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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.09.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-09-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970917018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897091701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897091701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-09
- Tag1897-09-17
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Tagwacht" die Socialdemokratie als Universalmittel gegen Wolkenbrüche, Blitzschlag und Hagel, indem sie schrieb: „Die socialen Umsturzgewalten zu überwinden und eine Gesellschaft der Ordnung zu begründen, in welcher die Menschen mit vereinten geistigen und materiellen Kräften auch die Umsturz gewalten der Natur immer mehr in heilsame Schranken bannen — das ist vas Ziel der Socialdemokratie." Sogar der demokratische „Beobachter" konnte diesen Glauben an die Wunderkraft des Zukunftsstaates nicht anders als pathologisch begreifen. Dieselbe Erklärung ist die allein mögliche in Bezug auf die Ansichten, welche der ehemalige deutsche NeichStagS- abgeordnete Moritz Nittinghausen über die directe Gesetzgebung durch daS Bolk entwickelt.*) Nittinghausen entnimmt alle grundsätzlichen Argumente gegen das repräsentative System Rousseau, unterscheidet sich aber von Rousseau in einem sehr wichtigen Puncte. Während Rousseau nämlich einsichtig genug war, die directe Gesetz gebung durch das Bolk nur für ganz kleine Gemeinwesen von höchstens 10 000 Seelen als möglich zu betrachten, erklärt Nittinghausen sie auch für die modernen Großstaaten als vollkommen anwendbar. Das Axiom Nittinghausen's ist, daß zur Feststellung der Gesetze der einzelne Mensch „im höchsten Grade untauglich" sei; nur die„Gesellschaft" sei dazu im Stande, weil „ihre Intelligenz jede andere Intelligenz weit überragt". Selbst die Feststellung des Rechtes durch eine „gewisse" (!) Anzahl von Personen sei sehr unvollkommen, denn sie verhalte sich zur Feststellung durch alle, wie ein Classenvortbeil sich zum allgemeinen Interesse verhält. „Das Repräsentativ system ist unfähig, etwas Anderes als den heutigen Bourgeois staat hervorzubringen. Es treibt vielmehr alle Consequenzen desselben auf die äußerste Spitze, wie sehr sich auch die noch auf dasselbe schwörende falsche Demokratie dagegen sträuben mag." Daher müsse nicht nur jedes Gesetz nur durch Volks abstimmung zu Staude kommen, sondern eS müsse auch jede Körperschaft abgeschasst werden, welche zur Aus arbeitung von Gesetzentwürfen bestimmt ist. Sie würde bald die Herrschaft an sich reißen. Vor Allem müßte das stehende Heer durch Volksabstimmung abgeschafft werden, bevor ein Parlament crcirt werde. Eine gewisse Anzahl von Bürgern solle das Recht haben, eine Volksabstimmung zu verlangen. Zu diesem letzteren Zweck müßte das Bolk in „Secliouen" von höchstens 1000 Bürgern eingctheilt werden. Der Verfasser sagt nicht einmal, ob diese Sectionen territorial abzugrenzen sind oder nicht, ob sie dauernde Eiutheilungen tarsteNen oder nicht, wer die Einlheilung vorzunebmen und nach welchen Gesichtspuncten sie zu geschehen hätte. Die „Section" wählt sich den Vorsitzenden. Dieser löst jede An regung in „einfache Principien" auf und stellt die entsprechenden Anfragen. Das könne nicht schwer fallen. Das Volk wird sich bei der Wahl über Personen immer täuschen, bei der Abstimmung