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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.06.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-06-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189806059
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18980605
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18980605
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-06
- Tag1898-06-05
- Monat1898-06
- Jahr1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.06.1898
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Größere Schriften laut unserem Prri»- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen»Au-gabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderuug X 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen- Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richte«. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 92. Jahrgang Aus -er Woche. Napoleon I. hat einmal bemerkt, die Geschichte der Schlachten sei die Geschichte der Regimenter. Bon dieser 18S8er Wahlbewegung wird AehnlicheS gesagt werden dürfen. Sie spielt sich in den einzelnen Wahlkreisen in einer Weise ab, die weniger al» je eine Gemeinsamkeit in politi schen Gedanken und in der Taktik erkennen läßt. Man kann, wenn auch nicht gerade von 397, so doch von mehr als 250 isolirteu Waffengängen sprechen. Fast überall begegnen wir verschiedenen und vielfach neuen Erscheinungen; die abgebrauchtesten Mittelchen sind gerade die, die von Social demokratie, Centrum und Demokratie aller Orten in An wendung gebracht werden. Zu diesen Behelfen gehört auch das Geschrei über „Wahlbeeinflussung". An diesem hat sich auch der Bund der Landwirthe aus Anlaß eines völlig unanfechtbaren Briefes des Reichskanzlers betheiligt. Sonst ist der Bund in diesem Puncte nicht heikel. So meldete die „Deutsche TageSztg." dieser Tage aus dem 19. hannoverschen Wahlkreise mit ausgesprochener Genugthuung, daß ein Herr Amtsrichter Lattmann auf einer Bersammlung zu Otterndorf eine Empfehlung der Candidatur des Herrn vr. Hahn mit den Worten eingeleitet habe: „Nicht als Parteimann, sondern lediglich als deutscher Richter spreche ich." Auch in diesem Hinweise des Redners auf seinen amtlichen Charakter ist unseres Erachtens keine ungesetzliche Wahl beeinflussung zu erblicken, aber eS war bisher glück licher Weise nicht üblich, daß die richterliche Autorität für die Interessen eines politischen Candidaten und noch dazu eines durch eine volksaufwühlende Thätigkeit ausgezeichneten Agitators in die Waagschale geworfen wurde. Der Reichs angehörige Lattmann hat das unbezweifelte Recht, sich für Herrn vr. Hahn und den Antrag Kanitz zu begeistern, daß er aber in seiner Eigenschaft als Richter Herrn Hahn ge wählt und seinen Gegner besiegt sehen möchte, hätte der Versammlungsredner nicht erklären sollen. Denn es ist un erfindlich, wie die Rechtspflege durch die Wahl seines Er korenen gewinnen und durch die Niederlage des national liberalen Candidaten verlieren könnte. Aber selbst einem Socialdemokraten gegenüber wäre die Art der Propaganda, wie sie Herr Lattmann beliebt, neu und nicht unbedenklich. UebrigenS, um nicht mißverstanden zu werden, die Em pfehlung des Candidaten Hahn im 19. hannoverschen Wahl kreise geschieht nicht zum Schaden der Socialdemokratie, sondern zieht wahrscheinlich deren vollen Erfolg nach sich. Dasselbe gilt von der Bekämpfung des Frhrn. v. Stumm im Kreise Ottweiler-St. Wendel durch einen eigenen Candidaten deS Bundes. Herr v. Stumm ist aus Gründen, die mit den Fragen der jetzigen Wahlen nichts zu thun baden, nicht