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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.08.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-08-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970823027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897082302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897082302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-08
- Tag1897-08-23
- Monat1897-08
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernjatz nach höherem Taris. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit de» Morgen-Ausgabe, ohne PosrbesörLerunz; 60.—, mit Poslbeförderung .4i 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abrnd-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Marge »-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Hei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Berlag von E. Volz in Leipzig. Montag den 23. August 1897. 91. Jahrgang. Der Ascher Volkstag. Man schreibt unS aus Asch, 22. August: Der VolkStag nahm (wie schon telegraphisch gemeldet) einen groß artigen Verlauf. Da die Verhandlungen zwischen dem Führer der Deutschen Westböhmens, Schriftleiter Tins, welcher den Volks tag einbrrufen, und zwischen der Regierung zu keiner Einigung führten, wurden alle Veranstaltungen verboten. TinS wurde heute nochmal- zum Statthaltereirath berufen, um über die äußerst kritische Lage zu berathen. Er Warnte eindringlichst davor, die tschechischen Gendarmen eingreifen zu lassen, umsomehr, als die Menge eine Umgehung der Verbote nicht beabsichtige und sich trotz der durch das große Machtaufgebot hervorgerufenen Erregung ruhig verhalte. Vormittag schon waren in Asch so viele Fremde eingetrofsen, daß sie keine Unterkunft in Hotels und Gasthäusern finden konnten, weshalb sich die Plätze und Straßen mit Menschen füllten. Zwischen 1 und 2 Uhr zogen unaufhörlich einzelne Trupps von 1000—2000 Mann über die Grenze nach dem bayerischen Orte Wilden au. Dort aber entstand nun ein lebensgefährliches Gedränge. Nach mäßigster Schätzung dürsten um 3 Uhr Nachmittags aus der großen Wiese mehr als 30 000 Personen versammelt gewesen sein. Ab geordneter Jro gab bekannt, daß, La eine Versammlung in Bayern nicht angemeldet sei, selbstverständlich eine solche nicht abgehalten werden könne, weshalb man sich — was man ja auch nur beabsichtige — auf eine große Massenkundgebung beschränken werde. Jro hielt sodann eine stammende Protestrede gegen die Vergewaltigung des deutschen Volkes in Oesterreich, die mit unbeschreiblichem, begeistertem Jubel ausgenommen wurde. Es sprachen ferner noch zwei Reichs deutsche unter brausendem Beifall. Die Kundgebung fand hart an der Grenze auf reichs deutschem Boden statt. Plötzlich erschienen zwei österreichische politische Commissare und schritten bis an die Grenze heran. Sie wurde» von der genügend gereizten Menge mit Heil-Rufen empfangen, kamen aber trotzdem mit provokatorischer Haltung näher, obwohl sie die Vorgänge auf bayerischem Boden nichts angingen. So kam cs, daß sie aus einmal von der riesigen Menschenmenge umringt waren. Mehrere Personen stürzten, darunter einer der Eommissare, es entstand eine Panik, indem man annahm, dieselben seien gegen die Menge mit neuerlichen Verfügungen ein geschritten, und bald mußten die beiden Herren die Flucht ergreifen. Der eine zog sich bei dem Sturze eine unbedeutende Ritzwunde zu. In der nächsten Viertelstunde