über Sachen nie. Die Züricher Verfassung von 1869 nähere sich diesem Systeme an, begehe aber den Fehler, noch eine repräsentative Körperschaft bcizubehalten. Man kann nur darüber staunen, daß der Verfasser, welcher wcbrere Jahre Mitglied des deutschen Reichstages war, wie cs scheint, im Ernste der Ansicht sein konnte, die Gesetzgebung in de» modernen complicirten Verhältnissen lasse sich völlig durch Volksabstimmungen bewältigen. Die Hoffnung, daß im *) Nittinghausen ist im Jahre 1891 gestorben, seine „Social demokratischen Abhandlungen" sind unter dein Titel „Die directe Gesetzgebung durch das Volk" in fünfter Auslage im Verlage des Wrütiivereins 1893 in Zürich erschienen. Der Wiener Professor Bernatzik widuret im neuesten Heft des Schuioller'jchen „Jahrbuchs sür Gesetzgebung, Verwaltung und Bolkswirthschaft" d cser neuen Ausgabe eine sehr eingehende Besprechung, der wir hier folgen. socialistischen Zukunstsstaate die meisten Gesetze entbehrlich sein würden (ein Gedanke, der seit Thomas Morus immer wiederkehrt), dürfte Wohl, soweit sich hier überhaupt etwas sagen läßt, kaum zutreffen. Denn die allgemeine und gleiche Vertheilung der Arbeit, die Regelung der Production würden einen so ungeheuren Vorrath von abstracten Normen noth- wendig machen, daß man füglich vermuthen kann, jener Ideal zustand würde schon an dieser Ueberzahl von Gesetzen ersticken. Communismus ist eben nur denkbar bei ganz kleinen ein fachen kulturellen Verhältnissen, wo Gewohnheitsrecht herrscht, oder bei Ersetzung des Gesetzes durch einen patriarchalen Despotismus. Die Forderung, daß nicht einmal zur Aus arbeitung der Gesetzesvorschläge Repräsentanten zu berufen seien, sondern die Initiative ausschließlich dem „Volk" überlassen bleiben müsse, erscheint geradezu naiv. Als ob daS „Volk", die „Gesellschaft", nicht aus einzelnen Menschen bestünde! Im vollen Gegensatz zu Schiller nimmt der Verfasser an, daß jeder Einzelne ein Dummkopf, Alle zusammen aber höchst weise seien. Solche Annahmen gehören nicht mehr in die Psychologie der Demokratie, sondern in die Psychopathie derselben. Uebrigens verkennt Nittinghausen, daß ja nicht blos die Gesetzgebung, sondern auch die Rechtsprechung und die Ver waltung repräsentative Thätigkeiten sind. Sollen auch diese durch Volksabstimmung besorgt werden? Wenn nicht, so muß man wohl oder übel die damit betrauten Organe doch wählen. Zwar erwähnt er im Vorbeigehen, daß die Recht sprechung den „Sectionen" übertragen werden solle. Zugegeben selbst dies, wie steht es mit der Verwaltung, mit der Be sorgung der unzähligen Detailgeschäfte der Regierung? Nittinghausen spricht wiederholt selbst von „Ministern". Wie sollten diese anders berufen werden, als durch Wahl? Oder sollte die Berufung derselben durch das LooS ciugesührt werden, wie in einigen antiken Demokratien? Würden die Erloosten weniger der Bestechung ausgesetzt sein, als die Er wählten? Indem Nittinghausen alle diese Fragen ignorirt, sind sie doch nicht auS der Welt geschafft. Es scheint nun nicht uninteressant, mit den Ausführungen Nittinghausen's, die eine ältere Schichte der socialdemokratischen Ansichten varstellen, das ofsicielle Programm der heutigen deutschen Socialdemokratie zu vergleichen. Dieses lautet schon ganz anders. Es verlangt „directe Gesetz gebung durch das Volk vermittelst des Vorschlag.«?