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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.01.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980118028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898011802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898011802
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- LDP: Zeitungen
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- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-01
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Selten aber haben sie es schlagender bewiesen, als bei ihrem gestern auch in den Reichstag übertragenen Kampfe gegen das den Miszbranch des ffonlitionsrechts betreffende Rundschreiben des Staatssecretairü von PosadowSky. Der Abg. Singer nannte cs einen „hinterlistigen Schlag gegen die Arbeiter", denen eines ihrer wichtigsten Rechte gekürzt oder gar genommen werden solle. Und um was handelt es sich in der Thal? 8 152 der Gewerbeordnung bestimmt: „Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbe treibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Er langung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassnng der Arbeiter werden aufgehoben. Jedem Theilnehmer steht der Rücktritt von solchen Ver- einigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder Klage noch Einrede statt." § 153 fügt dem hinzu: „Wer Andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durchDrohungen, durch Ehrverletzungen oder durch Verrufs- erklärungen bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) Thcil zu nehmen, oder ihnen Folge zu leisten, oder Andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängniß bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eiutritt." Durch diese Bestimmungen hat mau gleiches Recht für Alle zu schaffe» gesucht; volle Freiheit für Diejenigen, die auf Verabredungen und Vereinigung mittelst Einft'llu.ig der Arbeit oder Entlassung von Arbeiter» günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen erlangen zu können vermeinen: volle Freiheit aber auch für jene Anderen, die entweder daS Mittel der Arbeitseinstellung nicht für zweckmäßig halten oder den Zeit- punct zur Erstrebuug dieses Zweckes nicht für günstigerachten. Mit der Zeit hat sich aber herauSgestSÜt, daß beide Para graphen wohl die Freiheit der Streiklustigen, nicht aber die der Arbeitslustigen genügend sichern, denn es giebt außer den Mitteln deS körperlichen Zwanges, der Drohung, der Ehr verletzung und der Verrufserklärung noch eine ganze Reihe anderer empfindlicher Mittel, durch welche Streikende die Arbeitslustigen zur Betheiligung am Streik zu nöthigen oder vom Rücktritt von Streikverabredungen abzuhalten wissen; Mittel, die weder im ß 153 der Gewerbeordnung, noch im Strafgesetzbuchs vorgesehen sind. Deshalb sind Klagen laut geworden und deshalb soll durch das Rundschreiben des StaatSsecretairS die Feststellung der Häufigkeit und der Art solcher Freiheitsberaubungen veranlaßt und die Frage zur Beantwortung gebracht werden, auf welche Weise unter Aufrechterhaltung der Coalitiousfreiheit auch die Freiheit der au Streik - Eoalitionen nicht theilnehmenden oder von ihnen zurücktretenden Arbeiter besser als bis her gesichert werden kann. Um nichts Anderes also handelt cS sich, als darum, mehr als bisher „gleiches Recht für Alle" zu schaffen. Und das wagt Herr Singer einen „hinterlistigen Schlag gegen die Arbeiter" zu nennen! Nach seinem Rechtscodex hat freilich nur