marschirten (auf böhmischem Gebiet) 40 Gendarmen im Laufschritt mit geladenem Gewehr und gefälltem Bajonnet der Menge entgegen. Die tschechi schen Gendarmen nahmen zähneknirschend eine drohende Haltung ein. Die Aufregung ist unbeschreiblich. Ich eile hinweg, um diesen Bericht zu schreiben, und erfahre unterwegs, daß die Behörde telegraphisch Militair von Eger verlangt habe. Es liegt großes Unheil in der Luft. Die Straßen der Stadt sind von Menschen gefüllt. Schriftleiter Tins und der Ascher Bürger meister eilen zur Bezirkshauptmannschaft. * Von einem Reichsdeutschen geht uns folgender Bericht zu: Von Bad Elster aus der böhmischen Grenze zustrebcnd und die böhmischen Ortschaften Grün, Krugsreuth, Neuburg und Schönbach berührend, wurde am Sonntag gegen Mittag die gen Asch ziehende Menschenmenge von Kilometer zu Kilometer dichter. Die Männer trugen sammt und sonders Kornblumen, die Frauen nnd Mädchen waren mit schwarzrothgoldenen Brust- und Haarschleifen, Schärpen und Gürteln von gleicher Farbe geschmückt; auch die Flaggen, deren jedes Haus in Asch mindestens eine auswies, leuchteten schwarz- rothgold, daneben bemerkte man zahlreiche blauweiße (Bayern) und grünweiße (Sachsen) —schwarz gelb aber fehlte gänzlich. Das Heil-Rufen wollte kein Ende nehmen. Bevor wir wirklich in Asch ein gerückt waren, wurden wir bereits verständigt, daß der Volkstag nicht dort, sondern in dem nahegelegenen bayerischen Orte Wildenau stattfände, und die Schritte der vielen Tausende von Deutschböhmen und Reichsdeutschen lenkten denn auch alsbald diesem „neutralen" Boden zu. Leider gestattete das königl. Bezirks amt Rehau auch in Wildenau die freie Aussprache nicht, und es mußte sich der Neichsrathsabgeordnete Jro aus Eger darauf beschränken, die vielen Tausende beiderlei Ge schlechts zu begrüßen und zu festem Zusammenhalten, sowie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu ermahnen. Es wurden die deutschen Trutzlieder „Deutschland über Alles", sowie „Die Wacht am Rhein" intonirt, alsdann brachen die patriotischen Wallfahrer in größeren oder kleineren Trupps wieder auf und gingen nach Asch zurück. Bevor die Stadt indessen erreicht war, hatte Ab geordneter Jro sich auf dem bayerisch-österreichischen Grenzstreifen postirt und richtete von hier aus eine mit Enthusiasmus auf genommene längere Rede an die Gesinnungsgenossen, welche gleich ihm das Badeni'jche Regierungssystem verdammen. Weiter sprachen dort noch Or. Ne and er aus Netzschkau und Redakteur vr. Katten- tidt aus Hof. Bis hierher waren die Deutschen, Dank der bewiesenen Ruhe und Besonnenheit, von der zahlreich aufgebotenen fremden Polizei macht unbehelligt geblieben; zwei höhere Beamte der Prager Statthalterei waren indessen in Uniform bis an die öster reichische Grenze vorgedrungen, und gegen diese richtete sich nun der ganze Unwillen der aufgeregten Volksmenge. Es konnte denn auch nicht verhindert werden, daß die Beiden umringt und nach Asch zu gedrängt wurden; da die Beamten ungeachtet ihrer bedenklichen Lage noch Drohungen gegen die Menge aussprachen und blank zogen, so wurde sogar von Stöcken und Schirmen Gebrauch gemacht, und man sah die Angegriffenen kurz vor Asch blutend querfeldein die Flucht ergreifen. In Folge dieses unliebsamen Vorkommnisses wurde die Stadt in der Nähe des Bahn hofes — nach der bayerischen Grenze zu — längere Zeit durch die Gendarmen abgesperrt. Als aber die Menge in den