- und Verwerfungsrechtes". Es will also daS Parlament beibehalten und nur neben ihm dem Volke die Initiative und ein Recht einräumen, unliebsame Gesetze zu verwerfen, entfernt sich also nicht von demjenigen, was in einer Reihe von Schweizer Cantonen und neuerdings auch in der Bundes verfassung (hier wenigstens für Verfassungsnormen) bereits erreicht ist. Kautsky bemerkt in seinem Commentar zum Erfurter Programm (3. Ausl. 1892) in Lieser Hinsicht Folgendes: „Die directe Gesetzgebung durchs Volk kann, wenigstens in einem modernen Groststaat, Las Parlament nicht übers lässig machen, sie kann höchstens in Einzelsälien zur Corrigirung desselben in Thätigkcit treten. Tie gelammte staatliche Gejetzgebnng durch sie besorgen zu lassen, ist absolut unmöglich, und evenso wenig möglich ist eS, durch sie die Staatsverwaltung zu überwachen und wenn nöthig zu lenken. So lange der moderne Großstaat besteht, wird der Schwerpunkt der politischen Thätigkcit stets in seinem Parlament liegen.... Das Proletariat steht dem Parlamentarismus in einer günstigeren Stellung gegenüber als Bauern und Klein bürger. ... Es ist im Stande, eine eigene von den anderen Clossen unabhängige Partei zu bilden ... es weist auch sehr gut seine Ver treter zu controliren und seinen Interessen dienstbar zu erhalte»; es findet endlich immer mehr Leute in seinen eigene» Reihen, welche fähig sind, es als Abgeordnete im Parlament erfolgreich zu ver treten. Wo das Proletariat als selbstbewusste Classe an den Kampfe» ums Parlament und im Parlament Antheil nimmt, beginnt denn auch der Parlamentarismus seui früheres Wesen zu ändern. Er hört auf ein blostes Herrjchaflsmittel der Bourgeoisie zu sein. . . . Diese Kämpfe gehören zu den wirksamsten Hebeln, bas Proletariat aus seiner Erniedrigung zu erheben. Tie Arbeiter klasse hat also nicht nur keine Ursache, dem Parlamentarismus ferne zu bleiben, sie hat alle Ursache, überall sür die Kräftigung des Parlaments gegenüber der Staatsverwaltung und sür die Kräftigung ihrer Vertretung im Parlament aufs Entschiedenste thätig zu sein." Wenn auch — selbstverständlich — jeder dieser Autoren die Anhänger der anderen Ansicht als „kleinbürgerlich" brand markt, so ist doch kein Zweifel, daß der Standpunkt Ritting- yausen'S heute in der deutschen Socialdemokratie bereits überwunden ist und daß auch in diesem Stücke, wie in so manchen anderen, diese Partei gezwungen war, sich den Anschauungen der von ihr so sehr verachteten „bürgerlichen" Parteien zu nähern und die von der angeblich nur Classen- interessen verfolgenden Wissenschaft gefundenen Resultate sich anzueignen. So weit Bernatzik. Wir möchten unsererseits hinzusügen, daß die Kluft zwischen der Theorie Nittinghausen's und dem Programm der deutschen Socialdemokratie wieder einmal schlagend beweist, auf wie schwachen Füßen das Dogma von der „Internationalität" und der „Solidarität" der Social demokratie steht. Nittinghausen abstrahirt seine Theorie von den cantonalen schweizerischen Zuständen, die deutschen Socialdemokraten gehen über diese Theorie zur Tagesordnung über, weil sie auf die deutschen Zustände Paßt wie die Faust aufs Auge. Deutsches Reich. * Leipzig, 16. September. Aus Dortmund wird uns geschrieben: „Eine Nachricht, bei deren Lectüre man Müde bat, ruhiges Blut zu bewahren, bringt ras „Rheinisch-West fälische Tageblatt" aus der Gemeinde Kray im Kreise Essen. Dort hat zu Anfang deS August bei einer Feier der evangelischen Arbeitervereine des