Derjenige Anspruch auf den Ehrennamen eines Arbeiters, der zur Fahne Singer schwört und blindlings der Dictatur der socialdemokra tischen Führer sich unterwirft. Deshalb braucht auch der „Streikbrecher", der kein „Genosse", ja nicht einmal ein Mensch genannt zu werden verdient, weder Recht noch Schutz und deshalb ist eS ein frecher Eingriff in die Rechte der „zielbewußten", d. h. socialdemokratischen Arbeiter, wenn ihnen außer der EoalitionSfreiheit nicht auch die un umschränkte Macht zur Vergewaltigung von Streikbrechern und ähnlichem Gelichter gewährleistet wird. Daß dies die Anschauungen der socialdemokratischen Wortführer sind, weiß ja Jeder, der ihre Worte und Thaten mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt, schon längst; aber daß sie es wagen, trotz der Bekundung solcher Anschauungen sich als Vorkämpfer, ja sogar als die einzigen Vorkämpfer des gleichen Rechtes für Alle aufzuspielen, darauf gehörte denn doch noch eine ganz andere Antwort, als sie den social demokratischen Ankämpsern gegen das Rundschreiben des StaatSsecretairS des Innern gestern im Reichstage zu Theil wurde. Der national-sociale HerrHüpeden schien gar nicht einmal recht zu wissen, um was es sich handelt. Freilich feierte das Haus gestern „blauen Montag", und da war nicht viel von ihm zu erwarten. Hoffentlich wird das Versäumte bald nachgeholt und dabei nochmals mit allem Nachdruck auf die vom „Vorwärts" und anderen socialdemokratischen Blättern mit Vorliebe geübte und von Herrn Singer ver- theidigte Verwerthung gestohlener Schriftstücke hin gewiesen. Daß die socialdemokratischen Praktiker die öffent liche Benutzung von Schriftstücken, die auf Aborten „gefunden" werden, für eine reinliche Beschäftigung halten, kann nicht befremden. Aber ganz zweifellos würden die Herren Bebel, Liebknecht, Singer u. s. w., wenn ein bürgerliches Blatt ein von einem dieser Herren verfaßtes vertrauliches Schriftstück, wissend, daß es von einem Diebe oder Verräther in unrechte Hände gebracht worden, zu Ag'tationsn ecken gegen die Socialdem^.ratic verwertete, ein Zetergeschrei erheben und von Schmähungen gegen die „bürgerliche Spitzbubenbande" überfließen! Auch das sollte und müßte zur Beleuchtung des socialdemokratischcn Ringens und Kämpfens nach „gleichem Rechte für Alle" verwendet werden. Wenn viele Hunderte von Commerzienräthen und „Solchen, die es werden wollen", aus allen Theilen deS Reiches und aller politischen Richtungen sich versammeln, um ihre Zustimmung zurFlottenvorläge zu bekunden, so ist das bekanntlich für Herrn Eugen Richter ein „ganz bedeu tungsloses Ereigniß", auf das kein Vernünftiger Gewicht legt. Man kann aber kaum eine Nummer seiner „Freisinn. Ztg." in die Hand nehmen, ohne darin aus mehr oder minder be kannten Orten, Flecken und Fleckchen Meldungen zu finden, in denen berichtet wird, der freisinnige Verein in L., D. oder Z. habe „einstimmig" beschlossen, dem Abgeordneten Richter unerschütterliches Vertrauen und innigen Dank für seine organisatorische Thätigkeit, seine Arbeit zur Kräftigung der Freisinnigen Volks partei und insbesondere sür seine Vorbereitungen zur nächsten Reichstagswahl abzustatten und ihn zum Auöharren im Kampfe gegen die „Treibereien" der Freisinnigen Ber einigung aufzufordern. Wie komisch die sorgfältige Samm lung und Veröffentlichung solcher Erklärungen von dem hoch mütig abfälligen Urtheile über jene großen Kundgebungen abstichr, scheint der Herausgeber der „Freis. Ztg." gar