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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 12.02.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-02-12
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960212019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896021201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896021201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-02
- Tag1896-02-12
- Monat1896-02
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Aik den Haupt plätzen für die Anfertigung von ConfectionS-Massenartikeln, in Berlin, Breslau, Stettin, Hamburg und an anderen Orten, haben die Schneider und Näherinnen sich zusammen- gethan, um durch gemeinsames Vorgehen gegen die Geschäfts inhaber sich günstigere Arbeitsbedingungen zu erwirken; sie baden zu diesem Zwecke theils, wie in Breslau, die Arbeit bereits uiedergelegt, theils, wie in Berlin, den Ausstand beschlossen, da eine Einigung mit den Groß-Confectionairen nicht zu Stande gekommen ist. Die Gesetzmäßigkeit einer solchen Coalition der Arbeiter und Arbeiterinnen steht außer Zweifel, denn tz 152 der Gewerbeordnung bestimmt, daß „alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Ver abredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlastung der Arbeiter auf gehoben werden." Freilich setzen Gewerbeordnung und Straf gesetzbuch auch die Grenzen fest, bis zu denen die Streikenden in der Ausnutzung der ihnen gewährleisteten Coalitionsfreiheit gehen dürfen, obne mit den Strafgesetzen in Conflict zu ge- ratben. He sorgfältiger die in den Lohnkampf eintretenden Elemente die ihrem Auftreten gezogenen Schranken respectiren, um so entschiedener werden die Sympathien aller Billig denkenden auf ihrer Seite sein. Ueberraschend kann dieser neueste Arbeitsausstand den an der Eonfectionsindustrie betheiligten Arbeitgebern und Händ lern nicht gekommen sein. Bereits im Januar vorigen Jahres in Berlin und im November in Erfurt haben Conferenzen der ConfectionS - Schneider und -Näherinnen Deutschlands stattgefunden, in denen die dringlichsten Forderungen der Arbeitnehmer formulirt und als Erfüllungstermin für die selben der 1. Februar 1896 angesetzt wurde. Im Laufe dieses ganzen Jahres hat das Unternehmerthum, so weil bekannt geworden, keinerlei ernsthafte Versuche gemacht, eine beide Theile befriedigende gütliche Verslänvigung herbeizuführen; e- hat sich begnügt, wiederholt die Unerfüllbarkeit der er hobenen Ansprüche zu behaupten. Einzelne Unternehmer haben guten Willen gereizt, aber selbstverständlich allein nicht vorgehen können, ohne dem Ruin durch die Concurrenz sich auSzusetzen. Erst jetzt, wo der vor Jahresfrist an gekündigte Streik zur Thatsache geworden ist, bequemen sich die Unternehmer in größeren Gruppen dazu, die Wünsche der Arbeitenden in nähere Erwägung zu ziehen. Welche Forderungen sind nun aber von den Schneidern und den Schneiderinnen gestellt worden? Ein Theil derselben erscheint von menschlich-rechtlichem Standpunkte so selbst verständlich, daß Meinungsverschiedenheiten darüber füglich gar nicht bestehen sollten. So z. B. wenn die Arbeitnehmer beanspruchen: „eine anständige, eines Menschen würdige Be handlung; rohe Redensarten oder gar Handgreiflichkeiten müssen unterbleiben-; oder „schnelle Abfertigung bei Empfang nahme und Abliefern der Arbeiten; bei länger als einstündigem Warten müssen pro Stunde 40 vergütet werden"; öder „Lohnzahlung am Schluffe jeder Woche". Auch über zwei andere Forderungen