Straßen, Wirth- schäften und auf den Plätzen die die Teutschböhmen bei aller Be- drückung auszeichnende Ruhe bewahrte, wurde die Sperre bald wieder aufgehoben, wohl auch in Folge des energischen, trcudeutschen Auf tretens des Ascher Bürgermeisters Schindler. Das Gerücht, es werde in der achten Abendstunde Militair von Eger eintreffen, um die Ordnung aufrecht zu halten, bewahrheitete sich nicht (s. unten. D. Red.) — es war ja die Ordnung auch nirgends gestört worden —, und wennschon ein wirklicher praktischer Erfolg dieses auch von freundlichem Wetter begünstigten Volkstages nicht erzielt wurde, weil die in Asch bez. in Wildenau geplanten Reden in der Hauptsache ungehalten blieben, die Zusammengehörigkeit der Deutschen diesseits und jenseits der Grenze ist doch abermals aufs Deutlichste documentirt worden, und die Deutschböhmen werden, unserer Sympathien sicher, den Kampf gegen Baden! mit un- gebrochenem Muthe weiter führen. Vom Wolff'schen Telcgraphenbureau gehen uns noch folgende Meldungen zu: * Asch, 22. August. 9'/- Uhr Abends. Ta die Einberufer der heutigen Versammlungen erklärten, den von der Behörde gestellten Bedingungen nicht entsprechen zu können, wurde die Ab haltung der Versammlungen untersagt. Im Laufe de-Z Vormittags fanden nur vereinzelte Ansammlungen statt. Kleine (?) Trupps begaben sich nach dem jenseits der österreichischen Grenze gelegenen Dorfe Wildenau, kehrten jedoch, da sie von den bayerischen Behörden zurückgewiesen wurden, am Nach mittage wieder zurück. Diesseits (?) der österreichischen Grenze wurde Halt gemacht; mehrere Reden wurden gehalten. Mit Rücksicht auf das aggressive (?) Vorgehen der Menge gegen die Beamten der Statt halterei rückte die Gendarmerie vor, ohne bisher von den Waffen Gebrauch zu machen. Ein von Eger requirirtes Bataillon Landwehr ist hierher abgegangen. * Asch, 22. August. Heute Abend wurden die Fenster der Bezirkshauptmannschaft eingeschlagen. Die vor demselben angesammelte Volksmenge wurde zerstreut. Zahlreiche Ver- Haftungen wurden vorgenommen und der Platz, sowie die an liegenden Straßen durch Militair und Gendarmerie besetzt und abgesperrt. Politische Tagesschau. * Leipzig, 23. August. Heute tritt in Zürich ein internationaler Arbeitcr- schutzcongresz zusammen; er ist einberufen von dem Borstand des schweizerischen Arbeiterbundes und soll Vertreter der Arbeitervereine aller politischen Richtungen zur Feststellung der Grundzüge einer internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung vereinigen. Das vorläufige Verzeichniß der Cvngreßtheil- nehmer weist 328 „Delegirte" und 1l8 „Gäste" auf. Der schweizerische Bundesrath entsendet als Dele- girten Fabrik-Inspektor Schuler; von den schweizerischen CantonSregierungen haben Vertreter angemeldet: Zürich, Bern, Zug, Baselstadt, Aargau, Luzern, St. Gallen, Tessin. Bekanntlich hat die Schweiz schon früher einmal osficiell den Versuch unternommen, eine internationale Arbciterschutz- conferenz zusammenzuberufen. Diese Absicht kam nicht zur Ausführung, da die Erlasse Kaiser Wilhelm's II. vom Februar 1890 die Ankündigung einer solchen Conferenz in Berlin enthielten. Die jetzt in der Schweiz statt findende Eonserenz geht nicht von der schweizerischen Regierung aus, sondern ist aus Arbeiterkreisen berufen; sie unterscheidet sich in einer Beziehung wesentlich von der am 15. März 1890 in Berlin zusammengetretenen. Damals war darauf geachtet worden, daß