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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.01.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980110014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898011001
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898011001
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
- Tag1898-01-10
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Tabellarischer und gissernsatz nach höherem Laris- krtra-veila,en (gesalzt), nur mit der Morgen.Ausgabe, ohne Postbesörderung so.—, mit Postbefürderung 70.-. ^nnahmeschluß für An-eizea: Ab end-Ausgabe: Vormittag« 10 Uhr." Margen-AuSgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen j« eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet« an di« Gstpesttttv« zu richt«. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Montag den 10. Januar 1898. n. Leipzig im Jahre 1897. lä. Da- Jahr 1897 wird in der Geschichte Leipzig« einen für alle Zeit hervorragenden Platz eianebmen, denn es ist da- Jahr der in den Mauern unserer Stadt abgehaltenen Sächsisch-Thüringischen Industrie» uudGewerbe- Au«stellung. Bon Leipzig ging der Plan zur Ler» anstaltung dieser Ausstellung au-, nach Ueberwinduna mancher Schwierigkeiten kam sie zu Staude, über alle Maßen ist sie gelungen! Und r« ist nicht eigene- Lob, da- wir hier aiederschreiben, sondern in der rückhaltlosen Anerkennung de- Geschaffenen warm die Tausende und abermals Tausende, die von Nah und Fern zum Besuche unserer Ausstellung kamen, unterschiedslos einig. Einen Rückblick auf da« Äahr 1897 können wir daher gar nicht ander« beginnen, al« mit einem Rückblick auf die Ausstellung, denn thatsächlich stand Leipzig im ganzen vergangenen Jahre im Zeichen der Ausstellung. Es kann natürlich nicht unsere Absicht sein, gleich einer Fata Morgan» die glänzenden Bilder der Ausstellung hier wieder dorüberziehrn zu lassen. Bedeuten doch die Worte Leuchtfontäne, Tlitetaa, Alt-Leipzig rc. eine Fülle der freu digsten Erinnerunaen für Jung und Alt, Hoch und Niedrig. Noch mehr in- Gewicht fällt indessen da- wirthschast» liche Gelingen des Werkes, da« für die fernere Zeit für unsere Stadt von weittragender Bedeutung sein dürfte, denn e« hat am meisten Zeugniß abgelegt davon, daß Leipzig auf industriellem Grbwte eine ganz hervorragende Stellung im Reiche eiunimmt. Dankbar anzuerkennen ist aber auch die Unterstützung, die da« Werk allseitig gefunden hat. Die Huld unsere« König« Albert, der der Eröffnungsfeier am 24. April beiwohnte und die Ausstellung durch mehrfachen Besuch aus zeichnete, da« bewiesene Interesse de- königl. Staats ministeriums, das in der vorzüglichen Staatsausstellung einen beredten Ausdruck fand, die Fürsorge de« königlichen Cowmiffar« Kreishauptmann v. Ebrenstein, die weit gehendste Förderung durch unsere städtischen Behörden, die in unseren beiden Bürgermeistern vr. Georgi und vr. Trdu dl in stet« bereite Fürsprecher fand — da- Alle« soll unvergessen bleiben. Der Männer, die sich durch ihre Thätigkeit hervorragend um unsere Ausstellung verdient gemacht baden, können wir hier nicht sämmtlich gedenken. Die Sladträthe Dobel und vr. Schanz, Commerzienrath Mey, die Fabrikbesitzer Senina und WaselewSky u. A. m. haben ihre Kraft mit größter Uneigennützigkeit dem Werke gewidmet. Eine statt liche Zabl von Architekten und Künstlern — wir verzichten hier absichtlich auf die Hervorhebung Einzelner — haben mit Fleiß und Liebe da- Ihrige dazu deigetragen, um die Bauten äußerlich und innerlich in fesselnden Formen und würdigem Schmuck ersteben