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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.10.1897
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-10-04
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18971004010
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897100401
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897100401
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-10
- Tag1897-10-04
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Lndeüorticher nnd gtsMnj«^ Extra »veil«^n (gefalzt), nar mit der Morgra-Lnlgad«, ohne Postbefördenurg ^4 sä.—, mit Postbesürdernng ^4 7vc— Zuuahmeschluß für Anzeige«: «brnd-AuSgabe: Bormittag» 10 Uhr. Morgen» Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Lei den Filialen »nd Annahmestelle» je ein» halb« Stund« früher. Anreißen sind stet« an die Expedition zu richten. Druck nnd Verlag von E Pol» in Leidig Montag den 4. October 1897. 5V5. s-aaaaaaaaama-EaaMaaaaMiaadaaaaaaaia Jeremias Gotthelf. Inwieweit ein Schriftsteller noch in der Gegenwart und für die Gegenwart lebendig oder bereit» in der Literatur geschichte, wenngleich zu dauerndem Nachruhm eingesargt ist, da» läßt sich schwer bestimmen. Darüber könnten die Buch handlungen und Leihbibliotheken Wohl einige Auskunft geben. Immerhin giebt e» stille Gemeinden, die noch den Cultu« solcher Dichter pflegen, wenngleich sie in der Menge der Nach drängenden den Augen des großen Publicum« mehr und mehr verschwinden. Oft hält ein einziger glücklicher Wurf da» Angedenken an einen Poeten wach, rin einzige» Werk, da» auch bei den Späterlebenden von Hand zu Hand geht, das einen nicht leicht zu erschöpfenden Genuß bereitet. Doch auch bei solchen Poeten, die nicht eine einzelne große Nummer gezogen haben, sondern für deren Werthmcssung die Summe chreS Schaffens ins Gewicht fällt, giebt der Säculartag einen willkommenen Anlaß zu einer zurückschauenden Charakteristik, welche Bleibendes und Vergängliches zu sondern bestrebt ist. Der 4. October dieses Jahres ist der Säculartag des Schweizer Schriftstellers IeremiaS Gotthelf, welcher in der Pfarre des schlachtenberühmten Städtchens Murten an demselben Tage im Jahre 1797 das Licht der Welt erblickte. Der ehrliche Pastor Albert Bitziuö, wie IeremiaS Gott helf mit seinem wirklichen Namen hieß, den in seiner bäuer lichen Umgebung eine bisweilen weitgehende Derbheit an geflogen, hatte eine Glanzepoche seines literarischen Schaffens, in welcher er im Mittelpunkt der Lalongespräche war und in den feinsten Boudoirs gelesen wurde. Er war Mode geworden, und wenn ein Autor einmal Mode ist, da verträgt auch die weibliche Leserwelt manchen Puff, den sie sich sonst nicht würde gefallen lassen. Der wackere Pastor von Lützelflüh batte am wenigsten selbst darauf gerechnet, daß er ein Lieb ling der sich mit Lecture beschäftigenden Frauenkreise und eine deutsche Berühmtheit werden würde; er schrieb zu Nutz und Frommen seiner Schweizer Bauern, anfänglich sogar im Schweizer Dialect; erst als seine Schriften ein Echo in weiteren Kreisen fanden, übersetzte er sie ins Hochdeutsche, und eine Zeitlang ging er sogar unter die Literaten; er schrieb für die verschiedensten Blätter und Kalender und gab selbst einen Kalender heraus, der mehrere crasse Geschichten von ihm enthielt; er beutete sein Talent und seinen Ruf aus, so gut wie jeder andere vielgenannte Autor, um dessen Mitarbeiter schaft sich die Blätter bewerben, und sprengte damit den Rahmen der