen wissen. Der betreffende Herr wäre zwar sonder lich qualificirt dazu gewesen, denn er ist derjenige Journalist, dem die Lügenchronik der jüngsten Zeit die Geschichte von der vereitelten Zarenreise nach Friedrichsruh, die bald nach ihrer Entstehung in einer Zeitung auf getaucht ist, zu verdanken hat. Dessenungeachtet wird der Staatsanwalt nicht bedauern, es verhindert zu haben, daß Gutachten über preßtechnische Fragen von dieser Seite ab gegeben werden konnten. Auch der Nächstbetheiligte wird froh sein, der Ehre entgangen zu sein. Deutsches Reich« Berlin, 5. Juni. Die statistischen Ermittelungen haben seit einigen Jahren wesentlich sich zur Aufgabe gesetzt, einen Ueberblick über die Leistungen der öffentlichen Wohl fahrtspflege zu ermöglichen. Je mehr dies geschieht, desto farbenreicher und ansehnlicher wird das Bild, das sich vor unserem Auge aufrollt. Man begreift auch täglich mehr, warum in der Socialdemokratie das Schlagwort von der wachsenden Verarmung der Massen stellenweise schon preis gegeben wird, ehe noch der Ersatz dafür gefunden ist. Vor den neuesten Ergebnissen der statistischen Forschung muß diese Verelendungstheorie ganz und gar zusammen brechen. Nachdem kürzlich in einer amtlichen Darstellung beziffert worden, wie die Leistungen auf Grund öffentlich-recht licher Versicherungseinrichtung zu Gunsten der lohnarbeitenden Elassen in den fünfzehn Jahren seit der großen Kaiserbvl- schafl von 188k sich entwickelt haben, erfahren wir jetzt, wie dies entlastend auf die öffentliche Armenpflege gewirkt hat, wie aber trotzdem deren Leistungen im Laufe der letzten zehn Jahre sich nach allen Seiten hin erweitert haben. Tie stattliche Reihe von Ziffern, die uns hierbei vorgeführt werden, belehrt uns zunächst wieder und immer wieder über den außerordentlichen Unterschied der socialen Ver hältnisse im Osten und im Westen der Elbe; sodann über die große Verschiedenheit der Verhältnisse in der Großstadt und den Jndustrieceutren einerseits und im Entwicklungs bereich der mittleren und der Landstädte und des platten Landes andererseits. Wir verweisen auf die ziffernmäßig hervortretende Erscheinung, daß in der Provinz Westpreußen die Zahl der aus der Armenpflege unterstützten Perfoncn im Zeitraum von zehn Jahren sich um 132 Proc. vermehrt hat, während sie in Württemberg im gleichen Zeitraum still gestanden, in Bayern nur um 5,6 Proc., auch m den mittel deutschen Fürstcnthümern nur um ein Geringes cmporgestiegeu ist. Die große Verschiedenheit in der Entwickelung des Volkswohlstandes tritt hier deutlich zu Tage. Indessen will Eins nicht übersehen sein. Wenn der Zuwachs in der Provinz Westpreußen auf 132 Proc. sich berechnet, so ist neben dieser Bezifferung, die ja sonst geradezu Besorgniß erregen müßte, die andere EntwickelungSreihe zu betrachten, nämlich die der öffentlich-rechtlichen Wohlfahrts pflege. Dort ergiebt sich, daß der Osten der Elbe sich entsprechend weniger zumuthet, während Mittel- und Sud deutschland, von einigen rückständigen Kreisen im südlichen Bayern abgesehen, es mit der Durchführung der socialen Reformgesetzgebung völlig ernst meinen, namentlich auch die Krankenversicherung der land- und forstwirthschastlichen Ar beiter im Wege der zum Theil älteren landesrechtlichen, zum Tkeil freiwillig getroffenen Einrichtung weithin schon durch geführt haben. Wenn also westelbisch die Zahl der unter stützten Armen sich nicht mehr namhaft fortentwickelt hat, so ist die Zabl der Rentenempfänger und der auS Kranken- cassen Unterstützten verhältnißmäßig um so rascher in die Breite und Weite ausgewachsen. Daria beruht eben der Feuilleton. Spielen und Fühlen. Eine