nach dem Geschmacke vieler bürgerlichen Leute. Aber seine Unter stützung durch alle Nationalen würde, wie die Dinge heute noch liegen, den Wahlkreis der nationalen Richtung erhalten, und deshalb gebührt den nationalliberalen Führern im Wahl kreise unbedingte Zustimmung, wenn sie die Verwirrung und Zersplitterung nicht vermehren helfen. Doch dies nebenbei. Charakteristisch ist, wie die Bundesleitung Herrn v. Stumm bekämpft. Die „Deutsche Tagesztg." ließ sich am 1. Juni aus dem Wahlkreise schreiben: „Ist einmal daS Vertrauen der Landbevölkerung verloren, so hält es schwer, wieder in seinen Besitz zu kommen. Und so liegt eben hier die Sache: Die Bauern haben kein Zutrauen zu Herrn von Stumm, da helfen alleReden nicht mehr, nicht einmal Be rsprechungen auf das Programm des Bundes der Landwirthe. Man kann hier zu Lande jeden Tag aus dem Munde ländlicherWähler hören, von Stumm sei als Großindustrieller und Hüttenbesitzer immer in Gefahr, der Land» wirthschaft nur Seitenblicke zu schenken, auch wenn er sich noch so viel Unparteilichkeit zutraue; im Zweifel aber werde er auch in Zukunft natur gemäß immer zuerst an dieJndustrie denken." Diese Zuschrift weist eine Lücke aus. Wenn und insoweit der sreiconservative Candidat das Vertrauen der Bauern verloren hat, so ist dieser Verlust ausschließlich der Agitation der Bundesleitung zuzuschreiben, die in Ottweiler, wie in der Provinz Hannover und anderwärts die landwirtbschaftlichen Interessen ihren Machtzwecken hintansetzt. Herr v. Stumm ist ein „Agrarier"', wie ihn jeder Bauer sich wünschen kann. Der innere Conflict, in den den Freund der Landwirthschaft seine Zugehörigkeit zur Industrie versetzt haben soll, ist nichts als Agitatoren-Mache, die, wenn es sich wirklich um daS Wohl und Wehe der Landwirthe handelte, sehr thöricht genannt werden müßte. Denn wo ist, links der Elbe wenigstens, der l Wahlkreis, in dem die Landwirthschaft in der Lage wäre, einen I Candidaten durchzubringen, der nur ihr Gewerbe der Berück-1 sicbtigung Werth erachten könnte? Was hier gegen Herrn v. Stumm gesagt wird, läßt sich gegen jeden Handwerker, jeden Beamten und auch gegen Herrn vr. Hahn anführen, einen Mann ohne Ar und Halm, der auch dem Handwerk, dem Kleinkaufmann rc. Versprechungen macht, freilich nicht ohne vor bäuerlichem Publicum auf dem Antrag Kanitz zu beharren. Ob die Centralleitung des Bundes, wie der Vor stand seiner Provinzialabtheilung in Ostpreußen, die inter nationale Doppelwährung jetzt auch ohne England ins Lebe» treten lassen will, darüber wird man vor den Wahlen wohl nichts hören. Schweigt sie aber, so scheidet sie aus den Reihen Derer aus, die den Socialdemokraten und den Radicalen Vorwürfe über Irreführung der Wähler machen dürfen. Denn die Nothwendigkeit der Mitwirkung Englands an der Einführung der Doppelwährung ist von allen deutschen Bimetallisten anerkannt worden. Herr Liebknecht hat, wie mitgetheilt, eine Reihe von Dingen bezeichnet, die im socialdemokratischen Zukunftsstaate verschwinden werden. Von denen, die in dem projectirten Paradies erscheinen sollen, hat er aber nicht gesprochen. Und daS gerade will man von ihm wissen. Daß die social demokratische „Gesellschaft" zerstören würde, das brauchte nicht gesagt zu werden, daS wußte Jeder. Aber wie sie menschenwürdige Einrichtungen schaffen kann, hätte Herr Liebknecht freundlichst auseinandersetzcn sollen, zumal da ihm ja das Wort „Sclaven" aus der Feder geflossen ist. Die Menschen werden im Zukunftsstaate „nicht mehr Sclaven der Entfernungen" sein — die Socialdemokratie wird nämlich nach der Versicherung des Herrn