zu lassen. Endlich hat sich um die verschiedenen Arrangement« — BolkSsckauspiele, Meß- JubilaumSfestlichkeiten rc. — der Dramaturg unsere« S'adt- thratrr«, Erome-Schwiening, große« Verdienst erworben. Jetzt, wo wir auf ein so glänzende« Gelingen de« AuS- stellungSwerke« rurückblicken können, würde r« geradezu eine Ungerechtigkeit sein, wollten wir un« nicht der Pioniere der Ausstellung erinnern. Di« Au-stellung ist nicht so „glatt" zu Stande gekommen, wie e« im Vorwort zum offi- ciellen AuSstellungS-Eatalog geschildert wird. Al« im Jahre 1893 der Plan einer Sächsisch-Thüringischen Ausstellung io Leipzig an die Oeffentlichkeit trat, empfahl die Handels kammer, hiervon adzuseheo und sich nur auf eine Leipziger Au-stellung (Stadt und Amtshauptmannschaft) zu beschränken. Aber ein kleiner, jedoch desto rübrigerer Krei« von Männern — wir nennen hier nur den Namen Blanke — hielt un entwegt an dem einmal gesteckten Ziele fest und verhalf der Idee der größeren Ausstellung zum schließlichen Siege. Heute freuen wir uns dessen. Um so mehr ist e« Pflicht, dir Thätigkeit jenes Mannes nicht in Vergessenheit gerathen zu lassen. Daß da« Ausstellungsjahr für Leipzig auch ein Jahr der Eonaresse, Wanderversammlungen und ähnlicher Ver anstaltungen sein würde, war vorau-zusehen, und eS hat sich in reichlichem Maße erfüllt. Im Ganzen haben etwa vierzig Coagresse rc. hier stattgefunden. Wir wollen sie nun an dieser Stelle nicht sämmtlich aufrählen, aber doch die bedeutsamsten hervorhebrn. Es sind folgende: Hauptver sammlung de« Sächsischen Ingenieur- und Archi- tektenverein« (28.-24. Mai), Verein deutscher Ge werbeschulmänner (6.-8. Juni), Deutscher Lehrerinnenverein (6.— 8. Juni), Alldeutscher Berbaudstag (8—10. Juni), V. Deutscher Journalisten- und Schrift st ellrrtag (7. bis N. Juni), Deutscher Gynäkologencongreß (9—N. Juni), Vlll. Evangelisch-socialer Eonareß (8.—11. Juni), Verein deutscher GaS- und Wasser fachmänner (15.—19. Juni), Deutsche Fubrwerks- veruf« - Genossensaft (22.-24. Juni), Deutscher Fleischertag (23.-25. Juni), Verband sächsischer Ortskrankenkassen (28. Juni), Sächsischer Bäcker- verbandstag (6.-8. Juli), Deutscher Schlosser tag (12.—14. Juli), Deutscher Drechsler tag (1. bi« 3. August), Deutscher Korbmachertag (2. bi« 3. August), Preußischer bez. Deutscher verband«- tag der st äd tischen Haus- und Grundbesitzer (L. bi st. August), Deutscher Technikerverband (7. bi st. August), Deutscher Dchriftstrllerverband (6. bi« 8. September), Baugewerksbrrufsgenossenschaft bez. deutsche BauaewerkS-Jnnungen (11. bi« 14. September), Deutscher Samaritertag (24. bi« 2Ü. September). Auf allen diesen Eongreffen und Versammlungen hat die Gastfreundschaft Leipzig« lobende Anerkennung gefunden. Die wirthschas Nicht Lage im vergangenen Jahre war im Allgemeinen eine äußerst aünstigr. Auch hierzu hat die Ausstellung einen wesentlichen Theil beigetragen. Im großen Ganzen hat die Arbeiterschaft von den ihr gebotenen günstigen wirtbschaftlichen Verhältnissen den richtigsten Gebrauch gemacht; sie hat sich nämlich nicht zu Arbeits einstellungen bewogen gefühlt, sondern durch fortgesetzte Arbeit einen guten Verdienst sich zu verschaffen gesucht. Mit Ausnahme einiger Werkstättenstreik« und deS bald beigelegten Streik« der Zimmerer auf dem Ausstellungsplatze ist daher auch nur von einer größeren Arbeitseinstellung zu be richten: derjenigen der Maurer. Diese ist dafür aber um so langwieriger gewesen, denn der Maurrrstreik nahm am 16. Juni seinen Anfang und erreichte erst am 10. Oktober, also nach fast viermonatlicher