Studie zur Psychologie der Schauspielkunst. Von Tamillo Heyden. Nachdruck «erboten. Sicherlich ist schon manchem der Leser, wenn er seine be wunderten Lieblinge auf der Bühne die tiefen Seelen erschütterungen Gretchen'S oder Julien'S, Wallenstein'S oder Hamlet'S ergreifend wiedergeben sah, der Gedanke plötzlich durch den Kops gefahren: waS empfindet er jetzt? Empfindet er all diesen Jammer, diese Furcht und Hoffnung in allen ihren Schattirungen nach? Oder denkt er nur daran, möglichst gut zu spielen und den erwünschten Laut des Bei falls hervorzulocken? Oder sind am Ende seine Gedanken innerlich wenig bei dem Drama, in dem er agirt, und richten sich auf irgend eine prosaische Sorge der leiblichen Nothdurft oder der Unterhaltung? Der jugendliche Enthusiast, der eö mir nicht verübeln wird, wenn ich ihn zugleich den unerfahrenen nenne, wird zweifelsohne die letztere Vorstellung mit Entrüstung abweisen. Ach, auch ich war einst, wie er, ein Jüngling im lockigen Haar; aber eine einzige Erfahrung hat genügt, um meiner idealen Auffassung einen harten Stoß zu geben. Ich stand einmal hinter den Couliffen und beobachtete voller Andacht das Spiel eines würdigen Schauspielers als Alfonso im „Tasso". Er gab dies herrliche Bild eckten Fürstenadels mit einer Weihe, einer Würde, einer schlichten Vornehmheit, die den Mann förmlich verklärte. Und wie er die Scene verließ und an mir vorbeistrich — noch waren seine letzten Worte nicht verklungen, noch konnte das Publicum ihm mit dem Blicke folgen —, da warf er mir ärgerlich die Worte zu: „Uff, scheußlich langweilig!" Seither habe ich über die Frage „Spielen und Fühlen" oft Beobacktungen zu machen Gelegenheit gehabt. Sie ist gegenwärtig darum wieder besonders actuell geworden, weil man jüngst in Frankreich nach berühmten Mustern eine Um frage darüber an eine Anzahl der hervorragendsten Mimen gerichtet bat. Diese Umfrage hat daS interessante Eraebniß gehabt, daß die Mehrzahl der modernen französischen Schau spieler die Ansicht ausgesprochen hat, der Acteur müsse aller dings da», wa« er spiele, ganz und restlos Mitempfinden. Am weitesten gebt in dieser Beziehung wohl Mounrt-Sully, der große Tragöde, der den Franzosen zuerst wieder eiben Hamlet — allerdings einen eckt französiscken — geschenkt bat. Er gesteht, er habe den Wahnsinn des VatermordeS wirklich empfunden und rin wilde» Verlangen gehabt, den Dolch in die Wunde sich rinbohren zu sehen. Und er bedauert nur, daß der Darsteller so selten in diese volle Stimmung hineingerathen könne; „der abscheulicke Applaus deS Publicum« am Ende einer Tirade" (ja, so sagt dieser seltene Mann wirklich!) oder das Gesicht eines Gegenspielers, der keinen Antheil an der Rolle zeige, vielleicht gar Zeichen ins Parquet mache, — daS und vieles Andere wirke stimmungsstörend. Ihm schließt sich im Wesentlichen seine graziöse Collegin Mlle. Bartet an; nur betont sie, „sie empfinde das, was in den dramatischen Gestalten sich rege, nicht auf eigene Rechnung, sondern durch Sympathie". Auch der treffliche Veteran Got, Paul Mounet und Worms, der Charakter darsteller der Ovmsäie kinutzaiss, äußern ähnliche Ansichten. Aber damit setzen sie sich in einen scharfen Gegensatz zu großen Autoritäten ihres Landes in der Gegenwart und in der Vergangenheit. Kein Geringerer als Coquelin hat eifrig die Meinung vertreten, daß der Darsteller auch bei der leiden schaftvollsten Scene sich ruhig und beherrscht halten müsse, und Sarah Bernhardt behauptet, weinen zu können, wann sie will, WaS übrigens auch von anderen Bühnenkünstlern berichtet wird. AuS früherer Zeit sei nur Diderot angeführt, der die „absolute Gefühllosigkeit" als eine