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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 11.06.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-06-11
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980611011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898061101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898061101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-06
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28« Die Pkorgen-AuSgabe erscheint um '/,? Uhr. die Abend-AuSgabe Wochentag- um 5 Uhr. Ne-arlion und Lrpe-itto«: JohanneSgasse 8. Di« Expedition ist Wochentag- ununterbroche» geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr, Filialen: Dtt* Klemm'» Sortim. (Alfred Hahn), Universität-straffe 3 (Paulinum), Laut» Lösche, Katharinenstr. 14, pari, und König-Platz 7. BezugS-Preis fn der tzauptexpedition oder den du Stadt» bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen ab geholt: vierteljährlich 4^0, bei zweimaliger täglicher Zustellung in- Haus 5.50. Durch die Post bezogen sür Deutschland und Oesterreich: viertehährttch 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandsrndung in- Ausland: monatlich 7.50. Morgen-Ausgabe. "chMrIagMalt Anzeiger. Amtsölatt -es Aönigkichen Land- «nd Amtsgerichtes Leipzig, -es Natljes un- Polizei-Amtes -er Stadt Leipzig. Sonnabend den 11. Juni 1898. AuzeigKU-Pr-iS die «gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter dem Redaktionsstrich <4 ge spalten) 50^, vor den Familiennachrlchten (V gespalten) 40^. Größer» Schriften laut unserem Preis- verzeichniff. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Laris. Extra-veilnge« lgrsalzt), nur mit d«r Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung ^l 80.—, mit Posibesördermig ^l 70.—. ^uaahmeschluß für Äazeigeu: Abend-Au-gabr: vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je »ine halbe Stunde früher. Anreißen sind stets an die Gxpedttisn zu richten. Druck und Verlag von L. Polz in Leipzig. 92. Jahrgang. Die utopistische Komödie der Socialdemokratie. Unter dem Titel „Das Schicksal aller Utopien oder socialen Charlatanerien" hat soeben Or. Emil Döll im Verlage von C. G. Naumann in Leipzig eine Broschüre erscheinen lassen, die im Wahl kampfe deshalb die ersprießlichsten Dienste leisten kann, weil der Verfasser mit besonderem Geschick den Führern der Social demokratie die utopistische Maske vom Gesicht reißt und die hinter dieser Maske sich verbergende Charlatanerie enthüllt. Wir empfehlen daher die kleine Schrift auf das Wärmste und entnehmen ihr zur Begründung dieser Empfehlung das Folgende: „Die utopistische Komödie der Socialdemokratie besteht in der Vorspiegelung, daß sich ein Staatsgebilde schaffen lasse, dessen Einrichtungen alle socialen Uebel, an denen die heutige Gesellschaft krankt, mit einem Schlage beseitige; Glück und ewiger Friede werden darin herrschen; alles Böse, alle Verbrechen und Schandthaten der heutigen Zeit wären nur Folgen unserer mangelhaften socialen Verfassung; mit dieser würden auch jene verschwinden. Die Socialdemokratie predigt also ihren Gläu bigen, daß eine Aenderung der socialen Zustände, namentlich der Production und Consumtion, hinreiche, um die von Geburt an mit guten und bösen Trieben und Leidenschaften behafteten Menschen sämmtlich in Engel und Tugendhelden zu verwandeln. Wie es nun aber möglich sein soll, daß Hirn und Herz der Menschen sich durch eine plötzliche Aenderung der blos äußeren Lebensumstände ebenso plötzlich innerlich umgestalten, darüber giebt uns die Socialdemokratie wohlweislich keine nähere Aus kunft. Sie verhüllt ihre Utopie lieber in einen nebelhaften Schleier und speculirt dabei auf die Unkunde der großen Masse, auf welche noch immer das Halbdurchsichtige und Mysteriöse, wenn es nur die Phantasie anzuregen geeignet ist, den größten Reiz ausgeübt