ließe sich mit Aussicht auf Verständigung unterhandeln, nämlich über die Errichtung von schiedsrichter lichen Commissionen, zusammengesetzt zu gleichen Theilen aus Geschäftsinhabern und aus Schneidern, sowie über die „Anerkennung von Arbeitsnachweisen in den Händen der Arbeiter". Es liegt auf der Hand, daß das Schwergewicht der Arbeiterwünsche nicht auf die Bewilligung dieser theilweise minimalen Concessionen gerichtet sein kann. Vor Allem wird in der That eine Besserung der Lohn- und Arbeitöverbältnisse angestrebt, und zwar durch die Feststellung eines für die Arbeitgeber verbindlichen Lo bnta rifs, welcher den bisherigen Lohnsätzen gegenüber zn erhöhen ist, und durch die Einrichtung von Betriebswerkstätten. Zuverlässige Angaben über die in der ConfectionSindustrie gegenwärtig gezahlten Arbeitslöhne sleben aus neuester Zeit nur für einzelne Orte oder gar nur für einzelne Geschäfte zu Gebote. Hingegen geben für frühere Jahre zerstreute amtliche Mittbeilungen derGewerberätbe undFabrikinspectoren, gewerkschaftliche Erhebungen und private Auszüge aus Lohn büchern über diesen Cardinalpunct der in Zug gerathenen Bewegung einige Auskunft. Alle diese Nachrichten nun stimmen wohl ausnahmslos darin überein, daß die Schneider, die Schneiderinnen und die Näherinnen der aus den Massenabsatz rechnenden Bekleidungöbranche geradezu erbärmlich entlohnt werden. Nur durch das Anwachsen des Proletariats in den deutschen Großstädten, durch das übermäßige Angebot an weiblichen Arbeitskräften und durch die regellose Concurrenz auf dem bausindustriellen Arbeitsmarkt läßt es sich einiger maßen erklären, daß die Arbeitspreise auf einen so niedrigen Stand herabsinken konnten. Von vertrauenswürdiger Seite stammende Ziffern lehren, daß der Durckschniltsverdienst einer rastlos thätigen, geschickten Heimarbeiterin für Herren- confection oder Wäscheartikel bei 12—18stündiger angespannter Arbeitszeit nur ausnahmsweise zehn Mark wöchentlich übersteigt. Die große Mehrzahl der in eigener Wohnung auf Accord arbeitenden Personen muß sich mit weit geringerem Verdienst zufrieden geben. Daß bei solchen Hungerlöhnen ein menschenwürdiges Dasein sich schlechterdings nicht ermöglichen läßt, wird allseitig anerkannt, auch von den Großconfectionairen selbst. Wiegering unter Anderem in Breslau dieLöhne, beispiels weise in der Herrenconfection, sein müssen, ergiebt sich aus dem von den Breslauer Schneidern ausgearbeiteten und den Groß händlern zurAnnahme vorgelegten neuen Lohntarif, von welchem die letzteren behaupten, daß er die meisten bisher üblichen Sätze um 100 nnd mehr Procent erhöht. Hiernach soll, wie die „Schles. Ztg.- berichtet, in Zukunft gezahlt werden: für Hosen auS Stoff je nach der Qualität deS Materials 70 bis 115 ^s, für Hosen aus Kammgarn oder Tuch bis 125 für Nock-Jackels 2,75 bis 4 für Ueber- zieher 2,59 bis 6 für Militair- und Reithosen 1,25 bis 1,50 u. s. w. Allerdings wird von Con- fectionairen geltend gemacht, daß die Verkaufspreise für billige Confectionsartikel infolge der übergroßen Con currenz in diesem Industriezweige in den letzten Jahren sehr beträchtlich heruntergegangen seien und daß die deutsche Exportindustrie nur durch ihre beispiellos niedrigen Produktionskosten ihre Vorherrschaft auf dem Weltmarkt für Garderobe sich zu erhalten vermöge. Andererseits ist aber auch das Streben der Arbeitnehmer berechtigt, gegen die auf ihnen lastende fürchterliche Preisdrückerei anzukämpfen. Eb n so berechtigt ist di« Sympathie, die den Arbeitern