Vorbedingung für die Erreichung der höchsten Höhen der schauspielerischen Kunst ansieht. Talma, dessen größter Bewunderer bekanntlich Napoleon I. war, erzählte einmal, wie er vom Spiele einer Darstellerin selbst mit hingerissen worden sei. Da habe ihm die Künstlerin zugeflüstert: „Nehmen Sie sich in Acht, Talma, Sie werden bewegt." „Und — fügte Talma hinzu — „in der Thal entsteht auS der Bewegung die Unruhe, die Stimme versagt, das Gedächtniß setzt auS, die Gesten werden falsch, die Wirkung ist zerstört." Sein kaum weniger berühmter College MolS äußerte eine» Abends seine große Unzufrieden heit mit seinem eigenen Spiele: „Ich habe mich zu viel hin gegeben und bin nicht Herr meiner selbst geblieben." Auch unter unseren deutschen Künstlern sind die Meinungen getheilt. Jffland steht auf derselben Seite wie Mounet- Sully, und meint, nur der könne Andere täuschen, der sich selbst täusche. Dagegen nimmt Schröder, der noch heute — und im Ganzen und Großen doch wohl mit Recht — als Deutschlands größter Schauspieler gilt, aufs Entschiedenste die Gegenpartei. „Ich habe jederzeit bemerkt", erklärt er, „daß der, welcher daS Unglück bat, wirklich zu fühlen, WaS er auSdrücken soll, nicht fähig ist, richtig zu spielen." So stehen die Ansichten einander recht schroff gegenüber, und e» wird nicht leicht sein, einen Weg durch dies Labyrinth zu finden. Es scheint mir nun, daß in diese über ein Jahrhundert währende Debatte sich mit der Zeit ein Mißverständniß emgeschlichen hat. DaS behauptet wohl Niemand im Ernste, daß der Schauspieler nicht daS Leben und den Charakter der von ihm darzustellenden Gestalt mit vollem Gefühle zu erfassen und zu durchdringen habe. Das meint auch Diderot mit seiner „asoluten Gefühl losigkeit" nicht. Nur darum kann es sich handeln, in welcher Art sich das Gefühl während deS Spieles selbst betbätigt und betheiligt. Kann der Darsteller wirklich die fressende Qual der Eifersucht, den blutigen Wahnsinn erwachender Mordlust, den wilden Taumel der blinden Liebe, während er spielt, unmittelbar empfinden? Käme er in diesem Fall, so müßten sich auch alle physischen Begleit erscheinungen dieser GemüthSbewegungen bei ihm einstellen: sein Blick würde trübe, seine Stimme verlöschte, sein Körper entzöge sich seiner Herrschaft. Da aber der Schauspieler doch immer eine Gestalt für Andere faßbar und verständlich darstellen muß, so ist eS Physisch unmöglich, daß er sich wäh rend seines Spiels dem vollen „Sturm und Wirbelwind der Leidenschaft" schrankenlos hingiebt. Aber fürs Psychische gilt das Gleiche. Man bedenke nur, daß die Ereignisse üud Gefühle eines Dramas sich ost über eine lange Zeit ver- theilen. Selbst das Drama der drei Einheiten verlangte nur, daß die Handlung innerhalb eines Tages sich vollziehe. Es ist gegen die Natur, zu denken, daß der Künstler die Begebenheiten und Leidenschaften von vier Tagen oder vier Jabren in vier Stunden wirklich in sich zu durchleben vermag. Besäße jemals ein Schauspieler diese abnorme Kraft seelischer Concentration, so müßte er gewiß binnen kurzer Zeit das Opfer seines Berufs werden. So besteht ein unverkennbarer Gegensatz zwischen der Nothwendigkeit, daß der Schauspieler während der Dar stellung selbst die Herrschaft über sich behalten muß, und der, daß er seine Rolle mit vollem Gefühle beleben muß. Aber dieser Gegensatz löst sich, wenn man erwägt, daß die Darstellung ja kein alleinstehender Act, sondern vielmehr das Ereigniß umfangreicher Vorstudien ist. Beim Studium ist eS, wo der Schauspieler mit und in seinen Menschen lebt. Hier braucht er nicht den Ereignissen mit widernatür licher Schnelligkeit zu folgen, sondern kann