neben bedeutenden Staatsmännern auch Arbeiter, neben Gelehrten auch Männer des praktischen Lebens an dem Congresse theilnahmcn. Der Züricher Congreß ist im Wesentlichen eine Zusammenkunft von Arbeitervertretern, wenn auch Socialpolitiker zugelassen sind, die indessen nur eine berathende Stimme haben. Immerhin ist es ein Fortschritt, daß der Congreß nicht in der Absicht, eine bestimmte politische Partei zu fordern, berufen worden ist, sondern zu dem Zwecke, nach Möglichkeit die Frage des Arbeiterschutzes vorwärts zu bringen und politische Zänkereien zu unterlassen. Es ist in den beiden Einladungs rundschreiben betont, daß weder politische, noch religiöse Richtungen bei den Arbeitervertretern bevorzugt werden sollten. Die Zurückweisung parteipolitischer Rederei ist uni so nothwendiger, als der Congreß sich eine gehörige Arbeitslast ausgebürdet hat. Die Frage des Arbeiterschutzes soll von allen Seiten untersucht werden. Es sollen auch die Fragen der Hygieine, der Arbeit von Frauen und Kindern, der Arbeitsdauer und andere mit dem Schutze des Arbeiters und der Erhaltung seiner körperlichen und sittlichen Kräfte zusammenhängende Fragen zur Erörterung gelangen. Ein Mangel dürste sich bei der Berathung der verschiedenen Fragen zeigen. Wohl sind außer den Vertretern der Arbeiter auch Vertreter verschiedener socialpolitischer Richtungen aus dem Gelehrtenstande anwesend, aber an Arbei tgeb ern scheint es auf dem Congresse fehlen zu sollen. Es ist deshalb die Gefahr vorhanden, daß in den einzelnen Sectionen Tbesen ausgestellt werden, deren Durch führung vom Standpuncte des Arbeiters Wohl Wünschens werth sein mag, die aber praktisch sich nicht durchführen lassen, weil sonst die Production zur Unmöglichkeit würde. Denn das ist doch sicher, daß der Staat bei der Handhabung des Arbeitsschutzes die Möglichkeit des Arbeitgebers, zu existiren, als Grenze ansehen muß. Kommen nun Reso lutionen zu Stande, die, weil die Theilnahme des einen Ju- teressenkreises, die Theilnahme der Arbeitgeber, gefehlt bat, übertriebene Forderungen, deren Erfüllung außer dem Be reiche der Möglichkeit liegt, aufslellen, so wird die Sache, der der Congreß dienen will, nicht gefördert. Immerhin wird man dem Congresse mit Aufmerksamkeit zu folgen haben. Wenn auch vielleicht die Schlußfolgerungen, die auf dem Congresse gezogen werden, wegen ihrer Einseitigkeit praktisch nicht verwerthbar sein sollten, so wird doch sicherlich bei den Berathungen werthvolles Material zu Tage gefördert werden, insbesondere, wenn die zugesagte Ausschließung politischer und religiöser Zänkereien glückt. Herr Liebermann von Sonnenberg antwortet aus die vor Kurzem mitgetheilte Erklärung seines Fractionsgenvssen Köhler in seinem Organ folgendermaßen: „Es ist ganz gewiß bedauerlich, daß kurz vor den allgemeinen Wahlen, und während wir bei einer Nachwahl im Kampfe stellen, ein Abgeordneter so wenig CorpSgeist besitzt, durch überflüssige Redseligkeit die Partei bloßzustellcn, aber sonderlich erstaunt wird darüber unter den Abgeordneten der Fraktion, die Herrn Köhler kennen, Niemand sein. Er ist nie etwas Anderes ge wesen als eine Ziffer in der Fractionsliste, nnd als solche wird man ihn vielleicht auch noch nach seinen letzten Gestand, nisscn belassen, weil wir vorläufig erst ein kleines Häuslein sind. Für Herrn Philipp Köhler ist weder „Liebermann's" noch irgend eine andere „Führung" jemals vorhanden gewesen. Aber er „genirte" auch die Fraktion nur wenig, nämlich nur, wenn er ob und zu einmal in der „wendischen Hauptstadt" Berlin gewesen war. — Wer sich unbefangen vergegenwärtigt, wie die Fraktion der deutschsocialen Reformpartei zunächst durch mechanischen Zu sammenschluß verschiedener antisemitischer Richtungen, die sich jähre- lang scharf befehdet hatten, entstanden ist, wird zugestehen müssen, daß auch die organische Verschmelzung in den drei Jahren seil dem Eisenacher Einigungstage sehr große Fortschritte ge macht hat." Anspruchsloser, als Herr von Liebermann in den letzten Worten sich zeigt, kann man nicht gut sein. Wenn aber Herr v. Liebermann in der vorstehenden sanflmüthigen Erwiderung den Fleiß, den Herr Köhler als Reichstagsabgeordneter bewiesen, mit einer schlechten Ceusnr versieht, so sei daran erinnert, das; Fenttletsn» Eine Sommermondnacht. 4j Novelle von Wilhelm Jensen. Nachdruck verboten. Ganz unbeträchtlich war im klebrigen die Wegestrecke nicht, zehn Minuten mußten sie Wohl schon vom Bahnhof hergegangen sein. Die wachsende Helligkeit ließ erkennen, daß Graseck eine Gebirgsortsckaft mit ause'nandergestreuten Häusern war, alle voll ländlich, noch ohne irgend welche Ein mischung städtischer Bauart. So gingen augenscheinlich auch sämmtliche Bewohner nach Landbrauch zu Bett; es konnte noch nicht weit über zehn Uhr sein, aber alle Fenster außer denen des Gasthauses lagen schon dunkel und still. Nur aus der Nähe eines etwas seitwärts vom Wege jetzt halb er kennbar werdenden Dackes klangen zugleich Helle und ge dämpfte Töne einer Stimme herüber; die eines jungen Mannes schien's, der sich nächtlicherweile im Gesang übe. Fran von Eisenhut blieb aufhorchend stehen und sagte: „Da singt der Hiescl wieder." Ihr Begleiter fragte: „Wer ist daS?" und sie erläuterte: „Der Sommerkalb-Hiesel, er wohnt drüben am Berg und kommt jeden Abend herunter, um bei der Cunci zu fensterln." „Fensterln? daS klingt komisch, was heißt daS?" fragte HanS Bachstelz. „Unter ihrem Fenster zu stehen »oder zu sitzen und ein Lied zu singen". „Warum thut er denn daS?" „Ich denke mir, weil er die Cunci gern hat und meint, sie höre eS gern, und hofft, er gefalle ihr damit. Sie ist ein hübsches Mädchen, und ich glaube auch, sie freut sich dran, sonst tbät ers wohl nicht jeden Abend. Es klingt bis zu meiner Wohnung herüber, ich höre immer drauf hin, denn ich habe nichts lieber als Gesang; zumal bei Nacht, wenn Alles sonst still ist, da träumt sichS so schön dabei ein. Aber wir dürfen unS nicht anfbalten, damit Sie in Ihr Gasthaus zurückkominen. Sie wetden müde stin und schlafen wollen. Singen Sie auch? Mich deucht, in Ihrer Stimme ist ein Klang, als könnten Sie'S wohl". Der Befragte stotterte etwas: „Ich — rin bischen — ich habe eS zuweilen versucht, wenn ich allein bin —" »Das ist unrecht von Ihnen, Andern «- nicht zu gönnen, die sich gewiß daran freuen würden. Haben Sie denn Niemanden, von dem Sie sich denken könnten, er oder sie höre es gern?" „Nein — wer — wer sollte das sein?" brachte Hans Bachstelz etwas mühsam heraus. Die junge Frau lächelte: „Natürlich Jemand, den Sie gern hätten, und der auch Sie gern hätte, das ist Wohl meistens gegenseitig. Aber ob es so Jemanden giebt und wer es ist, kann ich ja nicht wissen, wenn ick auch glaube, daß eS kaum anders sein kann. Da sind wir in meiner Aumühle, und Sie werden froh sein, von Ihrem ritterlichen Geleit umkehren zu können. Nur noch ein