patriarchalischen Idylle, in welchem man sich bisher das Bild des wackeren Landgeistlichen im Emmethal denken mußte. Doch seine Hauptwerke blieben von diesen vorübergebenden Zugeständnissen unberührt; es sind Werke eines tüchtigen BolkSlehrers, der das Herz auf dem rechten Flecke Hal, und sie haben etwas Kernbaftes, wir möchten sagen Granitenes, wie die Schweizer Arzensteine. Albert Bitzius, eines Pfarrers Sohn, verlebte seine Kind- hcitsjahre in Murten, siedelte mit seinem Vater 1804 nach Utzenstorf, einem in der fruchtbaren Tbalebene der Emme gelegenen Dorf über, in welches er später die Handlung einiger Erzählungen verlegte. Der Knabe zeigte lebhafte Neigung für die Landwirthschaft, die mit der Pfarrei verbunden war, und las daneben fleißig Schweizergeschichte und Romane. Im fünfzehnten Jahre bezog er die Literarschule in Bern, wo Professor Samuel Lutz, ein anregender Lehrer von impo- nirender Persönlichkeit, großen Einfluß auf ihn gewann. Im Jahre 1814 trat er in die sogenannte Akademie, die Hoch schule, über, welche übrigens unsere oberen Gymnasialclassen noch umfaßte und in der Theologie einen sechsjährigen Corsus verlangte; er fand sich hier in einer literarischen Gesellschaft mit vielen begabten jungen Leuten zusammen: dort wurden auch Schauspiele ausgeführt, wie Schiller's „Tell" und Körner's „Zriny". Im Jahre 1820 wurde Bitzius als Vicar angestellt, zuerst bei seinem Vater; er erhielt indeß Urlaub zum Besuch der Göttinger Universität, wo damals hochangeseheue Lehrer, wie Planck, Heeren, Bouterweck lehrten. In seinen Mußestunden beschäftigte er sich viel mit der Lectüre von Walter Scott, welcher nicht ohne Einfluß auf seine eigenen Erzeugnisse blieb — namentlich waS die behäbige Breite de» epischen Stil betrifft. Ebe er nach der Schweiz zurückkehrte, machte er noch eine Reise durch Preußen und Sachsen — da» einzige Mal, daß er sich in einer Welt umschaute, zu welcher nicht die Schweizer Alpen die erhabene Schlnhdecoration bildeten. Im Jahre 1824 starb sein Vater; er wurde als Vicar nach dem Kirchendorf Herzogenbuchsen versetzt, wo er im höchsten Grade daS Vertrauen seiner Dorfgemeinde gewann. Durch Hausbesuche wurde er in alle Familienverhältnisse ein- geweiht und war ein willkommener Beralher. Sein einziges Vergnügen war die Jagd. Auf Spaziergängen in die benachbarten Dörfer pflegte er seine Predigten zu entwerfen, in denen bereits seine salyrische Ader zur Geltung kam. In einer derselben geißelt er die Eitelkeit der jungen Leute mit solcher Schärfe, daß ein Freund meinte, auf diese Weise werde er die Leute kaum bessern, sondern gegen sich ambringen. Wenn er auch nachher eine Hucke voll Gutes bringe, so würben sie ihm nichts mehr abnehmen. 1829 wurde BitziuS Vicar in Bern und predigte in der Heiligen Geist-Kirche; er beschäftigte sich in der Hauptstadt des CantonS viel mit dem Armenwesen. 1831 kam er als Vicar in daS große, weit verbreitete Kirchdorf Lützelflüh an der Emme, wo er eine bleibende Stätte finden sollte. DaS Jahr darauf wurde er Pfarrer und verbeirathete sich mit der liebens würdigen Tochter des Professors Zeender, eines bekannten akademischen Lehrers in Bern. Hier lebte er in einem glücklichen Familienleben bis zu seinem Tode am 22. October 1854, verehrt von seiner Gemeinde und im Einklang mit derselben — nur die letzten Jahre wurden getrübt durch die auch in das stille Thal emdringendeu Parteikämpfe der Zeit. Bitzius war eine zu streitbare Natur, um sich nickt an den selben zu betheiligen