Dauer, sein Ende. Die ver- schiedenen Phasen, die dieser Maurrrstreik, wie einen solchen Leipzig Wohl noch nicht zu verzeichnen gehabt hat, durchlaufen hat, sind noch so frisch in der Erinnerung, daß sie keiner besonderen Erörterung an dieser Stelle bedürfen. Auch der kurz vor der Enderklärung unternommene EmigungSversuch unsere- Oberbürgermeister« sübrte ru keinem Ergebnisse. Nunmehr haben sich am Schluffe des Jahre« die Arbeitgeber direct an die Gesellen gewendet, um auf dem Wege gemein- samrr Verhandlungen zu festen Vereinbarungen zu gelangen. Da« Hauptbindernitz hierfür bildet« bisher die Abneigung der Gesellen, für längere Zeit sich an «inen festen Lohnsatz zu binden, also eine Lvbngemeinschaft (bezw. Tarifgemein schaft, denn im Wesentlichen ist e« dasselbe) zu schaffen. Ob das im Jahr, 1898 gelingen wird, steht noch dahin. Immer hin wird man der Einsicht der Führer vertrauen dürfen. In der Arbeiterbewegung der Gegenwart hat e« sich er wiesen, daß die Arbeiter selbst von solchen festen Lohnvrrrin- barungen den größten Nutzen haben. Jedenfalls haben die Buchbinder nur klug gehandelt, al« sie den Weg der Verhandlung dem der Arbeir«rinstellung vorzogen. Ei« haben sich eine Lohn- bezw Tarifgemeinschaft geschaffen, unbekümmert um die Einrede der Arbeiter anderer Branchen. Und schließ sich hat man ibnen im GewerkschaftScartell, diesem „Scherben gericht" der Arbeiter, nicht« zu Leide gethan. Tie „ver- haßten" Buchdrucker waren ja entfernt und damit dem ^Radikalismus" da« erforderliche Opfer gebracht worden. Die Geopferten scheinen übrigen« keine Eile zu haben, in Sack und Asche Buße zu thun. Da« politische Leben in unserer Stadt nahm im vergaugeoell Jahre einen ruhigen Verlauf. Die Laadtag«wahleo wurden, wie an erster Stelle zu 82. Jahrgang. erwähnen ist, im Herbste zum ersten Male auf Grund des neuen Wahlgesetze« (Dreiclaflenshstem) vollzogen. Da sich die Socialdemokraten jeder Betheiligung enthielten, war ein eigentlicher „Wahlkampf" nicht zu verspüren. Gewählt wurden im I. Landtag-Wahlkreise Kaufmann Äontard an Stelle des bisherigen Stadtrath« a. D. Baffrnge, der eine Wiederwahl abgelehnt hatte, und im IV. Laudtagswablkrrise Fabrikbesitzer Müller an Stelle des Photographen Pinkau, der sein Mandat niedergelegt hatte, um den Beschlüssen seiner Parteigenossen Rechnung zu tragen. Einer recht großen Antheilnahme hatten sich die Deutsch-- Orsterreicher zu erfreuen, die unsere Stadt «rst im Früh jahr und später au« Anlaß der Sedanfeier besuchten. Die bei der letzteren Gelegenheit hier gehaltenen Reben gaben Anlaß zur Einleitung eines strafrechtlichen Verfahren« im Heimathlande, das jedoch schließlich mit Freilassung des in- baftirten Redakteur« Hofer endete. Die Colonial- und Flottenfragk veranlaßte einige größere Versammlungen, in denen u. A. der berühmteste der „Afrikaner", Major Wissmann, sowie ferner Oberst Liebrrt sprachen, und kürzlich v. Kusserow und Admiral a. D. Werner. Die Aenderung des VereinSgesrtze« bewog die Social demokraten zur Einberufung von Protestversammlungen,, während au- Anlaß der geplanten Steuerreform die Hausbesitzer eine Petition an die Stände richteten, in der sie um Befreiung von der EtaatSgrundsteurr ersuchen. Von Len größeren Institutionen, die in unserer Stadt ihren Sitz haben, sei zunächst de- Reichsgerichts gedacht.' Dasselbe har im vergangenen Jahre eine- seiner hrrvor- rageudsten Mitglieder, den Senat-Präsidenten vr. Drech sler, Excellenz, Ehrenbürger der Stadt Leipzig, durch den Tod verloren (f 10. August in Harzburg). In den Ruhestand traten Senat«präsident