allenthalben entgegcngebracht wird. Eine Exportindustrie, die sich aus dem Weltmärkte nur durch solchen Preisdruck erhalten kann, treibt Raubbau, der die Arbeitskräfte physisch und moralisch ruinirt und dadurch das ganze Reich schädigt. Verschlimmert wird die Lage der Confectionsarbeiter durch die von manchen großen deutschen Geschäften neuerdings acceptirte englische Arbeitsorganisation, daS svwatiug s.vstem (Schwitz system). Bei demselben kommen die eigenen Betriebswerk stätten der Großhändler und die direkten Beziehungen zu den bausindustriell beschäftigten Personen in Wegfall. AIS Mittelglied zwischen Production und Waarenvertrieb schiebt sich der Zwischen meister ein, englisch sventer, weil er auS dem Schweiße (l>5 svwatmg) der Arbeitenden seinen Gewinn herausschlägt. Der Zwischenmeister nimmt die Bestellungen derGeschäfte auf Massenlieferung der erforderlichen ConfectiouS- artikcl entgegen, sorgt für die Ausführung derselben und rechnet mit den Auftraggebern zu bestimmten Akkordsätzen ab. Häufig sind diese Mittelspersonen nicht einmal fachmännisch vor gebildet, sie empfangen die Garderobenstücke bereits zu geschnitten und sorgen nur für die Fertigstellung derselben. Ihr Streben läuft in erster Linie darauf hinaus, die von ihnen mit den Großhändlern vereinbarten Stücklöhne bei Vergebung der Aufträge an die einzelnen Heimarbeiterinnen möglichst herabzudrücken. Aus den kärglichen Arbeitspreisen ist mithin auch noch der Lebensunterhalt der Zwischenmeister zu bestreiten. Die Beseitigung dieses „Schwitzsystems" und damit eine Aufbesserung des Arbeitslohnes hofft man durch die Errichtung von BetriebSwerkstätten in unmittelbarer Ab hängigkeit von den Verkaufsgeschäften zu erreichen. Manche arge Uebelstände, welche mit der gegenwärtig vorherrschenden Heimarbeit zusammenhängen, ließen sich auf diese Weise gleichfalls vermeiden. Leider ist wenig Aussicht vorhanden, daß dieses Verlangen nach Einführung allgemeiner Arbeitswerkstätten erfüllt wird. Die Voraussetzung hierzu wäre eine tiefgreifende Umgestaltung der bestehenden Betriebsorganisation, die nur unter sehr großem Kostenaufwande sich erreichen ließe und deren günstige Wirkungen zudem zweifelhaft sind. Die ausständigen Con fectionsarbeiter sind daher auch geneigt, in diesem Punkte nachzugeben, um mit desto schärferer Accentuirung auf der Erhöhung des Lohntarifs zu beharren. Welchen Ausgang der Kampf um die Arbeitsbedingungen in der Consectionsinduslrie schließlich nehmen wird, ist vorerst nicht abzusehen. Die Streikenden sind vorläufig die schwächere Partei; ihnen fehlt der die Gesammtheit der Arbeitsgenossen unter einander verbindende Zusammenhalt, dessen Herstellung übrigens angesichts der Verhältnisse speciell dieses Gewerbes auch kaum denkbar ist; vor Allem aber fehlen die materiellen Mittel, um eine längere Periode der Erwerbslosigkeit zu über stehen. Die Unternehmer auf der anderen Seite können, gestützt auf ihre großen Läger, den Zugang neuer Waare sehr wohl zeitweilig entbehren; auch dürften sie für einen Einnahmeausfall durch Preisaufschläge auf ihre Waare sich schadlos halten. Trotzdem wäre den Arbeitgebern anzurathen, in ihrem Auf treten den Streikenden gegenüber den Bogen nicht zu überspannen. Denn zweifellos steht die öffentliche Meinung auS den erwähnten guten Gründen mit ihren Sympathien auf Seiten Derjenigen, welche zur Auf besserung ihrer erbärmlichen Arbeitsverhältnisse den Ausstand begonnen haben. Die etwaigen Concessionen der Confectionaire