Liebknecht das lenkbare Luft schiff erfinden lassen, aber erst, wenn sie am Ruder ist; für die jetzt herrschende bürgerliche Canaille ist der Fortschritt zu gut. Schön! Aber wie steht eS mit der Sklaverei im ruhenden Zustande, mit den Fuchteln der „GesellschaftS"- Vögte, die dem Einzelnen befehlen, was er zu thun und zu lassen, wie und wo er zu arbeiten, zu essen, zu schlafen hat? Was nutzt die schönste Fahrgelegenheit, wenn sie nur mit der Erlaubniß von Aufsehern benutzt werden kann, die um die Krippe der „Cultur- und Naturgenüsse" stehen und der ins- aesammt zu der Freiheit und dem Lebensgenüsse der sächsischen Lagerhalter emporgedrückten Menge nicht Platz machen werden? In Preußen wird wieder einmal „versöhnt". Die Lithauer in Ostpreußen sollen noch mehr Schulunterricht in ihrer Sprache erhalten, als bisher, obwohl sie alle Deutsch verstehen, die Ersetzung deutscher evangelischer Pfarrer durch lithauische hat schon begonnen, kurz, eS soll ihnen geschehen, wie unter Caprivi den Polen. Freilich ein deutscher Cvnser- vativer hat unter Berufung auf Herrn von Miquel — und diesen anscheinend citirend — bemerkt: „Früher hat man die Lithauer verkannt und mit den Polen über den gleichen Kamm geschoren. Die Polen schließen sich allen zersetzenden Elementen an; das ist bei den Lithauern nicht der Fall. Deshalb müssen die Lithauer anders behandelt werden." Wie lange aber ist eS her, daß man die Polen ebenso günstig beurtheilt hat wie jetzt die Lithauer? Und wer darf überzeugt sein, daß diese lithauische Versöbnungsaction nicht nur deshalb eingeleitet wird, um ein Präcedenz zu Gunsten der Polen zu erlangen, der 3 Millionen Menschen, „denen man nicht vorenthalten darf, was der Hand voll Lithauer gewährt ist"? ZUM spanisch-amerikanischen Kriege schreibt der „Allg. Marinepol. Corr." ein genauer Kenner der amerikanischen Verhältnisse: Die Frivolität, mit welcher Amerika den Krieg gegen Spanien vom Zaune gebrochen hat, findet all mählich in den gebildeten Kreisen der Vereinigten Staaten die Würdigung, welche sie verdient. Die allgemeine Depression über die vollständige Unfähig keit des KriegsratheS, die Uneinigkeit der Führer der in Aus sicht genommenen Landarmee, der trostlose Zustand des frei willigen Corps, das planlose Umherfahren der amerikanischen Geschwader in den cubanischen Gewässern fangen an, den Eindruck hervorzubringen, als wenn Amerika, wenn nicht ein unerwarteter GlückSzufall eintritt, in eine Art Defensive ge drückt werden könnte. Der klägliche Eindruck ist um so stärker, wenn man sich an die Branbartikel der amerikanischen Hetz presse vor Ausbruch des Krieges erinnert. Das Mäntelchen der Humanität, welches der ganzen Action umgehängt werden sollte, ist durch die Ereignisse so durchlöchert, daß der nackte Körper des Egoismus in empörender Weise zum Vorschein kommt. Was ist denn als die Ursache des Krieges hingestellt worden, was hat man gepredigt? Die Mißwirtschaft aus Cuba sollte beseitigt und vor Allem den verhungernden Insurgenten und den anderen nach Angabe Amerikas am Verhungern befindlichen Cubanern Hilfe und Rettung vor dem sicheren Tode gebracht werden. Um dafür Stimmung zu machen, hat man kein Mittel gescheut. Alle illustrirten Blätter wimmelten von Abbildungen skelettartig abgemagerter Neger und von Scenen, welche die auf Cuba herrschende Hungersnot iw grellsten Lichte zeigen sollten. Das vor handene Humauitätsgefühl und die Hilfsbereitschaft des wohl denkenden Amerikaners sind dadurch aufs Höchste aufzestachelt worden, und was ist jetzt das Resultat? Der Haien von Havanna ist blockirt, die versuchten