und zwar im Sinne der Abwehr gegen den damals zur Herrschaft gelangenden Radikalismus, dessen ost unlautere Kampfmittel er mit scharfer Satyre geißelte. Dock sein Leben verlief auch in diefer Zeit ohne jede Ver wickelung, es war und blieb eine vollendete Pfarridylle. Nickt der früh erwachende Trieb des geborenen DickterS batte Bitzius die Feder in die Hand gedrückt, nickt jugend liche Begeisterung oder das Streben nach Rubin; er war bereits wohlbestallter Pastor und batte das Durchschnittsalter der Sterblichen, das dreißigste Lebensjahr, längst Ubersckrilten, als er zur Feder griff und zwar durchaus zu gemeinnützigen Zwecken. Dem innern Drange konnte er nickt wckersteben — roch das war nicht der schöpferische Drang deS Poeten, sondern derjenige deS Reformators; darüber läßt er selbst keinen Zweifel üb''? i^irelt-' in idm, wie er sagt, eine ^deutende Thatkraft: „Hätte ich alle zwei Tage einen Rat thun können, ich hätte nie geschrieben. Ein wildes Leben wogte in mir, von dem Niemand Ahnung halte, und wenn einige Aeußerungen sich losrangen so nahm man sie halt als freche Worte. Dieses Leben mußte sich entweder auf zehren ober losbrechen auf irgend eine Weise. Es that es in Schrift. Und daß es nun ein förmlich Losbrechen einer lange verhaltenen Kraft, ich möchte sagen, der Ausbruch eines Bergsecs ist, das bedenkt man natürlich nicht. Ein solcher See bricht in wilden Fluthen los, bis er sich Bahn gebrochen, und führt Dreck und Steine mit in wiloem Graus. Dann läutert er sich und kann ein schönes Wässerchen werden. So ist mein Schreiben auch gewesen, ein Bahnbrecken, ein wildes Umsichschlagen nach allen Seiten hin, woher der Druck ge kommen, um freien Platz zu erhalten. Es war wie ich zum Schreiben gekommen, auf der einen Seile eine Naturnoth- wendigkeit, auf der anderen Seite mußte ich wirklich so schreiben, wenn ich einschlagen wollte ins Volk." Und in einem anderen Briefe sagte er, er sei zum Schreiben ge kommen ohne alle Vorbereitung und obne daran zu denken, eigentlich Schriftsteller zu werden, Volkssckriftsteller. Und IeremiaS Gotthelf ist in der Thal ein bedeutender VolkSschriftsteller geworden, ein Volkspädagog ersten Ranges. Od er später auch auf den Gedanken kam, sich für einen großen Dichter zu halten, wissen wir nicht; es würde kein Wunder sein, wenn er es gethan hätte; denn man kam ihm entgegen mit dem dichterischen Lorbeer, um ihn zu kränzen. DaS lag in der ganzen damaligen literarischen Richtung: man hatte mit der Tendenzporsie der Jungbeutscken und der politischen Lyriker gebrochen und bester als der Champagner dieser Begeisterten schmeckte die saure Milch der Dorfgeschichten. Auerbach war der Held deS Tages geworden. Gotthelf's erste Schriften waren von älterem Datum als Auerbach's Schwarzwälder Erzählungen. Doch seine Hauplfchriflen, welche die Aufmerffamteil auf ihn lenkten, erschienen später als diese. Die Dorfgeschichte war Mode geworden; IeremiaS Gotthelf konnte gleich in Reih und Glied einer siegreichen Truppe einrücken. Es ist ja bekannt, wie schwer es für einzeln stehende Dichter ist, in die Literaturgeschickten zu kommen; ist man aber einer Gruppe zugehörig, so macht man ihnen wenig Kopfzerbrechen, man wird mit einem und dem selben Griff ersaßt, in einer und derselben Schublade unter gebracht. Ein solcher Rattenkönig und wer ihn bilden hilft, kommt am ersten inS Pantbeon. Von einem großen Tbeil der Kritik wurde Jeremias Gotthelf dem Berthold Auerbach an die Rockschöße gehängt, von