nicht zu ahnen, und noch weniger, wie deutlich aus der Gleichförmigkeit jener Erklärungen hervorgcht, daß die Marionetten in der „Provinz" nur tanzen, wie ihnen von der Berliner Centralleitunb gepfiffen wird. Die Vereine — es wäre übrigens interesiant, festzustellen, welcher Frequenz sich die Versammlungen zu ersreucn hatten, in denen die „einstimmigen" Beschlüsse gefaßt wurden — sind sich der Rolle, die man ihnen zutheilt, wohl auch nicht be wußt. Möchten sie wenigstens ihre Dankes- und Vertrauens beweise bis nach den Wahlen «ersparen, bei denen sich ja Herausstellen wird, ob der Partcigewaltige wieder wie im Jahre 1893 aus eigner Kraft nicht einen der Parteigenossen in den Reichstag bringt. In Börsenkreisen wird die Frage einer Zinsgarantie für die demnächst von Ehina a u f z u n e h m e n d e Anleihe noch immer besprochen. Es ist bereits gesagt, daß, soweit Deutschland in Betracht kommt, für dieses die Beiheiligung an der Uebernahme einer solchen Verpflichtung als ausgeschlossen angesehen werden muß, und daß der Hinweis auf die Bürgschaft, die Deutschland im Jahre 1883 für die Zprocentige egyptische Anleihe mit übernommen hatte, nicht beweiskräftig ist. Die Betheiligung Deutschlands an jener Bürgschaft war, woran in der „Magdeb. Ztg." erinnert wird, hochpolitischen Erwägungen ent sprungen. Nach Beendigung der im Jahre 1882 in Egypten ausgebrochenen Unruhen war England mit dem Vorschläge hervorgetreten, es wolle zur Deckung der schwebenden Schuld, sowie zur Anlage von Bewässerungsbauten und anderen noth- wcndigen Ausgaben eine Anleihe von fünf Millionen Pfund Sterling garantiren, die als erste Schuld auf allen Einkünften Egyptens haften solle. Die Entschädigungsansprüche, die in Folge des Aufstandes von Aarabi Pascha und des Bombarde ments von Alexandrien erhoben und von der internationalen Commission anerkannt worden waren, sollten durch die Ausgabe neuer privilegirter Schuldtitel befriedigt werden. Gegen diesen Vorschlag der di: Herrschaft Englcnds in Egypten noch mehr befestigt haben würde, hatte sich die französische Regierung am 8. Januar 1883 mit einem Memorandum gewendet, indem unter Hinweis auf das politische Interesse, das alle Mächte an der politischen Gestaltung Egyptens und an dem freien Verkehr auf dem Suezcanal hätten, die Ausgabe einer von allen Großmächten zu garantirenden Anleihe von 9 Millionen Lstrl. anempfohlen wurde. Auf Grund dieses Antrags, dem mit den anderen Großmächten auch Deutschland zustimmte, wurde dann die Uebercinkunft vom 18. März 1883 in London getroffen, und in Folge hiervon dem Reichstage im Januar 1886 die Vorlage wegen Uebernahme der Bürgschaft des Reichs für die Zinsen rc. einer egyptischen Staatsanleihe gemacht. In der ihr beigegebenen Begründung wurde ausdrücklich noch einmal betont, daß für den Schritt lediglich Beweggründe politischer Art und die Rücksicht auf die deutschen Reichsangehörigen maßgebend gewesen seien, die in Alexandria geschädigt worden waren. Der Gedanke, als ob durch Uebernahme der Bürgschaft die Privatspeculation, das In teresse der goldenen Internationale, wie der socialdemokratische Abg. Kayser sich damals ausdrückte, irgendwie begünstigt werden sollte, wurde von den Vertretern der Regierung in der Budget commission, an die die Vorlage noch in dritter Lesung zurück verwiesen war, nachdem sie die beiden ersten bereits ohne Debatte passirt hatte, mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Politische Er wägungen lassen