Landungen von Lebens- mttteln und dergleichen durch Amerikaner sind saft gänzlich erfolglos geblieben. Die Entsendung großer Landexpedilioncn ist durch den verlotterten Zustand der freiwillige» Armee vorläufig unmöglich gemacht und voraussichtlich bis mindestens October verschoben. Bis zu diesem Zeitpunkt aber müßte nach der eigenen Ansicht der Amerikaner die Hälfte der Eingeborene» von Cuba verhungert sein und zwar gerade deshalb, weil ihnen gewaltsam Hilfe gebracht werden soll. Nicht besser kann ein Zerrbild der Humanität gezeichnet werden, als durch diese Thatsache. Neben dem kläglichen Zustande des in Aussicht genommenen Landcorps ist es aber eine andere Erwägung, welche eine vorläufige Landexpedition unmöglich gemacht hat. Es ist die Thatsache, daß einer militairischen Landung auf Cuba eine entscheidende Seeschlacht vorangegangen sein muß, d. h., der Krieg wird nicht zu Lande, sondern zur See aus gefochten. Die bisherigen Leistungen der amerikanischen Flotte eröffnen dafür noch keine sehr erfreuliche Aussicht. Gegenwärtig wird in den Vereinigten Staaten nicht mehr mit den Mitteln der Humanität, sondern mit den gröbsten Mitteln des Chauvinismus und der Hetzpolitik gearbeitet. Jeder Krieg zeitigt in der Publicistik, insbesondere in den Witzblättern, mebr oder weniger drastische Aeußerungen. Die europäischen Kriege, insbesondere auch die deutschen, haben in dieser Beziehung Meisterleistungen zur Folge gehabt, aber j diese Leistungen hielten sich in den Grenzen des Anstandes und eines gewissen, wenn auch nicht immer sehr zarten Humors. Durchblättert man die amerikanischen Blätter der Gegenwart, so kommt eine unverhüllte schamlose Brutalität zu Tage, welche besser als alles Andere den Beweis dafür liefert, daß die niedrigste Volksleidenschaft aufgestachelt werden soll. Eines der größten amerikanischen Witzblätter brachte neulich ein geradezu widerliches Bild, in welchem die aus dem Conföderationskriege wieder ausgegrabene typische Figur des blucio 8am, der mit einem billigen Wortwitz zum Euelo 8um—p8on, dem Befehlshaber des einen amerikanisch-atlan tischen Geschwaders, gemacht wird, den Spanier unter Wasser gedrückt hat und ihn ertränkt. AuS dem Munde des Spaniers dringen Luftblasen, welche über der Oberfläche des Meeres platzen und welche überaus geschmackvoll als die „spanische Ehre" bezeichnet sind. Es ist Pflicht einer anständigen Presse, derartige Aus schreitungen welche unter den Wilden im Innern Afrikas angebracht sein mögen, an den Pranger zu stellen. Deutsche« Reich. Berlin, 3. Juni. Das Reichsversicherungsamt hat unter dem 1. Juni an die Vorstände sämmtlicher Berufs genossenschaften und Invaliditäts- und Altersversicherungs anstalten folgendes Rundschreiben erlassen: Da nach den diesseitigen Wahrnehmungen über das Wesen und Wirken der Arbeiterversicherunz des deutschen Reiches in den be- theiligten Kreisen und namentlich unter den Arbeitern selbst noch immer vielfach mangelhafte Kenntnisse herrschen, welche bäufig zu mißverständlichen Auffassungen und falschen Beurtheilungen der socialpolitischen Gesetze, mitunter für die Versicherten auch zum Verlust ihrer Anrechte führen, so erscheint es wünschenswertb, daß der diesseits zusammen gestellte „Leitfaden zur Arbeiter-Versicherung des Deutschen Reichs", welcher sich bisher als ein geeignetes Aufklärungsmittel erwiesen hat und soeben anläßlich der zweiten Kraft- und Arbeitsmaschinen-Ausstellung in München in neuer Ausgabe hergestellt worden ist, eine thunlichst weite Verbreitung findet. Seine Ausgabe ist, den Versicherten selbst nicht nur die Wahrnehmung