hat. Gerade dieser Mysteriencultus hat bei der Socialdemokratie seit Anfang an, d. h. schon bei ihrem Oberhaupt Karl Marx, ebenso wie heute, eine gewichtige Rolle gespielt. Eugen Dühring ist es gewesen, der zuerst und am gründlichsten der marxistischen Socialdemokratie die Maske vom Gesicht gerissen und ihr wahres Antlitz in seiner widerlichen Häßlichkeit aller Welt gezeigt hat. In der dritten Auflage seiner Geschichte der Nationalökonomie und des Socialismus übt Dühring eine geradezu zermalmende Kritik an der marxistischen Theorie. Die Eitelkeit auf zusammengerafften Gelehrsamkeits schein und wissenschaftliches Chinesenthum, wie sie sich in dem Buche von Karl Marx so widerwärtig spreizt, stellt Dühring an den Pranger und weist im Einzelnen nach, wie dort die all gemeinen nationalökonomischen Grundbegrifse in dem Wust von gelehrtem Wortschwall völlig verstümmelt und carikirt werden. So ist es namentlich der Begriff des Capitals, den Marx mit seinem dialektischen Geheimnißkram Heimsucht und daraus wahre Wunder für seine düpirten Gläubigen herrichtet. Marx stellt das Capital nicht, wie es sich gehörte, als einen Pro- ductionsfactor, sondern als eine historische Phase hin, die über wunden werden müsse. So kommt es denn auch, daß die socialdemokratische Agitation in derselben verkehrten Weise gegen das Capital zu Felde zieht, als ob dies der eigentliche sociale Missethäter wäre. „Tod dem Capital!" Das ist von jeher das socialdemokratische Feldgeschrei gewesen, und „Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise" das Schlagwort, womit die Leidenschaften der Proletarier erregt werden sollen. Was ist nun Capital und kapitalistische Produktionsweise? Unter Ca pital im volkswirthschaftlichen Sinne versteht man alle die jenigen ökonomischen Machtmittel, welche zur Fortführung der Production dienen. Die Natur mit ihren Stoffen und Kräften auf der einen Seite, der Mensch mit seiner Arbeitsfähigkeit auf der anderen und zwischen ihnen das Capital, d. h. alle Zu rüstungen zur geregelten und erfolgreichen Arbeit: dies ist das Schema, in welchem der Capitalfactor der volkswirthschaftlichen Production deutlich hervortritt. Offenbar ist das Capital bei seinem Mitwirken an der Production ein ebenso unschuldiges Ding wie der Naturfactor; wenn man jenes verdammt, könnte man diesen mit gleichem Recht verwünschen. Ohne Capital würde es keine Production mit moderner Technik geben, und Tod dem Capital hieße Tod der Production, dem Fortschritt, der Cultur! Also welchen vernünftigen Sinn soll es haben, wenn die Socialdemokratie gerade demjenigen Productionsfactor den Krieg erklärt, der die Herrschaft des Menschen über die Natur am wirksamsten gefördert hat? Mißbräuche und ego istische Verwendungen des Capitals sind allerdings reichlich vor handen; aber nicht das Capital an sich trägt die Schuld an dieser Entartung, sondern diejenigen, welche es in schädlicher Weise handhaben. Die Angriffe gegen das Capital sind also an eine falsche Adresse gerichtet; den verkehrten Gebrauch des selben und die Beschaffenheit der Menschen, nicht das Capital, sollte man anklagen. Wie soll nun aber eine nichtkapitalistische Production möglich sein? Auf eine deutliche Antwort hierauf hat man bis jetzt vergebens gewartet. Die Gläubigen werden auf den berühmten Zukunftsstaat vertröstet, in welchem sich schon Alles von selbst finden werde; es sei überflüssig, sich schon jetzt über derartige Dinge den Kopf zu zerbrechen. Nun hat freilich der Urheber der socialdemokratischen Staatsutopie, Karl Marx, offenbar in Erinnerung an das mosaische Jubeljahr, in welchem die Aecker an die ursprünglichen Besitzer wieder zurückkehrcn und die Schulden cassirt werden, eine historisch sein sollende Enk- wickelungstheorie construirt, wonach der Boden und die Arbeits mittel infolge der modernen kapitalistischen Produktionsweise allmählich