allein werden freilich weder die industriellen Betriebsformen zu ändern, noch die Daseinsbedingungen der Heimarbeiter von Grund auf umzugestalten im Stande sein. Dazu bedarf es der redlichen Mitwirkung von Staat und Gefellschast; diese Action kann nicht von heute auf morgen Platzgreifen; waS zunächst zu geschehen hat, wird bei der bevorstehenden Reichstagsdebatte über Vie bekannte Interpellation der national liberalen Fraktion klar werden. Deutsches Reich. Berlin, 11. Februar. Die „Freisinnige Zeitung" er örtert die Aussichten des Bürgerlichen Gesetzbuchs au der Hand einer Berechnung, in der die freisinnige Volkspartei als die für die Annahme des Gesetzbuchs ausschlaggebende für den Fall sigurirt, daß das Centrum, wegen der Bestimmungen über das Eherecht, gegen daS Ganze stimmen sollte. So sehr erfreulich die ernste Erwägung einer positiven Mit wirkung der freisinnigen Volkspartei ist, so bedauerlich erscheint der Umstand, daß die Berechnung der „Frei sinnigen Zeitung" den wichtigsten Punct außer Acht läßt. Das Blatt schreibt, nachdem es unter Berücksichtigung des Centrums, der Polen, der Socialdemokraten, der Welfen und der Elsässer eine Opposition von etwa 180 gegen 2l7 Stimmen gezählt: „Schon daraus ergiebt sich, daß die dazwischen stehende freisinnige Volkspartei mit 24 Mitgliedern den Ausschlag zu geben im Stande ist, zumal die deutsche Volkspartei und die freisinnige Vereinigung in den Fragen, welche gegenüber der Centrumspartei in Betracht kommen, nicht anders stimmen werden, als die freisinnige Volks Partei." Ganz gewiß nicht, aber darauf kommt es gar nicht an, sondern Alles darauf, wie sich die frei sinnige Volkspartei zu dem ganzen Entwurf stellen wird, wenn sie bei anderen Partien des Gesetzes in die Lage kommt, in die das Centrum beim Eberecht gelangen dürfte, nämlich mit ihren Abänderungsvorschlägen in der Minderheit zu bleiben. Das Vorbeischlüpfen der „Freis. Ztg." an diesem Cardinalpunct ist um so auffälliger, als ihn das Blatt, wo die Conservativen in Betracht kommen, wohl ins Auge faßt und richtig bemerkt, das Unterliegen eines Theils der Con servativen in der Frage der kirchlichen Eheschließung werde das Zustandekommen des ganzen Gesetzes nicht in Frage stellen. Herr v. Manteuffel hat eben ausdrücklich er klärt, daß er das Gesetz auch ohne die Erfüllung seiner Forderung annehmen werde. Wie steht es damit bei der freisinnigen Volkspartei und ihren Anträgen zum Vereinsrecht? Zunächst kann die Haltung der „Freis. Ztg." nur wenig Zuversicht einflößen. Sie halt dem Ab geordneten vr. EnnecceruS, der auf die Möglichkeit ver weist, das im Ganzen zu Stande gebrachte Gesetzbuch späterhin in einzelnen Theilen zu ändern, die Reichsverfassung entgegen, bei deren Berathung man auch auf künftige Ver besserungen vertröstet habe, die aber „mit allen ihren Fehlern und Mängeln" unverändert geblieben sei. Danach zu ur theilen, steht die Leitung der freisinnigen Dolkspartei noch unverrückt auf dem von ihren beiden Vorgängerinnen überkommenen Standpunkt, daß es politisch richtiger sei, nach der Maxime „Alles oder Nichts" große Errungen schäften, wenn sie an Unvollkommenheiten leiden, abzu weisen, als ein erwünschtes Ganzes mit dem Verzicht auf erwünschte Einzelheiten zu acceptiren. Die „Freisinnige Zeitung" mag die Reichsverfasiung für sehr mangelhaft halten, aber wir glauben doch nicht, daß sie dem Zustand, der durch die Annahme der Verfassung deS Norddeutschen Bundes und späterhin der Versailler Verträge beseitigt