vr. v. Wolff, Excellenz, sowie die ReichSgerichtsrälhe Rintelen, v. Streich, Wittmaack, v. Liebe, vr. v. Lenz und vr. Stenglein. Zu SenatS- präsidentrn befördert wurden Neichsgerichtsrath vr. Bolze und Reichsanwalt Treplin. Neu eingrtretrn sind at« Räthe in da« Reichsgericht v. Bülow, Veirl, Petry, Hellweg, vr. Lahusen, Goldmann und Kolb. Sodann ist der bisherige Hilfsarbeiter bei der Reichsanwaltschaft, OberlandrsgerichtSratb Lweigert, zum Reich«anwalt er nannt worden, und in die Rechtsanwaltschaft beim Reichs gericht ist vr. Wildhagen neu eiugetreten. Bon früheren Mitgliedern des Reichsgericht- sind im Laufe des Jahre verstorben die Senat-Präsidenten Vr. v. Hahn (s 8. März) und vr. Wiener (-f 7. November), sowie die RelchSgerichts- räthe v. Löbell (s 13. Februar zu Naumburg) und Schwarz (j- 28. August zu Sellin auf Rügen). Unsere Universität hatte im Jahre 1897 einen hohen Glück uu- Unglück. Novrltttte von Emil Pesch kau. Nachdruck vniot«. G«it Jahren kommen wir — ein halbe» Dutzend Jugend freunde — an jedem Donnerstag in einem abgeschlossenen Stübchen der B.'schen Weinhaadlung zusammen. An einem dieser Abende war es, daß un« «in seltsamer Vorfall, der eben das Stadtgespräch bildete, in außergewöhnliche Erregung versetzte. Zwei junge Eheleute, die in guten Verhältnissen lebten, und sich anscheinend sehr zuaethan waren, wurden eines Tage« in ihrer Wohnung todt ausgefunden. Zweifellos hatte der Mann zuerst seine Frau und dann sich selbst erschossen — ehe er aber dm Revolver gegen die eigene Schläfe abdriicktr, hatte er noch Blumen über die Leiche der Frau gestreut. Und die Lage, in der man ihn neben dem schönen starr gewordenen Körper fand, deutete darauf hin, daß er sein todtes Weib noch umarmte, daß er vielleicht einen letzten Kuß auf ihre Lippen drückte, während er mit seiner Rechten die Waffe erhob, die auch ihm daS Ende bringen sollte. WaS war die Ursache dieser gräßlichen That gewesen? Alle Bermuthungen, die man äußerle, zerfielen den Thatsachen gegenüber in Nichts. Die Verhältnisse der Unglücklichen waren in bester Ordnung und sie hinterließen ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Sie hatten aus Liebe geheirathet und die Nachbarn nannten sie die Unzertrennlichen, weil man nie Eines ohne daS Andere sah. Ueber die Vorgänge in ihrer Wohnung wußte allerdings Niemand etwas zu sagen, da sie kein Dienstmädchen hatten. Sie führten keinen eigentlichen Haushalt und nahmen ihre Mahlzeiten im Restaurant ein. Nur in den ersten Monaten ihrer Ehe war das ander- gewesen, und vielleicht hätten die Mädchen, die damals im Dienst des Ehepaare- standen, irgend eine verfolgbare Spur angeben können. Aber die waren in alle Winde zerstreut, und das Gericht schien keine Ursache zu haben, den Fall weiter zu verfolgen. Darüber, daß der Mann wirklich der Thäter gewesen, konnte ja kein Zweifel sein, und wmn man auch der Annahme zuneigte, daß die Frau im Schlaf erschossen worden war — der Mörder hatte sich selbst gerichtet, die Behörde konnte in der Sache nicht« mehr thun. Al« wir etwa eine halbe Stunde lang heftig über daS Räthsel dieser dunklen That debattirt hatten, fiel eS un» auf, daß Freund R. sich schweigend verhielt. Und al« ich meine Augen verwundrrt auf ihn richtete und ihn eben fragen wollte, ob er sich keine Ansicht gebildet habe, da winkte er, al« hätte er mich verstanden. Seine Züge hatten dabei einen sonderbar vrrlorenm Ausdruck und seine Stimme zitterte vor Ergriffenheit, als er sich ins Gespräch mengte. „Ich will Euch eine Geschichte erzählen", sagte er. „Ich glaub«, daß