ihrer Ansprüche zu erleichtern, sondern ihnen auch einen tieferen Einblick in die wechselseitige Ergänzung der verschiedenen Versicherungszweige untereinander und in die volkswirthschaftliche Gesammtwirkung der Arbeiterversicherung zu geben, welche der deutschen Arbeiterschaft in den ver schiedenen Nothlagen des Erwerbslebens Unterstützungs rechte in einem bisher in keinem anderen Lande erreichten Umfange gewährleistet hat. Der Vorstand wolle hiernach auf eine thunlichst weite Verbreitung des Leitfadens, auch unter den Vertrauensmännern, hinzuwirken suchen. * Berlin, 3. Juni. Wie bereits mitgetheilt, wird in einer besonderen Beilage des „Reichsanzeigers" ein Auszug aus einem vom Finanzminister v. Miquel an den Kaiser erstatteten Jmmediatbericht über die Finanzver waltung Preußens vom 1. Juli 1890 bis 1. April 1897 veröffentlicht. Die Darstellung umfaßt 2'/z Bogen des amt lichen Blattes. Da die Thatsachen an sich bekannt sind, so beschränken wir uns darauf, die Schlußbemerkungen wieder zugeben, welche lauten: „Ein Rückblick aus das Vorgesagte läßt einmal die procentual steigende Tendenz des staatlichen Ausgabebedarfs während der Berichtsveriode, daneben die Erleichterung des Steuerdrucks der Bevölkerung in Folge gerechterer Lastenvertheilung bei mäßiger Vcrininderung deS Gesauiintsteuerauskominens endlich und trotz dieser Voraussetzungen die fortwährende Besserung der rechnungsmäßigen Ergebnisse des Staatshaushalts sowie der finanziellen Gesammtlage des Staates von Jahr zu Jahr hervortceten. Zugleich gicbk der Bericht aber auch zu erkennen, wie verkehrt es wäre, die gegenwärtige günstige Finanzlage, welche zu erreichen die consequenteste Durchführung der nach den ungünstigen Erfahrungen früherer Jahre für richtig erkannten Grundsätze im Großen wie im Kleinen erforderte, nunmehr zum Anlaß zu nehmen, um Len dauernden Ausgabebedarf des Staatshaus haltsetats ins Uugemessene zu steigern oder wichtige Ein nahmequellen des Staats ohne genügende anderweitige Deckung preiszugeben. Die stark steigende Tendenz des Aus- gabebedarss auf allen Gebieten der Staatsverwaltung einer seits, der Umstand, daß der preußische Etat hauptsächlich aus die Einnahmen aus feinen Betriebsverwaltungen, vor Allem auf die mit erheblichen Schwankungen verbundenen Eisenbahnüberjchüsse basirt ist, andererseits endlich der so große Unsicherheit in den preußischen Etat bringende Factor des Reichsfinanzwesens müssen, was im Volke noch vielfach nicht genügend ge» würdigt wird, eine pflichtbewußte Finanzverwaltung immer von Neuem auf vorsichtige und pflegliche Behandlung der Ausgaben FeniHetoir» Am die Erde. Reifebrtefe von Paul Lindenberg. Nachdruck verboten. Der Verfasser als Menageriethier. — In einer chinesischen Karawanserei. — Auf der Tour zur großen Mauer. — Schlimme Wege. — Er st es Nachtquartier. — Aus der Karawanen ft raße zur Mongolei. — Interessantes Ge triebe. — Die große chinesische Mauer. — Ihre einstige Bedeutung und was sie heut noch ist. — Zurück nach Nan-K-ou. Nan-K-ou, 21. März. Daß ich noch einmal im Laufe des Erdenwallens als Menageriethier betrachtet werden würde, hätte ich mir auch nie träumen lassen, aber seit gestern habe ich mich schon ganz hübsch in diese Rolle gesunden, ja, ich beiße sogar nicht, schlage nicht aus, kratze nicht, im Gegentheil, lasse mich anfaffen und mein äußeres Fell näher untersuchen, Alles höchst geduldig und in noch guter Laune! Ich sitze hier im „Ehrenraum" einer chinesischen Karawanserei in dem oben genannten Städtchen, das etwa tausend Einwohner zählen mag und seine Bedeutung als Durchzugs- und