Kreises Gelsenkirchen der Pfarrer Thümmel aus Remscheid die Festrede gehalten. Der genannte Geistliche ist bekannt als einer der über zeugtesten und unerschrockensten Gegner der römischen Papstkirche und ihrer politischen Vertretung in Deutsch land, des Centrums. Wo er in seinen Polemiken gegen Rom mehr das theologische Gebiet betritt, hat er unter den Feinden jedweden confessionellen Gezänkes volle Zustimmung nur selten gefunden. Voll ständig einverstanden aber konnte man sein mit seinem Auftreten in Kray. Es fiel dort auS seinem Munde kein Wort, daS die Katholiken in ihren kirchlichen Gefühlen hätte verletzen können; um so wirksamer prasselten statt dessen die Keulensckläge auf den UltramontanismuS hernieder. Mehreres, waS Thümmel sagte, ist leider nur zu wahr, so z. B. wenn er davon redete, daß man heute alles thun dürfe, nur nicht dem Centrum zu nahe treten, und wenn er darauf aufmerksam machte, wie auf unseren industriellen Werken der katholische (ultramontane) Werkmeister planmäßig den kalbolischen Arbeiter bevorzugt. Wenn cs für seine erste Behauptung überhaupt noch eines Beweises bedurft hätte, so wäre derselbe jetzt erbracht durch das, WaS das „Rheinisch-Westfälische Tageblatt" berichtet. Vorsitzender des evangelischen Arbeitervereins in Kray ist der dortige Po st Verwalter Wieden- Hoff. Ihm wird Schuld gegeben, daß er cs gewesen sei, der den Pfarrer Thümmel nach Kray eingeladen babe. Auch bat er noch das weitere Verbrechen begangen, den ihm per sönlich befreundeten Remscheider Geistlichen zu beherbergen. Die Folge war eine ultramontane Beschwerde bei seiner vorgesetzten Postbehörde in Düsseldorf und diese bat thalsächlich den Ultramontancn den Gefallen gelhan und den ibnen unbequemen Beamten vor die Wahl gestellt, ent weder den Vorsitz im Arbeiterverein nieder; ulegen oder seine Versetzung zu gewärtigen. Herr Wieden- Hoff Hal sich zu dem ersteren entschlossen, ist also glücklich kalt gestellt. So geschieht in unbegreiflicher Blindheit von unseren staatlichen Behörden Alles, was geeignet ist, unserer Beamtenschaft die Betheiligung am politischen Leben mehr und mehr zu verleiden. Wir glauben, daß die Zeit kommen wird, wo die Negierung Ursache haben wird, diese Couuivenz gegenüber dem ultramontancn Machtkitzel ganz gründlich zu beklagen. Es wird dann nur leider zu spät sein." H. Berlin, 16. September. Die Socialdemokraten denken daran, die Forderung, die Maifeier möge durch Nuhenlassen der Arbeit begangen werden, falle» zu lassen. Vorläufig liegt allerdings nur ein Beschluß ver öffentlichen Parteiversammlung für den 1. Hamburger Wahl kreis vor, die den Antrag des bekannten Nedacleurs und Agitators Stolten aunahm: „Der Parteitag möge beschließen, die Forderung der Arbeitsruhs am 1. Mai fallen zu lassen". Aber dieser Beschluß und noch mehr seine Begründung lassen darauf schließen, daß nicht allein in Hamburg der „Welt feiertag" unpopulär zu werden anfäugt. Stolten sagte nämlich zur Begründung seines Antrages: Früher hätten die „Genossen" immer erklärt, die Gcschäftsverhältnisse wären zn schlecht, als daß von einer allgemeinen Arbeite ruhe am 1. Mai die Rede sein könnte; jetzt seien die Geschäftsverhältnisse schon seit zwei Jahren gut, aber die Betheiligung an der ArbeitSruhe sei minimal geblieben. Die ganze Sache sei zum Gespött geworden. Was „Genosse" Stolten hier ausgesprochen und die aus waschechten „Ge nossen" bestehende