die da« Räthsel aufklären dürfte. Soll ich an fangen?" All seine Frage allgemein bejaht worden war, schwieg er noch eine Weile und dann begann er: „ES sind nun ungefähr fünf Jahre her, daß ich mich mit einem sehr hübschen Mädchen verlobt hatte. Wir waren auf einem Tanzkränzthen de« Verein» „Harmonie" mit einander bekannt geworden und dann war e« sehr rasch gegangen. Sie schien mir -ich entzückendste Geschöpf der wett zu sein, und ich ging wie berauscht umher. Als ich den ersten Kuß auf ihre Lippen drück« durste, fühlte ich tagelang nicht« als da« Fieber diese» Kusse«, und ich hätte natürlich dir Sache eifrigst wiederholt, wäre nicht eine Tante dagewesen, ohne die ich seit dieser seligen Stund« meine Braut nie mehr zu sehen bekam. Diese Tante war ein ganz harmloses Frauchen, da«, wie ich später eingesrhea habe, eigentlich eine Art Sklavin abaab. Tie fügte sich in Allem und Jedem den Wünschen meiner Braut, damals aber betrachtete ich sie als die Ursache all' der kleinen Grausamkeiten, unter denen ich litt, und ich entwarf di« bösartigsten Pläne, um st« zu be seitigen. Die heute noch, ging ich damals jeden Tag um drei Uhr au« dem Bureau. Mein Weg führte mich durch die Kaiserstraße, und da begegnete ich regelmäßig einem Mädchen, das wohl irgend wo in einem Geschäft angestellt war. Sie war nicht ärmlich, ober doch bescheiden gekleidet und ihre ganze Art deutete auf einen einigermatzen „gebildeten" Beruf. Eines Tages, als sie eben einen Handschuh anzog, bemerkte ich Tinte an ihren Fingern, und nun sagte ich mir, daß sie wohl in einer Kanzlei Eorrespon- denzen oder dergleichen besorgte. Ihr werdet nun fragen, wie es denn möglich war, daß sich ein verlobter und verliebter Mensch um die Finger eines fremden Mädchens kümmerte, daS nicht einmal durch große körperliche Reize die Augen auf sich zog. Darauf weiß ich keine Antwort. Ich weiß nur so viel, daß ich immer eine angenehme Empfindung hatte, wenn ich plötzlich im Menschengewimmrl diese» stille, blasse Gesichtchen mit den freundlichen, ein wenig melancholischen Augen auftauchen sah. Und unwillkürlich floaen meine Blicke über ihre ganze Gestalt, und die schmächtige Erscheinung in dem schlichten schwarzen Kleide prägte sich mir so lebhaft ein, daß ich sie immer noch eine Weile vor mir sah, wenn sie längst schon verschwunden war. So schritten wir Wochen lang an einander vorüber, und al» sie dann plötzlich auiblleb, empfand ich e« nicht ohne Schmerz. Am ersten Tage ging e» ja noch, aber dann fehlte sie mir von Lag zu Tag mehr. Ich wanderte endlich nicht wie sonst geraden Wegs von meinem Bureau nach dem Gasthaus, in dem ich zu Mittag aß — ich kehrte am Ende der Kaiserstraße wieder um und schritt eine halbe Stund« lang oder noch länger auf und ab, in der Meinung, da- Mädchen könnte jetzt etwa» später in die Arbeit gehen. Dann entfernte ich mich auch ein paar Mal vor Schluß der Amt»stund«n au» dem Bureau — vielleicht machte sie sich schon früher auf den Weg! Aber e» war Alle» vergeben«, meine blaffe Freundin blieb verschwunden. War sie krank — war sie vielleicht todt? Sonderbar, daß der Gedanke mich nicht verlassen wollte, während ich mir doch beständig sagte: sie wird eben umgezogen sein — einen anderen Weg nach ihrem Geschäft gehen. Aber nicht weniger sonderbar war es ja, daß ich mich für diese» Mädchen so interessirte, während ich in rin andere» verliebt war. Daß mich eine Fremd«, die nicht einen Augenblick lang mein Blut entflammte, so mit Unruhe, Mitleid und Sorge erfüllte, während der Tag schon nahe war, an dem das entzückendste Ge schöpf der