worden ist, den Vorzug vor dem heutigen giebt. Jener Zustand würde aber bestehen, wenn der Reichstag 1867 und 1871 sich nur die Mängel des Verfassungsentwurfs vergegenwärtigt hätte. Ebenso sicher ist, daß wir nach Ablehnung der Justiz gesetze der siebziger Jahre zwar heute die Verbesserungen des Gerichtswesens, deren Verweigerung die Fortschrittspartei zur Ablehnung bestimmt hatte, auch nicht besäßen, dafür aber die unbestritten großen Vortheile, die die Gesetze mit sich ge- Die Farben-Photographie. Lou vr. Paul Baumeister. Nachdruck »erseten. Zum zweiten Male innerhalb weniger Wochen ist es der deutschen Wissenschaft gelungen, der Natur eines ihrer Ge heimnisse ru entreißen. Nachdem Röntgen dem Auge da» bis dahin verschlossene Innere zahlreicher Körper geöffnet hatte, ist eS nun geglückt, sich deS köstlichsten Reizes der Natur, sich der Farbe zu bemächtigen. Ja, e« ist kein Zweifel, daß das große Problem der Photographie in Natur farben, über dem Jahrzehnte lang gegrübelt und geforscht worden ist, durch die Methode deS Arztes vr. Selle in Brandenburg a. H., dessen Arbeiten der bekannte photo graphische Specialist Vr. Neuhauß in der Berliner photo graphischen Bereinigung und wenige Tage darauf in einer Specialaudienz unserem Kaiserpaare vorfübrtr, in allem Wesentlichen gelöst ist. Dir epochemachende, wissenschaft liche und künstlerische Bedeutung dieser eminenten Erfindung und der Reiz, den ihre Erzeugnisse auf jeden Beschauer au«- üben, machen sie gleicherweise interessant. Um die« Problem hat sich bekanntlich bereits Professor Bogel viel Mühe gegeben. Doch ist das sog. Vogel'sche Verfahren überhaupt kein photographisches Verfahren. Prof. Bogel fertigt drei Aufnahmen mit den drei Farbcnfiltern roth, grün und blau an und stellt nach ihnen drei Negative her. Dann wird eine Druckplatte (Zinkätzung) verfertigt, die mit den erwähnten drei Farben eingewalzt wird. Es bandelt sich also hierbei nur um ein Druckverfahren, da« wegen der großen Auflage, die e« ermöglicht, wohl für billige JllustrationSzwecke geeignet ist, im übrigen aber treue und feine Naturbilder schon darum nicht zu geben vermag, weil daS bekannte Netz de» autotypischen Verfahrens auch hier unentbehrlich ist. Ein wirklich photographisches Verfahren hingegen ist da« auf der Zenkrr'schen Theorie beruhende Lippmann'sch» Verfahren. Es ist da« einzig«, da« bereits mit'einer Aufnahme zur farbigen Reproduktion zu gelangen vermag. Ein von uns in Augenschein genommene« Bild eines Blumen sträuße« nach diesem Verfahren zeigte allerdings eineu hoben Grad voa Naturwabrbeit und Reichthum der Farben. In dessen haften der Methhde doch erhebliche Mängel an. DaS *) El» interessanter Bewri« für die vortreffliche Beschaffenheit der Augen unierrS Kaisers mag hier bei Gelegenheit erzählt sein. Zwischen den Linien dieser Farbentasel befinden sich mikroskopisch klein, Worte. Der Srklärer bemerkte, sie seien ganz scharf und mit der Lupe wohl zu lesen. „0, da« kann ich auch so!" erklärte der Kaiser, und ließ diesen Worten sofort die That folgen. Verfahren ist ungemein schwierig und in Deutschland ist es Wohl nur vr. Neuhauß gelungen, Bilder nach dem Lipp- mann'schen Verfahren zu erzielen. Der Hauptmangel aber ist der, daß eine Vervielfältigung dabei ausgeschlossen ist; jede Aufnahme bleibt ein Unikum wie die Daguerreotypie. vr. Selle nun ging, wie bereits Bogel, von der Jung- Helmholtz'schen Theorie aus, gelangte jedoch nach etwa fünf jähriger Arbeit zu einem wirklichen