paar Schritte hier zwischen den Bäumen; wollen Sie wirklich morgen unser Graseck schon wieder verlassen? Die Umgegend ist sehr hübsch und verlohnt sich sckon, einen Tag darin zuzubringen." Die Aumühle regte die Empfindung, bei Tage einen idyllisch-reizvollen Eindruck zu machen. Sie lag von Laub kronen halb überdeckt und von Buschwerk umgürtet; unter Gezweig hörte man den Bach, der ihr Rad umtrieb, leise rauschend wallen und an die Schaufeln plätschern, die jetzt zur Nachtzeit still standen. ES war fraglos vom Aumüller richtig veranschlagt worden, ein paar ihm unnöthige Räume zur Unterkunft von Sommergästen berzurickten; auch daS Gebäude hatte bei ländlicher Schlichtheit Ansprechendes und in gewisser Art Stattliches. Die Vorderseite sah auf ein freies grasbewachsenes Plätzchen, vor ihr zog sich eine kleine neugebaute Veranda bin, Geruch des noch frischen Kiefern holzes verbreitend. Der Haupteingang in das ziemlich lang gestreckte HauS befand sich rückwärts, dock eine Thür führte aus der Sommerlaube vorn in die für sich belegenen Frem denzimmer hinein. DaS ließ sich in der Dämmerbelle unter scheiden, Alles war ohne Lickt und Laut, offenbar lag, was zur Mühle gehörte, schon in festem Schlafe. Frau Cäcilie von Eisrnhut bestätigte eS, einen Schlüssel auS der Tasche ziehend: „Die gehen Alle mit den Hühnern zu Bett, und ich glaube, von einem Erdbeben würden sie nickt aufwachen. Das sind meine Fenster, recht« von der Thür habe ich ein Wohnzimmer und links ein Schlafzimmer, natürlich ganz ein fach möblirt, aber sehr sauber und nett. Hoffentlick werden Sie in Ihrem Gasthaus auch zufrieden sein; den Weg, hier unter den Bäumen durch und links auf der kleinen Straße zurück, können Sie nicht verfehlen, eS ist nickt so weit, wie'S Ihnen vorgekommen sein mag, höchstens sechs bis sieben Minuten. Haben Sie recht vielen Dank für Ihre Liebens- Würdigkeit; fall» Sie meinen Rath befolgen, morgen hier zu bleiben, treffen wir Wohl noch wieder zusammen. Das würde mich freuen — sonst leben Sie wohl, und wenn Sie droben auf dem Jochhorn stehen, schauen Sie einmal herunter. Man muß von der Spitze die Aumühle sehen können." Die Sprecherin reichte ihrem Begleiter die Hand, die sich, da sie keine Bedeckung trug, außerordentlich zart, weich und warm anfühlte. Zu sehen wars nicht, nur zu empfinden, daß er sich bemühte, Worte über die Lippen zu bringen, und sie fragte: „Wollen Sie mir noch etwas sagen?" „Ja — ich — ich habe noch Ihren Handschuh — den ich im Wagen aufgehoben — ich vergaß bisher, ihn Ihnen . . . „An den habe ich auch nicht mehr gedacht. Haben Sie nur den einen?" „Einen? Waren eS zwei? Nein — ich habe nur ..." Lächelnd fiel die junge Frau ein: „Ich glaube, daß ich für jede Hand einen besessen habe, da muß der andere sonstwo hingerathen sein. Wahrscheinlich ist er mir unterwegs weg gefallen, und Sie finden ihn vielleicht. Behalten Sie den da noch so lange, er zeigt Ihnen vermuthlich die Stelle an, wo sein Kamerad liegt, und dann geben Sie beide im Gast hause für mich ab, oder, falls Sie nock bleiben, bekomme ich sie Wohl von Ihnen selbst." Der Student hielt die weiche warme Hand noch. Er versetzte: „Ja, ich will nach ihm — gewiß — er — er wird mir die Stelle . . ." In seiner Absicht lagS unverkennbar, noch etwas Weiteres beizufügen, doch Frau Cäcilie zog mit einem „Gute Nacht!" ihre Hand jetzt zurück, und verwirrt brachte er, wie eS schien, Anderes, als er zu sagen