sich aber jetzt für die Uebernahme einer Bürg schaft für eine chinesische Anleihe, die überdies Deutschland mit England allein zu tragen hätte, ebenso, wenig geltend machen wie Rücksichten auf die Interessen von Reichsangehörigen. Ein.' solche Bürgschaft würde politisch und finanziell lediglich England zu Gute kommen, defien Interessen auf Kosten der Reichsang' hörigen zu fördern, wohl kaum eine Veranlassung vorliegt. Gestern ist die TrcyfnS-Lache abermals in der französischen Deputirtenkammer zur Sprache gekommen und das Ministerium Mvline, daS stricte den Standpunct innehält, daß ein von den ordentlichen Gerichten abgeurtheilter Fall für die Regierung indiScutabel sei, ist abermals dank der Unterstützung der Rechtc:: siegreich auS der Affaire hervorgegangen. Allein wenn man da-e gestrige Abstimmungsresultat mit dem vom Donnerstag vc. gleicht, so ergicbt sich doch ein bedeutender Rückgang der Reßierungsmebrheit. Am Donnerstag wurde dem Ministerium daS Vertrauen der Kammer mit 312 gegen 122, gestern nur mit 310 gegen 252 Stimmen votirt; da bedeutet eine Abnahme der Regierungsmehrheit von 190 aui 58, also um 118 Stimmen! Sollte zu dieser auffallenden Wendung vielleicht das verrennt coumiles der Nadicalen bei getragen haben, die im Hinblick auf die NegierungSkundgebungeu für die Armee immer energischer den Beginn der „Säbel Herrschaft" in Frankreich signalisiren? Allerdings waren es gerade die Angriffe der DreyfuS-Freunde auf die Ehre de-. Armee, welche Demonstrationen für diese und gegen di: Juden, sowie daS Kammervotum vom Donnerstag hervor gerufen hatten, aber das Widerspruchsvolle im französischen Volkscharakter scheint auch hier wieder zu Tage zn treten Weh dem, der den blanken Schild der Ehre Frankreich«, d. h. seiner Armee, beschmutzt, aber wehe noch mehr dem, der auch nur den Versuch macht, die Militairgewalt über die Civilgewalt zu stellen, der sich auch nur Len Anschein giebt, dem Militarismus die Wege zn ebnen und so die Republik zu gefährden! Thatsächlich scheinen außer anarchistischen Elementen auch boulangistische der Be wegung gegen Zola und die Juden sich bemächtigen zu wollen und zum Theil 'chon b:mäck>ligt haben. So constatirt die „van. wne", das; aus der Affaire Esterhazy-DreyfuS ein neuer Boulaugismns hervorzuwachscn beginne. Der „Rappel" weist darauf hin, daß sich in der Liste der Organisatoren der gestrigen patriotisch-antisemitischen MectingS von Tivoli und Vauxhall d i c ganze Boulange wiederfiudc; nur ein schwarzes Pferd fehle; aber der „Rappel" fragt, ob nicht General Boiödcfsrc sofort bereit sei, eS zu besteigen? Im selben Blatte erklärt Lanrssan, der Krieg gegen die Juden und Protestanten und di: angebliche Vcrtheidigung der Ehre der Armee seien nurMaskeu, unter denen sich alle Feiudeder Republik und Freiheit verbergen. Wären die gestrigen Kundgebungen im Tivoli, sowie in Marseille, Nancy, Lyon und sonstigen Provinz-Städten, über die wir an anderer Stelle berichten, der Kammer bereits bekannt gewesen, die Abstimmung wäre vielleicht noch viel ungünstiger sür die Regierung ausgefallen. Rochefort erklärt zwar, der ihm und seinen Parteigängern gemachte Vorwurf, daß sie die Militairdictatur vorbereiteten, sei unverständlich, aber Rochefort war einer der Ehrenpräsidenten des gestrigen Pariser Meetings. Wenn, wie berichtet wird, Minister Präsident Meline in der gestrigen Kammersitzunz wirklich selbst bemerkt hat, die gegenwärtige Bewegung müsse als eine neue boulangistische angesehen werden, so zeugt das vielleicht von einer richtigen Erkenntniß, der nur die Einsicht fehlt, daß daS republikanische System sich in der ganzen Dreyfus-Esterhazy-Affaire wieder aufs Schwerste comprommittirt hat und in seiner (Korruption selbst die Dictatur vorbereitet. Tie Negierung selbst ist mitschuldig an dem FeirrHetsn. Kampf und Entsagen. 