Parteiversammlung zum Beschluß erhoben hat, ist sicherlich vielen „Genossen" aus der Seele gesprochen, ganz besonders solchen Arbeitern, die mit socialdemokratiscbcn Arbeitgebern zu thun haben. Tie Möglichkeit ist also nickt ausgeschlossen, daß auf dem Hamburger Parteitage wenig stens eine starke Minderheit sich für die Feier des 1. Mai Lurch Arbeit ausspricht. Am Ende bleibt sogar Herrn Pfarrer- Naumann nichts Anderes übrig, als allein mit seinen An hängern an jedem 1. Mai die Arbeit einzustellen. L. 6. Berlin, 15. September. Die Zahl der Irren- anstaltcn Preußens betrug im Jahre 1895 225 gegen 118 im Jahre 1875. Davon befanden sich vier (die Irren kliniken zu Berlin, Greifswald und Halle a. S., sowie die Jrrcnabtheilung in der königlichen Strafanstalt Moabit) im Besitze des Staates. Die Provinzial- und Bezirksverbäude unterhielten 55 selbstständige Irrenanstalten und 3 Anstalten als Abtheilungen von Kranken- und Armenhäusern; 15 Städte besaßen ebenfalls selbstständige Irrenanstalten, und 14 Städte brachten ihre Geisteskranken in Abtheilungen von Kranken-, Siechen - oder Armenhäusern unter. Außerdem nahmen 36 WohlthätigkeitSanstalten im Besitze von Orden und Vereinen Geisteskranke, und zwar vorzugsweise Idioten, auf. Auch zum Erwerbe wurden zahlreiche Irren anstalten errichtet; im Berichtsjahre gab eS 98 Privat- Irrcnanstalten, von Lenen nur 39 Aerzte zu Besitzern batten, während die übrigen 59 Anstalten anderen Privat personen gehörten. Entsprechend der Steigerung der Zahl der Anstalten, ist seit dem Jahre 1875 auch die Anzahl der Insassen derselben erheblich gewachsen. Während zwanzig Jahre vorher 18 761 Fälle von „Geisteskrankheit" in Len Irrenanstalten zur Behandlung gelangten, waren es deren 1895 bereits 60 701. Die Zahl der Fälle von Geistes krankheit ist indeß nicht identisch mit der Anzahl der Per sonen, welche den Irrenanstalten behufs Heilung und Pflege übergeben werden, weil es häufig vorkommt, daß die Geistes kranken innerhalb eines Jahres die Anstalten wechseln. So befanden sich im Jahre 1875 unter den Aufgenommenen 7,84 v. H. männliche und 8,87 v. H. weibliche Irre, welche bereits in anderen Anstalten gewesen waren; im Jahre 1895 stieg LiescS Proccntverbältniß auf 22,14 für männliche und 21,68 für weiblicke Geisteskranke. Unter Berücksichtigung Les Wechsels der Anstalten belief sich remnach die Anzahl der Insassen in den Irrenanstalten Preußens im Jahre 1895 aus 56 647 (30 521 männliche und 26 126 weibliche), während 20 Jahre vorher nur 18 267 (9856 männliche und 8411 weibliche) in Irrenanstalten sich besanden. Ter Zugang allein ist von .5479 Personen im Jahre 1875 auf 18 474 im Jahre 1895 gestiegen. Unter 100 Insassen, welche 1895 in den preußischen Irrenanstalten Aufnahme gefunden batten, Feiirllstsn In der ZchnhlMe. Novellette von Gerhard Walter. Nachdruck verboten. Es War ein harter und böser Winter gewesen. Unend liche Arbeit, Aufregung und dienstlicher Borger, neben der langen und schweren Krankheit meiner Frau, die ich am Tage der Wintersonnenwende in die Erde gebettet, batten mich mürbe gemacht, der ich früher für einen Niese» an Kraft, Gesundheit und Nerven gegolten batte. Und wie der erste Sonnenschein mild vom Himmel schien, da nahm ich Urlaub. Ich mußte hinaus in die tiefste Stille, in daS entlegenste Bergtbal, das ich nur finden tonnte. Und endlich hatte ich eö gefunden. Ein verlassenes ZechenhauS