gedacht, heraus: „Fürchten Sie sich nicht, da die Leute so fest schlafen — ganz allein hier in dem abgelegenen Hanse?" „Wovor sollte ich mich fürchten? Ich Lin unter sicherer Hut, und außerdem, wenn mich etwas bedrohte, bin ich überzeugt, Sie würden es durch eine Wirkung in die Ferne empfinden und wiederum als mein Schutzgeist hier erscheinen. Welch herrliche Mondnacht wird eS; die wird schöne Träume mit sich bringen. Noch einmal, gute Nackt!" Sie trat auf die Veranda, und ihr Schlüffe! klirrte im Schlöffe der Thür; HanS Backstelz wandte sich um und ging unter dem Baumdunkel zurück. Er that'S mit geschloffenen Augen, die er öffnete, als er an die kleine Straße gelangte. Dock hier mußte er sich erst etwas besinnen, wo rechts und wo links sei. Dann, als er sich glücklich zu dieser unter scheidenden Erkcnntniß durchgerungen, schloß er die Lider wiederum zu, hielt den Handschuh, dessen College« er suckcn sollte, sich an die Wange gedrückt und wanderte ein wenig taumelnden Ganges den Weg zum dörflichen Gasthaus ent lang. Seitdem er aus dem Zuge gestiegen, mochten erst zwanzig Minuten vergangen sein, die in seiner Vorstellung indeß merkwürdig Unausdenkbares, wie von einem kleinen Ewigkeitsabschnitt angenommen. Mehr als das Doppelte der Zeit war aber auch kaum feit dem Wicdereinsteigen und Platzwechsel Cäciliens von Eisenhut auf der Krcuzungsstaticn verflossen, und vielleicht noch merkwürdiger, daß die junge un glückliche Frau in so kurzer Frist aus ihrer Traurigkeit in io fröhliche Stimmung übergegangen und augenscheinlich solch.- Zuneigung zu einem ihr gänzlich fremden, hübschen jung .i Manne gefaßt hatte. Bollmondnächte haben allerorten aus der mensckcu- bewohnten Erde etwas Wundergleiches, das auch der arm seligsten und kummervollsten Landschaft das silberne Klcio aus dein alten Kindermärcken anzieht. Am verwnnder- scnzsten aber eigentlich ist sie zwiscken hohen Bergen, wenn sie daS stäche Land schon lange überglänzt bat, wäbrcud drunten die schmale Thalsoble noch schwarznächtig raliog: und nur hoch drüben ein Glimmern in der Luft aufäng-, als ob die Milchstraße sich noch mehr verdichtete und lest: tiefer zur Erde herabsenkte. Es scheint, wie wenn dort oben von Feenhänden ein duftiges Gespinnst gewebt würde, zu dein sie heranschwebende, nicht unterscheidbar feine weme, blänlick: und goldfarbige Fäden ineinander einschlagen. Da und dort wirken sie einmal einen Stern in ihren flimmernden Schleier hinein, aber er bleibt nicht an der nämlichen Stelle, ver ändert seine Gestalt, schwindet plötzlich ganz weg und taucht an anderem Fleck wie ein flatternder Gandstreiseu oder wie ein durchbrochener Spitzenbesatz wieder auf. Künste sind'S, die Frau Luna schon vor Jahrtausenden ebenso betrieben, und an denen sie sich noch immer gleick belustigt, hurtig und flüchtig einen Blick durch sckmale Eckarten, Spalten und wunderliche Gucklöcher alter zer borstener Felsenkämme vorauSzuwerfen, daß eS ein paar Augenblicke lang von neckischen weißen Funken sprüht und wieder spurlos auSlischt, als gedächte sie nicht weiter berans- zukommen, sondern steige wieder abwärts zurück. Sie i l eben eine Frau, und zwar eine ewig jung bleibende, die gern Versteck spielt und Possen anstellt, aber innerlick treibt sic's trotzdem zugleich auck, sich in ihrer wirklichen Gestalt z i zeigen. Und so rückt sie doch mählich weiter empor, und
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