Welt — als solche« erschien mir meine Braut noch immer — für ewig die Meine verden sollte! Nachdem ich ungefähr eine Woche lang vergeben» nach meiner blaffen, stillen Freundin aespäht hatte, begann dann mein In teresse an ihr doch zu erlahmen. Einmal war mir auch der Ge- danke gekommen, die weitere Umgebung der Kaiserstraße nach ihr abzusuchen, aber in demselben Augenblick kam mir auch meine Thorheit zum Bewußtsein, wa« ging sie mich an? Dis ein fältig war es, dem Mitleid — oder der Neugierde — soweit nach- zugeben! Geradezu lächerlich war dieser Gedanke, sie zu suchen! Und nun schlug ich mir die Sache au» dem Kopf und nur einmal noch tauchte ihr Bild lebhaft vor mir auf.. ich sah sie im Traum wieder durch das Gewühl der Straßen schreiten und mir freund lich zunicken. Da» war mir insofern merkwürdig, als ich sehr selten träume, und heute erscheint es mir geradezu bedeutsam. Damals aber war ich mit den Vorbereitungen für die Hochzeit so sehr beschäftigt — so sehr erfüllt von dem Liebesfieber und von der Freude, die entsetzliche Tante endlich los zu werden — daß ich mich mit dem Traumbild nicht weiter beschäftigte. Ein paar Tage später, al« ich auf dem Weg von meinem Bureau nach dem Restaurant eben die Kaiserstraße überschreiten wollte, sah ich plötzlich da« schwarze schlichte Kleid vor mir und da« blaffe Gesichtchen — noch blasser al» sonst. Unwillkürlich fuhr meine Hand hinauf nach meinem Hut — ich grüßte sie. Sie nickte freundlich, während ein tiefe« Roth sich über ihr ganzes Gesicht ergoß, und schritt an mir vorbei über den Straßendamm. Aber sie kam nicht weit, unwillkürlich, wie ich den Hut gezogen hatte, quoll e» mir jetzt über dir Lippen: „Fräulein!" Ich kann nicht sagen, daß ich damit eine bestimmte Absicht verband. Es war wohl die Freud«, sie wieder gefunden zu haben und die Furcht, sie aufs Neue zu verlieren, was mich drängte, sie anzusprrchen. Sie schrak zusammen, wandte sich um und sah mich blutroth, mit großen, fragenden Augen an. Jetzt aber merkte ich erst, waS ich angerichtet hatte. Sie stand mitten im Wagengewimmel, und al» sie plötzlich die Pferde eine- Postwagens herankommen sah, machte sie schnell ein paar Schritt- zurück. Ich schrie auf und sprang ihr nach, aber e» war zu spät. Eine Droschke, die hinter ihr vorbeifuhr, hatte sie erfaßt, und nun lag sie auf dem Pflaster, und die Räder gingen über sie hinweg. Wa» in diesem Augenblick in mir war, vermag ich nicht zu schildern. Ich glaube, ein Messer in- Herz gestoßen, schmerzt nicht wie so etwas. Ich zitterte am ganzen Körper und Alles war schwarz um mich. Dann aber raffte ich mich gewaltsam auf, und balbblind warf ich mich in da» Getümmel. Al» ich wieder sah, bemerkte ich einen Schuhmann, wie er da» Mädchen aufhob. Gottlob — ihre Augen waren nicht geschlossen, sie athmrte! Und jetzt trafen ihre Augen mit den meinen zusammen. „Daran bin ich schuld, Fräulein!" stöhnte ich. Aber kein Unwille war in dem leichenblassen Gesicht . . . . sie lächelte. ,E» macht nicht»", stammelte sie leise, so sanft, daß ich eS noch heute höre wie himmlisch« Musik. Inzwischen hatte der Schutzmann sie ganz aufgerichtet und sie versuchte ein paar Schritte. „Danken Sie Gott, da» ist gut obgegangen", sagte der Mann. Dann rief er eine Droschke an und fragte nach der Wohnung de» Mädchen«. s W^ t""** begleiten, Fräulein", fiel ich ihm Nun machte sie wieder ein paar Schritte und dann bat sie zögernd: „Wenn es Ihnen nicht unbequem ist — ich bin so schwach — ich fürchte mich so!" „Aber Sie fühlen keine Wunde?" fragte der Schutzmann. „Nein — nur wie