von einem vor langer Zeit aufgegcbencn Borgwerk war zu einem HerbergsbauS für müde Leute einfach und schlicht umzcbaut worden. DaS war so mein Fall. Stundenweit entfernt von jeder mensch lichen Ansiedelung, tief im alten Hochwald verborgen im Gebirge — das gerade suchte ich. Keinem Menschen hatte ich gesagt, wohin ich ging. Ich wollte loS und frei sein: wie ins Grab beurlaubt. Kein Wohlmciiien und kein Nebel» meinen sollte mir folgen. Still durch die schweigenden Wälder streifen, jedem Menschen in großem Bogen aus dem Woge gehen, jedem Briesboten mit sicherem Trotz entgegen leben: „sür mich bast Dn nichts!" — und gesund werden in dieser unverbrüchlichen Einsamkeit: daö war so mein Sinn. Und in solchem Sinn ging ich langsam nachdenklich und innerlich beruhigt den Weg durch die tiefe, steile Bergschlucht meinem Zechenbause zn. Nach stundenlanger Wanderung tauchte daS schlichte HauS vor mir auf, rings von ernsthaften, dunklen alten Fichten umstanden. Freundlich empfing mich die WirthSfrau, sauber > und gut zu schauen, und führte mich auf mein Zimmer. Es lag nach Morgen, und die ersten Sonnenstrahlen kamen zu mir ins Kämmerlein. Der Blick ging auf eine Bergwiese, auf der behaglich eine bunte Rinderheerde weidete: nur das abgestimmte Geläut der Glocken klang in die große, feierliche Stille hinein. Ich dehnte die Arme zum Fenster hinaus: „Frei! Frei!" Ein Gefühl nie gekannten Wohlbehagens kam über mich: „Die Well ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual?" „Hier bleibst Du lange!" zog eS mir durch den Sinn, „und soll'S mir auf vierzehn Tage Nachurlaub gar nicht ankommen!" Es klopfte. Ein niedliches Mädcken schaute ins Zimmer: „Wenn'S dem Herrn gefällig wäre — eS ist unten an gerichtet!" Schön! habe nichts dagegen einzuwenden. „Bitte, hier links!" sagte die Maid und öffnete die Tbür. Und in derselbigen Tbür blieb ich sieben. O weh! Da stand am Fenster, den Rücken mir zugekchrt, eine Hobe, schlanke Gestalt in elegant einfachem schwarzen Kleide. Jetzt wandte sic sich und sah mich an. Es war ein ernstes Gesicht, das sich mir zuwaudte, aber eS lag auf den klugen, regelmäßigen Zügen und in Len großen dunklen Augen keine Spur grüßender Freundlichkeit. Sic mochte dreißig Jahre alt sein. Ich ver neigte mich kalt und gehalten. Die Gesellschaft war gegen all' meine Pläne. Sie grüßte kaum wieder. Offenbar war ihr der neue HauS- und Tischgenosse genau so unangenehm, wie mir die Ueberraschung, sie hier vorznsinden. „Wollen die Herrschaften Platz nehmen!" — ES hatte so eisig kalt zwischen uns hindurch geweht beim ersten Blick, daß ich mir kaum die Mühe nahm, meinen Namen zu murmeln. Sie neigte nur wieder unnahbar daS Haupt. Dies Gegenüber bei Tisch war ja gräulich! — Wie der zweite Gang abgetragen war, stand sie auf und ging hinaus, ohne eine Spur von einem Gruß. „Gott sei Dank!" sagte ich im Stillen. Nnn schmeckte eS mir erst. „Hören Sie mal", sagte ich zu dem eintretenden Wirth, „das ist aber gegen die Abmachung! Ich habe Ihnen ge schrieben, ich wollte allesin sein!" „Das will die Baroneß ja auch!" antwortete er mit seltsamer Logik, „dann wird ja keiner von ihnen den anderen stören. Sie ist den ganzen Tag im Walde oder sitzt mit ihrem Buch auf dem Altan." „So? Und bei Tisch? Darauf laß' ich mich nicht wieder ein! Entweder Sie decken für mich allein, oder ich ziehe wieder fort!" Er wollte für mich allein decken. Und so geschah es. Die