photographischen Ver fahren. Auch er stellt drei Negative her, von denen er aber auf besonders präparirten Gelatinebäutchen direkte Copien nimmt. Diese Präparation besteht darin, daß die belichteten Stellen nach der Belichtung Anilinfarbstoffe aufnehmen. Das zu photographirende Object wird also drei Mal ausgenommen, wobei einmal das Roth-Licht, die anderen Male da« Gelb- und daS Blau-Licht zur Aufnahme gelangen. Die Exposition nimmt nur unerheblich mehr Zeit in Anspruch, als bei unserem gewöhnlichen photographischen Verfahren. Indem man nun die drei Platten, bezw. Häutchen genau übereinander legt, erhält man den ganzen Farbenreichthum der natürlichen Er scheinung. E« konnte vom photographischen Standpunkte au« bezweifelt werden, ob die« accurate Uebereinanderlegen möglich sei: vr. Selle ist e« aber in der That gelungen, und zwar, wie un« versichert wird, ohne daß er dafür einen großen Zeitaufwand brauchte. Die Zahl der Copien ist un beschränkt. Betrachtet man nun die »ach dem Selle'schen Verfahren hrrgestellten Aufnahmen, so steigert sich unser Erstaunen von Bild zu Bild. Bei der Aufnahme einer Farbentafel konnten wir da« Bild entstehen sehen, indem die Platten der Reihe nach übereinander gelegt wurden; es hat etwa« geradezu verblüffende«, sieht man so vor seinen Augen die ganze Farbenwelt der Natur gleichsam aufwachsen.*) Der sammtene Schmelz einer dluclc rose, die mehlige Färbung eine« Nrlkenkelche«, da« atlassene Schillern d«S Schmetterling« — all' diese tausend Wunder der Schöpfung sind hier mit subtiler Feinheit und sicherer Klarheit wieder gegeben. Geradezu wunderbar ist ein Arrangement von Pfauenfedern, da« die changirenden blau-grünen Farben nicht allein in den Augen, sondern auch im kleinsten Federchen ge treu festhält. Eine Photographie des vis-ä-vis von vr. Selle's Wohnung befindlichen Ladens zeigt uns die Farben der im Schaufenster ausgestellten Waaren, das japanifirende Muster der Thür-Vorhänge u. s. w. miniaturartig deutlich. Auch sehr interessante Aufnahmen von Straßen und Plätzen sind ge lungen; sehr drollig ist, daß auf der einen ein Karren grün und ein Wagen roth erscheint, weil sie vor Absolvirung der dritten Aufnahme vom Orte der That weggefahren waren. Bei den Photagraphien nach Farbendrucken geht die Treue der Wiedergabe so weit, daß der Kenner sofort die Natur der Vorlage (Oelfarbendruck rc.) erkennt. Eine Aufnabme nach einer Reproduktion von Guido Reni's Aurora ist ungemein reiz voll; vom künstlerischen Standpunkte aus besonders bemerkens- werth ist die schöne Wiedergabe der im Lichte der ausgehenden Sonne mannigfach erglänzenden Landschaft. Die Nachbildung eines guten Stilllebens giebt im Changiren des Sammetes, in dem Meblreif der blauen, in der schimmernden Beleuchtung der gelben Trauben alle Reize der Vorlage ganz bewunderns- werte wieder. Wir wiederholen also: das Problem ist gelöst. Natürlich ist das Verfahren noch mancher Verbesferungen fähig. Man bedenke nur, daß vr. Selle kein berufsmäßiger Photograph ist und nicht einmal über ein Atelier verfügt! Wird die Erfindung jetzt der Praxis übergeben, so wird sie sich natürlich schnell vervollkommnen. Und damit öffnen sich außerordentliche Perspectiven. Wird die neue Erfindung auf viele Gebiete einen tief gehenden Einfluß ausüben, so ist sie doch in allererster Linie für die Kunst von Bedeutung. Schon die Schnell- und Amateurphotographie ist für die Künstler von Wichtigkeit geworden: sie erlaubte ihnen, Stellungen und Motive fest zuhalten, deren