Rastort zahlloser Karawanen nach und von der Mongolei hat; dieser „Ehrenraum", für chinesische Man darine und europäisch« Menageriethiere bestimmt, schließt einen Hof ab, der vorn von dem großen Wirthszimmer, zu beiden Seiten aber von Stallungen und den Schlafstuben für minder angesehene Gäste sowie für die Kutscher, Eseltreiber rc. eingefaßt wird. Der einzige Unterschied, den dieser „Ehrenraum" aufweist, ist, daß er etwas geräumiger und etwas weniger schmutzig wie die übrigen zu Schlafzwecken bienenden Löcher ist; ein Tisch, zwei Stühle, da» ist seine Ausstattung, an der einen schmalen Wand sodann der Kang, eine aus Lehm errichtete Erhöhung, etwa einen halben Meter über dem Steinfußboden, mit Stroh matten belegt — es ist das Bett! Es kann sogar von unten her geheizt werden, aber man unterläßt es wegen des Qualms, ich habe schon genug an dem schwcilenden Holzkohlenfeuer, das ich in einer großen eisernen Pfanne der Kälte wegen anzünden ließ und das mir bereits einen recht lieblichen Husten verschafft hat. Die Seite nach dem Hofe zu ist durch die Fensterwände und die Thür abgeschlossen, beides aus zahllosen, mittels Holz stäbchen zusammengesetzten Vierecken bestehend, deren jedes mit einem Stück weißgrauen Papieres, welches die Stelle des Glases vertritt, verklebt ist. Alle Augenblicke nun plautzt solch' Papierfensterchen entzwei, indem ein schmudeliger Finger hindurchgestcckt wird, und sich dann ein Chinesenauge an der Oesfnung zeigt, welches neugierig hindurchstarrt, um zu erforschen, was das Menageriethier eigent lich macht — und das sitzt an einem Tisch und gestaltet mit einem spitzen Gegenstand, welchen es in eine schwarze Flüssigkeit taucht, allerhand Kritzeleien auf einem weißen Blatt Papier! Zu merkwürdig! Draußen stoßen und drängen sie sich, wie unsere Schauspieler und Schauspielerinnen, ehe der Vorhang aufrollt, vor den bekannten kleinen Gucklöchern, und immer neue „Fensterscheiben" werden mir einyestoßen; recht angenehm für die kalte Nacht! Ich mache daher lieber die Thür auf, an fünfzig Leutchen stehen da dicht beieinander und kommen allmählich herein, mich, nachdem ich mich wieder an den Tisch gesetzt, immer enger umringend und sich gegenseitig durch allerhand Worte und Zurufe auf meine Kleidung, mein Thun, mein Wesen auf merksam machend. Am meisten, wie überall bisher, wo ich mit Chinesen zusammentraf, wirkt wiederum der Kneifer. Wie kann solch' ein Ding blos auf der Nase haften bleiben! Und welch' schreckhaftes Erstaunen, wenn ich ihn durch eine Bewegung der Gesichtsmuskcln plötzlich herabfallen lasse, und welch' Gelächter, wenn ich das Dings, das sie zersplittert am Boden glaubten, an der Schnur heraufziehe und aufsetze! Ganz heiser haben sich darüber schon einige ältere Chinesen gelacht! Uebrigens ein gutmllthiges Bott hier, nirgend» bin ich Uebelwollen oder gar Fremdenhaß begegnet, stets einer harmlosen Fröhlichkeit und einer kaum verletzenden Neugierde. Guckt nur, so viel ihr wollt, ihr Zopfträger, ich werde, so gut es unter diesen Umständen möglich ist, meinen Bericht schreiben. Wenn es nur nicht so jämmerlich kalt wäre! Ich werd's schnell mit einem Glas Glühwein versuchen, der heizt ja innerlich, eine Cafferole ist da, Wein, Cognac und Zucker auch, das Feuer brennt auf dem Erdboden, und da will ich nun unserem Boy, der mit meinem Begleiter noch nicht von der Großen Mauer zurückgekehrt ist, etwas Concurrenz machen. So, die Mischung ist ganz trinkbar geworden, und nun los! Gestern um acht Uhr Morgens brachen wir von Peking auf, nachdem die mit zwei Maulthieren bespannte Karre mit unserem Gepäck, zu