13) Roman von M. von Eschen. Nachdruck verbot!». „Das ist doch etwas mehr, als nur ein Lichteffect, ein tech nisches Tasten und Haschen nach Sensation", sagt Lilian selbst vergessen vor sich hin. „Finden Sie das'" klingt eine sonore Mannesstimme an des Mädchens Ohr. Im Anschauen des Bildes versunken, hat Lilian nicht bemerkt, daß sie eine Weile schon der Gegenstand einer intensiven Aufmerk samkeit gewesen ist. Ueberrascht nun sieht sie sich um; der sinnende Ausdruck in ihrem Gesicht macht einem abweisenden Hochmuth Platz, den der Schuldige zu würdigen und auch — so scheint es — zu pariren versteht. Denn, ehe noch die junge Dame den Kopf abzuwenden vermag, kommt er ihr zuvor: „Wie kann ich cs wagen, Ihren Gedanken zu antworten — nicht wahr? Das wollen Sie doch sagen! Ja, wenn es den Menschen nicht so glücklich machte, einmal verstanden zu werden! Ich bin der Mann nämlich, der das Ding da gemacht hat." „Herr Lorenz Kirchner?" Und eine Verbeugung ist die Antwort. Lilian hat Hochachtung vor jedem Können. Aller Hochmuth ist aus ihren Zügen gewichen, jene allein leuchtet darin. „Das freut mich", sagt sie viel lebhafter, als es sonst ihre Weife ist. Dabei macht die feine Hand eine einladende Bewegung nach der Bank, auf der sie sitzt. Und weiter bemerkt sie, von dem Gegen stand ganz erfüllt: „Es freut mich sehr. Sagen Sie mir, bitte, was haben Sie sich bei diesem Werke gedacht?" Er lächelt: „Das ist eine gewichtige Frage, meine Gnädigste, direct in das Sanctuarium des Künstlerherzens hinein", giebt er zurück, indem-cr sich neben Lilian niederläßt. Und mit seinem Künstlcrauge ihre Erscheinung umfangend, fügt er hinzu: „Ich sehe Sie nicht zum ersten Mal —" Mit prüfendem Blick mustert Lilian den Nachbar — ein leises Roth färbt die schmalen Wangen. Sie erkennt den Mann, der ihr einen Moment nur, aber einen Moment doch, schon anders als die Anderen erschienen ist, mit dem sie sich einen Augenblick nur, aber doch schon einmal einen Augenblick beschäf tigt hat. „Ich habe noch nie einen Maler der neuen Richtung kennen nelLrnt", »klärt sie so liebenswürdig lebhaft, wie noH nie einer ihrer Verehrer das Fräulein von Dcrnburg gesehen hat. „Ver zeihen Sie mir also, wenn ich die Gelegenheit beim Schopfe fasse, und sagen Sie mir, bitte, warum diese Rebellion hier gegen alle bisherige Norm? Warum diese Verschwendung von Grün und Kremserweiß, überhaupt von Licht, das mir übrigens, wo es am Platze — ausgezeichnet gefällt — dazu — so Vieles, was traurig und trostlos, gewöhnlich, gräßlich und —" „Genircn Sie sich nicht — und häßlich auch ist. DaS wollten Sic doch sagen?" vollendet er. Und dann fügt er hinzu: „Vielleicht, weil bei Licht betrachtet, so Vieles im Leben ge wöhnlich und — häßlich ist. Sie haben, meine Gnädigste, schon den Nerv der neuen Bewegung herausgefühlt: Wir sind eben Rebellen!" Wieder lächelt er, da Lilian erschrocken zurückweichen will. Rein sachlich dann klingt es: „Die Menschen ändern sich stets. Anschauungen, Institutionen, die einmal richtig und gut gewesen sein mögen, werden jetzt als drückend und schädlich empfunden: Der neue Mensch muß sich