einem anderen aber gegen ihn ausgespielt. Man fand bei Auer bach zu viele gemalte Arkadien, zu viele effectvoll inscenirte Baucrntragödien, ru viel spinozistische Weltweisbeit. Bei Jeremias Gotthelf athmete man den Erdgeruch der Schollen, gelegentlich auch den Stallgeruch der Bauein- böfe; solch ein Bauernknechl hatte seine Kubdreckhosen an und hatte doch Zutritt in die Salons und BoudoirS, er war durch die bewundernde Kritik desinficirt. Gegen die Verherrlichung des Jeremias Gottbelf als eines hervorragenden Dichters mochte man gereckte Bedenken hegen, obschon er manche Eigenschaften von Denjenigen besaß, die einen Dichter machen; er verstand es, Charaktere zu zeichnen, die er jedenfalls aus dem Leben herausgegriffen; er hob psychologische Züge hervor, oft nicht ohne Feingefühl, jeden falls aber mit scharfer Beobachtung erfaßt; er gebot über einen bildlichen Ausdruck, der stets etwas Originelles, oft etwas Urwüchsiges balle, und seine Sprachgewalt halte bis weilen etwas Siegreiches. Doch viele dieser Eigenschaften bat auch der Volksredner, der Prophet; andere dürfen dem Sckriitsteller nickt fehlen, der das Volk kennen und erkennen muß, um aus dasselbe wirken zu können. Was den Dichter macht, ist theils die Inspiration, die ihm in die Feder dictirt, theils die Lust zu fabuliren, die sich Selbstzweck ist; ein Pegasus im Joche praktischer Tendenzen, rusammengespannt mit irgend einem Zugvieh oder Nutzvieh, ist kein Pegasus mehr. Und diese Tendenz, die Menschen zu bessern und zu bekehren, dem Schweizer Volk, besonders den Einwohnern deS CantonS Bern, einen Spiegel vorzuhalten, in welchem sie alle ent stellenden Makel und Auswüchse ihres sittlichen Lebens er kennen konnten, war für daS schriftstellerische Wirken von Albert Bitzius fast ausschließlich bestimmend. Dies thut seiner Bedeutung und seinem Nachruhm durchaus keinen Schaden; er ist em vorzüglicher VolkSschriftsteller und Pädagog und siebt, wenn auch nicht mit Goethe und Schiller, doch in einer Linie mit Pestalozzi, Basedow und Salzmann, die sich ja auch zum Theil der Form des Romans bedienten, um ihren Grundsätzen zur Reform des ErziehungsweseuS eine volkstbümliche Bedeutung zu sickern. Wenn wir seine sämmtlichen Schriften Revue Yassiren lasten, so sehen wir, daß sie, nur wenige und gerade die un bedeutendsten ausgenommen, von irgend einem Reform gedanken cinzegeren und durchdrungen sind. Es sind Werke gemeinnütziger Art. Die Poesie, wo sie zur Geltung kommt, ist nur Mittel zu diesem Zweck. Seine erste Schrift war „der Bauernspiegel" oder die „Lebensgeschichle des IeremiaS Gotthelf" (1836). D-r Name des Helden wurde später sein Schriftstellerinme. Das Werk ist gleichsam ein Programm, ein Prospekt seiner ganzen späteren literarischen Tbatigkeit, welche die einzelnen Abschnitte derselben in selbstständigen Schriften wester auSsührte. Der arme verwaiste Bauern knabe erzählt seine Geschichte; es ist ein kräftiger und naturwüchsiger Bursche, aber die ländliche» Verhält nisse, mit denen er sich abzufinven bat, sind fast lauter schlimme Zustände, die auch durchaus nicht schönfärberisch, sondern mit schwärzester Schattengebung gezeichnet sind. Daran nahm man Anstoß; der Autor war rin Freund des Unverschleierten im Inhalt und deS Derben in der Form; ja, er kannte keine Prüderie, und die Naturalisten von beute müßten ihre Freute an seiner Schilderung des Kiltganges buben. Solche Ausstellungen haben Viele, auch die geistlichen AmtS- brüdcr Gotlheli's an dem „Baurrnspiegel" und auch an seinen späteren Schriften gemacht; sie haben, wie er selbst sich aus drückt, von seiner Derbheit die Gänsedaut bekommen, und wenn er auch „zarten Seelen" versprach, einmal expreß in „zarter Zärtlichkeit" zu kommen, so ist ihm das doch nur selten gelungen, es lag nicht »u seiner Natur. 