Baronin Friesen aß um halb eins und ich blieb bis ein Uhr im Walde. Wir saben uns nie; oder wenn wir ein ander sahen, gingen wir uns aus dem Wege. Die Sache war höchst einfach. Aber lästig war's doch. Wäre es sonst nickt so herrlich ringsum gewesen in Berg und Wald, am stillen See und am brausenden Wasserfall, in dunkler Schluckt und auf sonnigem Wiesenhang — ick wäre wieder auf und davon gegangen. Und die Frau Baronin mochte ähnlich denken. Eines Mittags — eS waren schon zehn bis zwölf Tage seit unserem stillschweigenden ckos-ü-ckm vergangen, trat ick mit dem Scklage eins ins Eßzimmer. Da stand die Baronin — und deckte den Tisch für mich! Ich blieb starr in der Thür stehen. Sie blickte aus. „Verzeihen Sie, Herr RegierungSrath, Frau Müller ist krank; ich bin gleich fertig!" Es war eine wohllautende Stimme in eigenartig tiefer Lage. Ihr Blick hatte nichts Befremdliches mehr. Im Grunde war sie eine auffällig edle und ansprechende Erscheinung. Und jetzt lachte sie sogar ein klein wenig über wunderschönen Weißen Zähnen: „Nun räume ich daS Land!" Sie ging mit leichter Neigung deS Kopfes an mir vorüber. Unwillkürlich verneigte ick mich tief wie im Salon. Ich war sonst nickt eben auf den Mund gefallen, aber diesmal batte ich doch kein passendes Wort gesunden. — Sonst blieb eS unter uns beim Alten. Nnr daß wir einander nicht mehr geflissentlich aus dem Wege gingen und bei Begegnungen uns standesgemäß grüßten. Eines TageS, cs ging in die dritte Woche, war ich in der Frühe auf lange Tagesfahrt fortgegangeu und kehrte, nickt fern vom Sonnenuntergang, zurück. Es war schon tagelang heiß gewesen. Aufgelöst und buugrig und durstig strebte ick dem Zechenhause zu. Und ick ging um so schneller, als das Knurren und Nollen in den Wolken, die mehr und mehr den Himmel bezogen hatten, immer vernehmlicher wurde. Eine Stunde batte ich noch zu geben. Da zuckte der erste Blitz durch die Wolken, die dunklen. Sie batten mir gesagt, ein Gewitter in den Bergen bier sei kein Spaß. — Wenri's nur nickt zu schnell heraufkam! Jetzt schon ein krackender Donnerschlag; ein zweirer, leuchtender Zick Zack- Blitz; ein schmetternder Schlag kurz darauf, der furchtbar zwischen den Bergen rollte und grollte — und nnn gar die ersten schweren Tropfen und der Sturm, der heulend und sausend durch den Wald fuhr. Das konnte gut werden! Ich stürmte weiter. Ueber mir war wilder Aufruhr; jetzt ein näher und näher kommendes Rauschen: der strömende Regen, der in die Tannenkronen fiel. Da — was lag dort am Waldsaum auf ter vor springenden Felsecke? „Ick war gerettet." Tic kleine AuS» sicklS- und Sckutzhütte gab mir woblzeitig Obdach. Schnell durch den peitschenden Regen über den offenen Raum, die Tbür ausgerissen: ein lobender Blitz, ein knatternder Schlag, ein Schrei — und im bläulichen Lickt steht mit weißem Ge fickt eine bohe FrauenHestalt vor mir, die abwcbrend die Hände ausstreckt. „Gnädigste Frau", keuchte ich, und reiße den Hut herunter und schlage die Tbür zu, gerade wie'S anfängt, gegen sie zu trommeln und zu prasseln vom unendlichen sturingepeitschten Regen, „ick bitte tausendmal um Entschul digung wegen meines Eindringens, aber das ist torco majoure; wenn Sie indessen befehlen, werde ich meinen Weg fortsctzen!" Es war fast dunkel geworden und nur undeutlich sah ich ihr bleick schimmerndes Gesicht. Aber ick hörte ihre
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