neu einrichten auf jedem Gebiet. Wie immer in solchen Zeiten, gehemmt durch die starrenden Formen einer überlebten Cultur, verwirrt durch die Fülle der neuen Geschichte, greift man zurück auf die Natur, d. h. die un geschminkte Wahrheit aller Dinge, um von Neuem festen Fuß zu fassen auf ihrem urewigen Grunde, um von hier aus sich neu einzurichten, wie es zu den neuen Menschen stimmt. Ver stehen Sie mich?" Lilian nickt. Er sieht, wie eine feine Röthe die weißen Wangen überfliegt, wie die blauen Adern an den Schläfen pulsiren unter der zarten Haut, der Blick der dunklen Augen größer und größer wird. Mit dem lange nicht empfundenen Entzücken, einen Mit arbeiter bei seinen Gedanken zu haben, findet er sich in ihnen zurecht. „Ja, wir lieben die Natur mit einer Art rebellischem Verlangen! — Wir möchten sie fassen und halten in all ihren Elementen; möchten das wirkliche Sein in allen seinen In dividualitäten gestalten! — Ich weiß nun nicht, wie meine Kollegen ihre Anschauungen und Probleme, ihre Versuche, be gründen. Ich lebe einsam — lange schon! Was mich an geht —" Es scheint, es dotinßt Lorenz Kirchner, sich endlich einmal rein persönlich auSzufprrchen. „Zuerst war eS die Liebe zu allem Lebendigen, die meinen Blick auch für das Kleinste, das Unbedeutendste, das Gewöhnliche und Häßliche geöffnet hat und diesem seine Aureole lieh. Muß denn nicht Alles, was jene große Kraft Natur und Gott, Gott und Natur geschaffen, gleich berechtigt und gleichwerthig sein?" Er brach ab, wie überwältigt von der Unzulänglichkeit, seine Gedanken iy fy kurzer Zeit klar und drutlich zu machen. Auch Lilian schwieg, sie sah hinüber zu dem Frühling und dann wieder zu dessen Meister auf. Der Blick führte ihn zu dem Augenblick und zu dem, was für den Moment genügen mußte, zurück. Hastig, beinahe, als könne ihm der Moment entfliehen, begann er wieder: „So kam der Groll über mich gegen das Vollkommene, das sogenannte Schöne, gegen die Lüge und den Schein: der Groll gegen das Große, Wichtige und Bedeutende, weil es das Unvollkommene, das Kleine, Arme, Häßliche noch mehr herunterdrückt in dem Gefühle seiner unzulänglichen Sehnsucht, seiner eigenen schuld losen und doch schuldigen Existenz —" Eine kleine Pause trat ein. Dann fuhr er fort, gleichsam laut die Gedanken auf nehmend, so weit er sie schweigend verarbeitet haben mochte. „Und es giebt einen ästhetischen Groll und einen moralischen auch! Hier" — des Künstlers Hand wies auf sein Werk — „war es der Groll, eine bittere Anklage gegen —" Er stockte, er suchte augenscheinlich nach einer anderen als der ursprünglichen Fassung und endete dann: „gegen die traditionelle Lüge von der Voll kommenheit der Welt — dann freilich kam auch der Groll gegen das, was nicht sein sollte — die Sehnsucht nach dem Voll kommenen wieder — und zuletzt — o, wie viele Stadien habe ich nicht durchgekämpft! — zuletzt blieb von der großen entzückten Liebe, dem begeisterten Groll einzig das Mitleid mit all dem Elend, das dem Leben nun einmal doch überall anhaftet, übrig. Und nun, meine Gnädigste, jetzt sagen Sie mir, was denken Sie von diesem Bild?" Er war vor eine großes Gemälde getreten, vor dasjenige, welches den heiligen Zorn des reichen und gebildeten Mäcen erregt hatte, ohne welchen vielleicht Lilian heute gar keine Notiz mehr von den Bildern genommen und noch weniger die Be kanntschaft ihres Meisters gemacht haben würde. „Christus, ein Gleichniß erzählend", stand auf dem Rahmen. Ein schlichter