91. Jahrgang. »»SS— Sein zweites Werk: „Leiden und Freuden eine» Schul meisters" (2 Bände 1838 und 1839) ist ein Beitrag zur Geschickte des Schulwesens im Canton Bern, besten Reform der Verfasser austrebt, geht vielfach bis inS Einzelne der betreffenden Zustände und giebt unS in seinem Helden Käser ein Bild des gedrückten, ziemlich armseligen Lehrerstandes, der aus Noth und Bcdräugniß nicht herauSkommt. Jean Paul hat reizende Schullehrer-Idyllen geschrieben, doch er schildert vorzugsweise bas Glück, das solche Gefühlsnaturen wie ihre Helden in den kleinen, oft kläglichen Lebensverhäll- niffen empfinden, daS Glück der Beschränkung. Das ist die Aufgabe eines Dichters. Gotthelf faßt die Sacke anders an, er ist mehr Reformator. Gleichwohl ist die Frau Sckul- meisterin Maedeli eine Jean Paul'sche Figur, frei von jeder Selbstsucht, opfermüthm, demülhig, ohne Neid, selbst in drückendster Noth voll Dankgefühl. Die in denselben Jahren 1838 und 1839 erschienene» beiden Erzählungen: „Wie fünf Mädchen am Branntwein jämmerlich umkommen" und „DurSki, der Brauntweinsäuscr, oder der heilige Weihnachtsabend" tragen ihre sehr greifbare Tendenz schon im Titel ausgeprägt: es sind Streitschriften gegen die Branntweinpcst, welche im Berner Canton damals sehr große Verwüstungen angerichtet haben muß, wenn sogar die langen Mädchen ihr massenhaft zum Opfer fallen. Diese fünf keineswegs weiß gekleideten Jungfrauen, welche uns Gotthelf hier vorführt, könnten auch Titelkupfer für neue naturalistische Romane sein; denn es ist eine sehr unsaubere Gesellschaft in einer grell beleuchteten, oft Ekel erregenden Umgebung. Doch der Zweck heiligt die Mittel — Gotthelf ist ja nicht Dichter, sondern Erzieher, Prediger, Missionair, gelegentlich auch etwa» Pamphletist, Alles im Dienste der Wahrheit und Moral — und da kann man das Laster nicht abschreckend genug malen. Die Mädchen gehen alle zu Grunde; der Säufer DurSki in der zweiten Geschichte kommt aber wieder auf einen grünen Zweig; er bekehrt sich und Friede» zieht wieder iu seine Familie ein. Im Jahre 1841 erschien das Hauptwerk von Gottbelf „Uli der Knecht", welchem sich erst 1849 ein zweiter Theil „Uli der Pächter" anschloß. Viele kennen nur diese Schrift des Schweizer Pastors, welche vorzugsweise seinem Namen in Deutschland einen guten Klang verschMevielleicht ist sie auch die einzige, welcher vo» Gotthelf's Werken eia längeres Leben befchiedru sein dürfte: den» es überleben in der Regel doch nur zwei oder drei Werke auf länger« Zeit hinaus ihren Autor. Uli ist eine Schweizer Dorfgeschichte wie die andern; sie hat wie die andern eine bestimmte Tendenz, sie will das Dienstbotenverhältniß, daS Ver- hältniß von Herr und Knecht in der Schweiz auf die rechte Grundlage stellen. Der Held ist kein Genie, er ist ein barmherziger und getreuer Knecht, der sich aber gerade durch diese Tüchtigkeit in der dörflichen Hierarchie von Stufe zu Stufe in die Höhe schwingt, bis er Pächter geworden, und in dem acht Jahre später erschienenen Werke „Uli der Pächter" (1849) begleiten wir ihn nun weiter in seinem wirthschastlichen Aufschwung zum selbstständigen Be sitzer, trotz einiger Thorheitea, die er