welchem neben Decken, Matratzen, Proviant rc. auch ein kleiner Ofen zum Bereiten der Speisen gehörte, bereits früher zum ersten Frühstücksort vorangefahren war. Da Pferde in Peking nicht zu beschaffen sind und wir sie erst aus Tientsin hätten kommen lassen müssen, so begnügten wir uns mit Eseln, und haben es bisher nicht bereut, die Thierchen haben in diesen beiden ersten Tagen Außerordentliches geleistet. Das Wetter war kalt, und die echte, rechte Reisestimmung wollte zuerst nicht aufkommen, Alles um uns Grau in Grau, und die „Gegend", die wir endlich nach zweistündigem Ritt durch Peking erreichten und dann durchmaßen, völlig reizlos: öde Accker, zu weilen einige schwindsüchtige Fichten, hin und wieder ein arm seliges Dorf mit verwahrlostem Tempel und zerfallenem Kinder thurm, in welchen früher von jenen Aermstcn, welche nicht die Beerdigungskosten aufbringen konnten, die Leichen der Kinder und oft genug auch lebende kleine Mädchen geworfen wurden, dann Pfützen und Moräste, die Gräben und Bäche, die wir zum Theil pasfiren müssen, mit Eis bedeckt, an den wenigen Bäumen und Sträuchern noch keine Spur vom Nahen des Frühlings zu bemerken! Die Wege sind zum Theil in schauderhaftem Zustande, dabei von vielen Maulthier- und Esel Karawanen belebt, die uns mit klingendem Schellengeläut theils entgegenkommen, theilS mit uns ziehen. Sie hindern unS oft am schnelleren Weitergelangen, zumal man meinem Grauchen wohl in jüngster Zeit sein Fräu lein Braut entführt haben mußte und er es nun überall mittels eifrigen Schnupperns wiederzufinden trachtete; selbst die Vi sitenkarten auf dem Wege ließ er nicht unberücksichtigt, er fand freilich deren nicht allzuviele, denn zahllose Männer, Jüng linge, Knaben ziehen mit Körben und Schippen die Straßen hinauf und hinab und sammeln mit emsiger Hast Alles ein, was achtlos von den Karawanenthieren verstreut wird und was hier von geschätztem Werth für die Landbestellung und Feuerung ist. In den kleineren Ansiedelungen, die wir durchritten, liefen uns in Schaaren die älteren Kinder nach, die kleineren rannten heulend von dannen. Erst kurz vor zwei Uhr, nach fast sechsstündigem Ritt, er reichten wir unseren Frühstücksort, das winzige Städtchen Schachow, und unser Boy entfaltete zuerst seine Kochkünste, mit denen wir äußerst zufrieden waren. Natürlich tafelten wir in Gegenwart von mehreren Dutzend Schachower Einwohnern, die sich vor dem Ehrenraum der Ausspannung drängten und denen einige Brodschnitten mit Mostrich so gut mundeten, daß sie sich die Bäuche vor Vergnügen strichen; die Cigarrenstummel aber gingen von Mund zu Mund, und das „hau, hau" (gut, gut) wurde vor Entzücken nur so hingehaucht! Wir konnten uns nicht lange der Ruhe erfreuen, wollten wir noch vor Einbruch der Dunkelheit unser Nachtquartier Nan- K-ou erreichen, und so ritten wir schon um drei Uhr wieder weiter, dem Gebirge zu, das sich aus dunklen Wolkengebilden mählich deutlicher abhob. Aber desto schlechter wurden auch die Wege; zuweilen ging's durch Flüsse auf schwankenden Bohlen oder auch nur auf einer durch Felssteine angedeuteten Furth, dann wieder über hartgefrorene Aecker und über wüstes Stein geröll bei stets zunehmender' Steigerung. Immer finsterer ward es, und unsere Thierchen kamen nur noch stolpernd vor wärts, sie waren nicht mehr zum kleinsten Trab zu bewegen. Endlich, endlich klapperten ihre Hufe über ein jammervolles Steinpflaster, noch ein paar Hundert Schritte, und wir hatten um die siebente Stunde diese Ausspannung, in der ich jetzt weile, erreicht.
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