Raum. Wie zumeist auf den Bildern dieser Neuen, daß es seiner Zeit fast stereotyp geworden ist, fluthet auch hier das Sonnenlicht durch ein mauergroßes Fenster zur linken Seite des Hintergrundes. Die klaren, sehr dünn gefaßten Scheiben lassen den Blick auf einen Zimmerplatz und die Straße frei. Auf einem Tisch, so lang, als es nur die Leinwand erlaubt, befinden sich Teller, Gläser, dazwischen mal eine Rinde Brod, der Nest von einem Gericht in einer Schüssel. — Die Scene scheint in einer geringen Herberge gedacht, wo Arbeiter und kleine Leute von der Straße Mittag machen. So sitzen sie um den Tisch, große, robuste, hagere, eckige, einige auch recht dürftige Gestalten. Ihre Kleidung ist eine nicht ausgesprochene Tracht, des öfteren ähnelt sie einem weiten mantel artigen Nock oder Kittel von dunkler, verwischter Färbung, die Spuren der Arbeit und des Gebrauches an sich tragend. Die Züge der Männer sind gewöhnlich; hier und da kann eine Physiognomie sogar etwas bedenklich erscheinen. Aufmerksam und gespannt aber horchen sie alle dem Einen unler ihnen, der da zu ihnen spricht. Um Weniges nur überragt dieser seine Ge führten; doch ist er um vieles schlanker, feiner gebaut. Ebenso sind seine Züge blasser, vergeistigt, wie bei Menschen, deren Arbeit und Ringen sich in der Seele vollzieht. Sorgenvoll und ernst bleiben diese Züge, wie milde auch das Auge blickt. Er hält das Haupt geneigt wie unter einer schweren Last; auf dem braunen Scheitel aber sammelt sich das Sonnenlicht, hier Heller leuchtend als überall, auf dem Haar, das lang und schlicht den Nacken hinunterfällt. Ein breiter Saum, als habe er einen staubig heißen Weg aus weiter Ferne bis hierher zurückgelegr, schlingt sich um des Mannes dunkelfarbiges Kleid. „Und das soll Christus sein?" fragt Lilian. „Ja — ein Christus freilich gegen jede Tradition und Cou- venrion — dafür aber Christus wirklich und wahr." Lorenz Kirchner lächelt bitter. — „Denn was hat wohl jener pomphaft thronende König des bycantinischen Himmels, der unnahbare Gott der romanischen Aera, der da weit, weit über alle irdische Noth hiuwcg in dicMyfterien des Jenseits starrt,der Uebermensch, der prachtgliedrige Fiirstensohn der Renaissance, an den kein Leid hinanreicht, mit dem Zimmermannssohn von Nazareth zn schaffen? — Was wissen jene Gestalten von der Noth und dem Leid ihrer Brüder, ja, von der Menschrnbriiderschaft überhaupt? Nur wer wie sie mit dem Leben ringt, — zu dem fassen auch die Mühseligen und Beladenen Vertrauen. Wahrlich, wenn dec Menscheusobn, der nicht hatte, wohin er sein Haupt legen sollte, Herne wiederkäme — in solcher Gestalt würde er umgehen, uno dahin, wo die Noth am größten ist." „Und glauben Sie, daß Sie damit durchschlagen?!" fragt Lilian staunend, doch gepackt von seinem Wort. „Wie meinen Sic das?" Zuerst hatte Lilian wohl nur an die Berechtigung oder Nicht berechtigung dieser eigenartigen Auffassung und Gestaltung ge dacht. Anerzogene oder langgepflegtr Anschauungen aber wirten in dem Menschen, ohne daß er daran denkt. Und so, ohne es zu bedenken, sagt sie, wie unter dem Banne des Gewohnten und Gewöhnlichen: „Nun, daß Sie Ersilg und Beifall finden, Ruhm und Geld —" Mit einem verächtlichen Blick streift er die Sprecherin. „Sieht ein Mensch wie ich aus" — dabei fährt seine Hand herunter an dem abgetragenen Rock —, „als ob er an so etwas denkt?" Fräulein von Dcrnburg bemerkt erst jetzt. Hie gxm des
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