begeht, trotz einiger Abwege, auf die er geräth. Diese Biographie giebt dem Verfasser Gelegenheit, die schweizerischen Zustände auf dem Lande, in jenen großen Kirchdorfern, in denen die frei herrlichen Bauern wohnen, die modernen Stauffacher, eingehend zu schildern. Daß er dabei vor Schmutz farben nicht zurückschreckt, beweisen manche Schilderungen, besonders auS „Uli der Knecht", wo der Wetikampf der beiden Mägde geschildert wird, von denen die eine die andere in eine Düngergrube stößl. Wie diese nun beiv.r- geholt wiib und von Jauche triefend er>cheiul, das wird unt homerischer Anschaulichkeit dargestelll. Die Charaktere sind besonders in „Uli der Pächter", einer Erzählung, die auch ausnahmsweise einen romanhaften Abschluß mit einer Art von Kualleffect hat, sorgsam gezeichnet, besonders die weib lichen, Vreneli, die tüchtige Hausfrau, die Kopf und Herz auf dem rechten Flecke hat, und ihr Gegenbild, Elisi, die kokelte Dorficköne, welche allerlei Gewohnheiten der städtischen Damen ungeschickt ins Rustikale überträgt. Einige Neben figuren sind nicht ohne Humor geschildert, wie der eine Wirth, von dem BitziuS lagt: „er war ein dicker schwerer Mann, jeder Zoll voll ihm ein Centn» Holdseligkeit, mit Fenilleton. Das blaue Zimmer. Gon Stephan SzomahLzy. Autorisiere Uebersetzung von E. Langsch (Breslau). Nachdruck »krboleu. 1. In einer Ballnacht geschah es, daß Doctor Kapus die Bekanntschaft des Herrn Kovacs machte. Doctor Kapus war das erste Mal auf einem Balle gewesen. Seine ganze Zeit und Arbeitskraft gehörte dem akademischen Kranken hause, und seine wissenschaftlichen Publicationen hatten so gar schon im AuSlande Beachtung erregt. Nach Schluß deS BalleS fand sich ein Theil der Herren welt im Kaffee Lissabon zu einem Schlummerpunsch zu sammen, und hierbei stellte Herr Kovacs sich dem jungen Arzhe vor und veranlaßte ihn, sich mit ihm allein in einer Ecke deS Locales niederzulaffen. Was er von ihm wollte, war nichts Geringes. Er schlua ihm rundweg vor, mit ihm in engere Geschäfts verbindung zu treten und ein Unternehmen ins Werk zu setzen, daS er seit Langem plante. „Schauen Sie, verehrter Freund", erklärte er ihm, „Sie hat der Himmel mit Ihrer Wissenschaft gesegnet, mich dagegen mit Mutterwitz und einigem Vermögen, Geld und Geist sind keine üble Mitgift für's Leben, aber Bildung und Kenntnisse sind auch nicht zu verachten, wenn Man sie richtig zu verwenden weiß. Ergo — leihen Sie mir Ihre Wissenschaft, und ich verspreche Ihnen, daß Sie in zehn Jahren Ihr eigenes Palais bewohnen werden." Der junge Arzt sah ziemlich verständnißlos in das über legen lächelnde etwas blatternarbige Gesicht seines Gegen über. Kovacs aber rückte noch etwas näher zu ihm heran und gab ihm ungefähr folgende Erklärung: „Das neunzehnte Jahrhundert kann man, wie Sie selbst am besten wissen, mit gutem Recht das nervöse Jahrhundert nennen, nicht wahr? — Wer ist nicht nervös heutzutage! Der Steuersecretair klagt über neurasthenische Schmerzen, der Bankier leidet an tzallucinationen, der Thierarzt hat die Platzfurcht und der Schriftsteller kämpft mit Mono manien. Manche sind offen nervös, andere sind es nur im Geheimen. Der fürchtet sich vor dem Wahnsinn, der bil det sich ein, er kriegt die Rückenmarkschwindsucht. Wenn man bei uns in Ungarn bei den Volkszählungen eine eigene Rubrik für Nervenkranke führen wollte, die Statistik würde 16 Millionen nervöse Staatsbürger aufzählen, 16 Millionen, sage ich! — Und wa» ist eigentlich Nervosität, was