jede Scene für sich durchleben. Hier braucht er sick nicht an den gedrängten Auszug der Empfindungen zu halten, den die Rede deS DramaS immer bildet; er kann ihre Zwischenglieder auf suchen, kann seine Menschen in alle Situationen hinein ver folgen, kann sogar ihre Worte und Gefühle in seiner eigenen Spracke frei fortseyen und erweitern, sowie Brachvogel'» Narciß, hingerissen durch seine Rolle, unvermittelt und un- vermerkt in einen Erguß seiner eigenen Leidenschaft hinein geräth. In diesem Sinne gesteht auch Mlle. Bartet, sie denke sich ihre Personen oft auch in ganz anderen Lagen, als den Situationen der dramatischen Handlung, — natür lich immer der Logik deS Charakters entsprechend. Nun kommt der Künstler, voll von dem Bilde eine- Menschen, den er bi- in die dunkelsten Winkel seine- Wesens erforscht hat, zur Probe. .Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Dinge." Ta- Theater ist eine Welt voller Zufälligkeiten, die vermiede* werden müssen. Es ist im menschlichen Leben nicht eben un gewöhnlich, daß der Mensch niest oder stolpert, aber der Schau spieler darf eben nicht niesen und stolpern, während er spielt Es ist darum keine leichte Aufgabe, die Gestalt der Phantast» auf die Realität der Bühne zu übertragen. Man crzählj von dem genialen Kean, der gewiß ein so mächtiges Temperament war, wie Einer, er habe auf der Probe oft di, Sckritte abgezählt, die er zu machen hatte, bis er eine gewisse Stelle erreichte oder gewisse Worte ru sagen hatte. Goethe pflegte sogar den Schauspielern die Stellen, an denen sie zu stehen hätten, mit Kreidestrichen zu bezeichnen. Diese Anforde rungen des Theaters müssen schlechterdings, wie man leicht be merkt, am Abend der Vorstellung beobachtet werden, und sie allein schon bedingen, daß der Schauspieler die Herrschaft über sich behält. Auch hat er ja bei der Darstellung selbst nicht mebr die dramatischen Vorgänge und Leidenschaften wirklich zu er leben, sondern nur ein bereits oft reproducirtes Bild durch die Kraft des Willens in seinem Gehirn wieder hervorzurufen. Diese Vorstellungskraft schwankt natürlich an jedem Abende je nach der Stimmung und Verfassung deS Künstlers, und mancke suchen sie zu unterstützen. So soll der berühmte englische Schauspieler Macready, bevor er die Scene spielte, in der Shylock seine Verzweiflung über die Flucht seiner Tochter und den Raub seiner Pretiosen ausläßt, hinter den Coulissen vor sich hingeflucht und heftig eine Leiter geschüttelt haben. Und eS war, irre ich nickt, Seydelmann, der den ganzen Tag über im Charakter der Person sich zu bewegen und zu sprechen pflegte, die er Abends darstellen sollte. Doch daS sind Hilfsmittel, die eben nur den Zweck haben, die Fähigkeit zur Reproduktion bereits vertrauter Empfindungen zu erhöhen. Der Schauspieler erlebt während der Dar stellung selbst die Schicksale seiner Gestalten nicht. DaS Erlebniß liegt hinter ihm, nur den Reflex davon giebt er. Was ihn vordem hinriß, aufrüttelte, erschütterte, das be herrscht und leitet er jetzt. Ist er temperamentsarm und trocken, so reproducirt er seine Vorstellungen so mechanisch, daß er während deS Spiels (wie eS gar nicht selten vor kommt), selbst in den Augenblicken stärkster dramatischer Leidenschaften, triviale Witzworte mit seinen College« tauschen oder mit Freunden im Parquet correspondiren kann. Ist er des echten Geistes voll, so rauscht seine Kunst wie ein mäch tiger, aber sorgsam geregelter und eingedämmter Strom dahin. Kurz und schön drückt Goethe dies Verhältnis in dem Spruche auS: „Der Schauspieler gewinnt daS Herz, aber er giebt nicht seines hin."
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