sie sonst nicht habhaft werden konnten. Jetzt bietet sich ihnen diefelbe Möglichkeit in Bezug auf da«, was so recht eigentlich da« Wesen der Malerei auSmacht: die Farbe. Unsere Maler studiren ja Wohl jetzt fast durch gängig in der freien Natur; aber zahlreiche Phänomene, Stimmungen und Beleuchtungen sind zu kurz, al« daß ihnen die malende Hand gerecht werden könnte, während der Apparat ihnen oft zu folgen im Stande sein wird. So er weitert sich da« Studienmaterial de« Künstler« in außer ordentlicher Weise, und e« wird dadurch zugleich seiner Farben anschauung ein sicherer Halt, eine Eontrole geboten, die ihm bisher ganz abging. Die unfruchtbaren Streitereien, ob dir« oder jene« auf einem Bilde als „natürlich" gemalt zu beurtbeilen sei, dürften auf ein Minimum reducirt werden, da eine Fülle von Naturaufnahmen nach dieser Seite hin eine einfache Controle bilden dürften. Daran aber wird sich, wie mit Bestimmtheit vorauSzusagen ist, eine allgemeine Umbildung unseres Sehens knüpfen. Unser Farben sinn, der unter all unseren Organen von Schule und Haus bisher am meisten vernachlässigt worden ist, wird nun erst recht zu Geltung kommen; die kindliche Auffassung, daß die Welt roth, grün oder gelb gefärbt sei, wird angesichts der farbigen Naturaufnahmen vor der Fähigkeit schwinde«, die unermeßlichen Wunder der Farbenwelt um uns zu sehen, zu verstehen und zu genießen. Eine solche Ausbildung unseres Farbensinnes aber wird ihrerseits wieder auf untere Bau kunst, unsere Hauseinrichtungen, unsere Kleidung u. s. w. von bedeutsamem Einflüsse sein müssen. Im Besitze der Fähigkeit, eine reichere und schönere Farbenwelt zu erkennen, werden wir auch die Welt um un« reicher und schöner in der Farbe gestalten wollen. Die Besorgniß, daß die Farbenphotographie der Malerei Eintrag thun könne, erscheint nicht begründet. Die Photo graphie copirt, und das liegt der Kunst fern; das Kunstwerk brinat menschlichen Geist und menschliche Seele zum Aus druck und daS vermag die Photographie nicht. Dagegen wird die Farbenphotographie allerdings wohl den Pfusch malern gefährlich werden. Eine gute farbige Naturaufnahme wird einem schlechten Oelgemälde vorgezogen werden, während die Vorzüge einer echten Künstlerarbeit neben ihr erst recht in Helles Licht treten werden. In Bezug auf den Schmuck des Hauses bedeutet die Erfindung geradezu eine Umwälzung. Der grobe und rohe Oelfarbendruck, dessen Erzeugnisse bisher m solchen Mengen die Wände zierten — fa't hätten wir gesagt: die Wände von Hütte und Palast; denn es ist unglaublich, wie weit hinauf die Geschmacklosigkeit reicht —, steht jetzt seinem Ende ent gegen. Aber auch der feinere Farbendruck muß in seiner Bedeutung verlieren. Er hat sich doch zarteren, künstlerischen Wirkungen nicht gewachsen gezeigt; und die durch gute Leistungen rühmlichst bekannte „Preußische Gesellschaft der Kunstfreunde" z. B. ist an den delikaten koloristischen Effecten von Böcklin's „Mönch" gescheitert. Diese Lücke kann eben anerkanntermaßen nur ein photographische« Verfahren aus füllen. Nun haben wir die Aussicht vor uns, die Land schaften, die wir lieben, in der vollen Farbenpracht ihrer Er scheinung, die Werke der großen Maler mit allen ihren künft lerischen Reizen ständig vor unseren Augen zu baden, und auS der Erfindung, die der Gelehrte in dem kleinen Havel städtchen machte, ergießt sich ein Strom von Schönheit und Lebensfreude auch in da« bescheidenste und letzte Hau«.
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