steckt dahinter? Nichts als Feigheit, Schwäche, Einbildung, Demoralisation! Ein solches Leiden kann nur ein Ein faltspinsel oder ein Charlatan mit Medicin curiren wollen! Der Arzt kann eS so wenig, wie er die Leute von Eifersucht oder von Dummheit mit Recepten aus der Apotheke heilen kann. Solche rein seelischen Affectionen können nur wieder durch seelische Einwirkungen behoben werden. Das sagen ja auch unsere hypnotisirenden Professoren, die ihre ner vösen Kranken durch Suggestion zu heilen vorgeben. Ist I es aber nicht ganz egal, womit ich die kraftlosen Patienten I suggerire, — was ich ihnen al» Allheilmittel einrede! Pfarrer Kneipp hat das nasse Gras dafür benutzt, Prießnitz früher nasse Umschläge —warum sollte ich es nicht mit einem neuen, noch unbekannten Mittel versuchen? ... Es wird jedenfalls die Nervösen ebensogut durch Einbildung heilen können, wie schwedische Gymnastik oder nasses Wiesengras. Sie werden mit beiden Händen nach dem neuen Heilmittel greifen, eben — weil es neu ist. Ich muß nur verstehen, meine Cur mit der nöthigen Reclame zu umgeben und sie möglichst populär zu machen, voUL baut!" „Und worin sollte d..se neue Cur bestehen?" fragte Dr. Kapus, der diesen Ausführungen ziemlich geringschätzig gefolgt war. Kovacs zuckte die Achseln. „Lächerlich, darauf überhaupt Werth zu legen. Jede Cur, an die der Kranke glaubt, führt zum Ziele. Redet man ihm ein, daß er auf einem Beine tanzen muß, um seine Nerven zu stärken, so genügt da» schon, den gewünschten Zweck zu erreichen. Aber eine derartige Cur würde zu wenig auf die Phantasie wirken, etwas Firlefanz muß schon dabei sein, wenn man auf seine Rechnung kommen soll." „Nun und?" fragte Dr. KapuS, jetzt doch etwas neu gierig geworden. „Also muß man eine Cur auSdenken, die die Einbil dung der Kranken anreizt und dank dem Schöpfer, — ich habe sie gefunden." „Das wäre!" Kovacs lehnte sich nachlässig in seinen Sessel zurück. „Ihr Name lautet: Chromoodorotherapie, zu deutsch: Farbengeruchheilmethode. Kurz auSgedrückt: wir werden mit Hilfe von Farben und Geruch die nervösen Kranken heilen." Dr. Kapus, der bis dahin noch mit der Verachtung des gelehrten Mediciners das ihm vorgelegte Project betrachtet hatte, bewies im weiteren Verlaufe des Gesprächs, als Kovacs seine reichgefüllte Brieftasche öffnete, keinen streng katonischen Charatter. Für einen Vorschuß von o Gulden ward er zum Judas seiner Wissenschaft. Uno als die beiden Männer gegen Morgen Arm in Arm das Kaffee Lissabon verließen, war der Plan für das neue Sanatorium bis ins Kleinste zwischen ihnen vereinbart. 2. In den Ofener Bergen wurde eine geräumige Villa er worben, über deren Eingang in großen goldenen Buchstaben die Inschrift leuchtete: Sanatorium für Nervenkranke. Leitung: vr. meä. A. KapuS. Anfangs ging die Praxis gar nicht, aber Dank der genialen Art, wie Kovacs zu annonciren verstand, sprach schon nach sechs Wochen halb Ungarn von dem neuen Heil verfahren des Dr. KapuS. Täglich wurde in den Zeitungen in klafterhohen Buchstaben die neue Chromo-Odorotherapie angepriesen, und einige jüngere Aerzte begannen bereits, auch bei den von ihnen behandelten Kranken die Farbe und den Geruch zum Gegenstand von Versuchen zu machen. Endlich im September, an einem unfreundlichen Tage, meldete sich der erste Patient in dem elegant aulgestatteten Bureau des Sanatorium» an. Kovacs machte die Ein tragungen in da» mächtige, neue Hauptbuch. Kapu» seiner-
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