gebrochen bin ich — ich hab« keine Kraft." Jehl bemerkte ich Blut an ihrem Ohr — aber e» schien nur eine leichte Verletzung zu sein. Ueber ihren Hut, der neben un» im Stratzenkoth lag, waren di« Räder hinweggegangrn und auch über ihre Haare, die ihr jetzt halb offen, zerzaust über die Schulter herabhingen. DaS Ohr aber war nur leicht geritzt. „Steigen Sie jetzt rin", sagte der Schutzmann, und ich half ihr in den Wagen, während er ihre Adresse aufschrieb. Dann wollte ich ihr folgen, al» plötzlich mein Name gerufew wurde. Es war die Stimme meiner Braut, und als ich mich umwandte, sah ich sie auf dem Fußsteig stehen. „Ja, was machst Du denn da?" fragte sie nicht» weniger als freundlich. „Da» Fräulein ist überfahren worden", ri«f ich ihr zu. „Ich will sie nach Haufe begleiten." ' Nun sah ich einen Ausdruck in ihrem Gesicht, der mich aufs Tiefste empörte. „Was geht denn da» Dich an!" erwiderte sie heftig. „Ich wollte Dich eben abholen. Komm!" „Aber ich kann doch jetzt nicht!" rief ich zurück. Da lachte sie spöttisch auf und dann wandte sie mir mit einer jähen trotzigen Bewegung den Rücken zu und ging davon. Eine Sekunde später saß ich, keine« Worte« mächtig, im Wagen neben dem armen Mädchen, da» ermattet in die Kissen zurllckgesunken war. Ihre Augen aber waren auf mich gerichtet, und während ich mich bemühte, den ungeheuren Sturm, der in mir Wütbete, zu bekämpfen, sah ich plötzlich eia paar Lhränen über die bleichen Wangen herabrollen . . ." * * * Als Freund R. mit seiner Erzählung so weit gekommen war, mußte er sich selbst dieAugen trocknen. Er athmete tief auf und schüttelte heftig den Kopf, al- wäre er uamuthig über diese Schwäche. Dann goß er sich mit zitternder Hand ein Glas Wein ein und trank langsam davon. Dabei schien er ruhiger zu werden, und endlich sah er uns an — noch immer sehr ernst, aber wie verklärt von einem Schimmer schwer erkämpften Glücks. „Ihr habt daS Weitere wohl schon errathen", fuhr er dann fort. „DaS stille, blasse Mädchen ist meine Frau geworden und waS für eine Frau! In all' den Jahren hat sie sich nicht geändert — sie ist der Engel geblieben, der sie damals war, als sie mir, noch betäubt von dem entsetzlichen Erlebnih, nur lächelnd antwortete: „ES macht nicht»." Meine Braut aber hat später einen Andern geheirathet... den Mann, der fie vor einer Woche erschossen hat, obwohl sie ihn ebenso entflammt hatte, wie mich. Mr ist der traurige Fall deshalb kein Räthsel. Constanze hatte alle möglichen Vorzüge, aber sie hatte kein Herz. Und da kann ich mir's wohl vorstellen, daß der arme Mensch, der den mir bestimmten Platz einnchm, in einem Augenblick der höchsten Ueberrelzung seiner Oual ein Ende machte, indem er das schöne, herzlose Weib tödtete und dann sich selber. Möge Jeder täglich Gott danken, der auf dem fürchterlichen Scheidewege zwischen Glück und Unglück, den wohl die meisten von uns blind betreten, so gut geführt wurde, wie ich!" Wir waren von den Schicksalen, die un» Freund R. aufgerollt hatte, nicht wenig ergriffen und Einer oder der Andere von uns wird wohl auch nachgesonnen haben, ob der Weg, den sein eigenes Leben genommen, näher dem Glück oder dem Unglück. Und so aufrichtig, so au« dem Tiefsten der Seele kommend, wie das „Hoch", da» wir nun der Frau de« Erzähler» darbrachten — so klingt sicher nur selten ein Hoch. Ich höre e« jetzt noch, während ich diese Zeilen niederschreibe, und ich mag nicht ander» schließen als mit den Worten von damall: „Lieber Freund — da« Glück soll leben! E» lebe D«in» Frau!" ....
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