in immer weniger Hände übergehen, bis schließlich die Expropriation der so entstandenen Besitzolygarchie durch die Volksmasse sich mit einem Schlage vollziehen werde. Mit an deren Worten: das Eigenthum der Besitzenden wird in der bevorstehenden Weltrevolution durch gewaltsamen Raub in die Hände der Nichtbesitzenden übergehen. Dieser Gewaltact des Besitzwechsels soll sich im Verhältnis zu der sich durch die Jahr hunderte hindurchschleppenden Expropriation der Volksmasse in sehr kurzer Zeit vollziehen, so daß die Etablirung des Zu kunftsstaates sozufagen das Werk eines Augenblicks sein werde. Bis hierher ist die Sache, wenn auch von historischer Wahrheit weit entfernt, wenigstens dem Sinne nach verständlich. Darüber aber, was nun werter geschehen und wie die innere Ein richtung des neuen Staates beschaffen sein werde, darüber schweigt auch Herr Marx. Um der Menge wenigstens etwas zu bieten, werden über diesen Punct allerlei mysteriöse Andeutungen gemacht, die im Grunde genommen doch nur über die Plan- und Rathlosigkeit der Führer täuschen sollen. Auch kann man schon aus den ausgegebenen Parolen für die Agitation deutlich genug erkennen, wie verworren sich der sogenannte Zukunftsstaat in den socialdemokratischen Köpfen ausnimmt, und wie es gerade in der Wahl solch widersinniger Schlagworte auf die Erregung der undisciplinirten Phantasie und Leidenschaften der Masse abgesehen ist. L-o ist beispielsweise eines der beliebtesten agitatorischen Schlagworte die Beseitigung des Classenstaates. Was soll das heißen? Doch nichts Anderes, als daß in dem zukünftigen Staatsgebilde eine Classificirung und Einordnung der Menschen nicht vorhanden sein werde. Damit wäre aber jede Organisation von vornherein unmöglich gemacht und ein chao tisches Durcheinander die Signatur eines solchen Zustandes. Schon die einfache Ueberlegung, daß die moderne Production im Wesentlichen auf einer weit durchgeführten Arbeitstheilung be ruht, kann darüber belehren, daß es ohne eine Sonderung der wirthschaftlichen Functionen nicht geht. Alle sociale Classi fication findet in der Arbeitstheilung ihren Grund, und wer jene nicht will, kann diese nicht aufrecht erhalten. So sehen wir denn, daß selbst die elementarsten Grundsätze der Volkswirth- schaft, die seit Adam Smith jedem Halbwegs gesund angelegten Menschen einleuchten, von einer gewissenlosen Agitation über den Haufen geworfen werden, um den falschen Schein zu er wecken, als ob in dem mysteriösen Zukunftsstaat Alles schön gleich und brüderlich zugehen werde. Doch der Widersinn in dieser Art Agitation ist verhältnißmäßig noch eine Kleinigkeit in Vergleichung mit der utopistischen Ungeheuerlichkeit des Staatscommunismus und der Abschaffung des Privateigenthums. Schon in dem marxischen kommunistischen Manifest von 1848 wurden Aufhebung von Privateigentum und Erbrecht als Hauptpuncte des socialdemokratischen Programms verkündet. Später hat man es für bester befunden, diesen unzweideutigen Ausdruck durch den etwas verblümteren der „Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Arbeiter" zu ersetzen; doch wird Niemand darüber sich täuschen lassen, daß damit doch nur jene Aufhebung, d. h. Aneignung gemeint ist. Denn was sind Produktionsmittel? Darunter läßt sich direkt und indirect Alles verstehen: Grund und Boden, industrielle Etablissements, Werk zeuge, baares Geld, ja selbst die Wohnhäuser und was dazu gehört. Diese Besitzergreifung ist also nichts Anderes als jene Annectirung des Eigenthums. Damit nun die gläubige An hängerschaft die Geduld nicht verliert, wird ihr der Zusammen bruch der sogenannten kapitalistischen Gesellschaftsordnung als nahe bevorstehend geschildert, — und die verblendete Menge läßt sich düpiren. Doch jeder Einsichtige wird nicht begreifen wollen, wie sich die aus einer mehrtausendjährigen Geschichte hervorgegangenen socialen Zustände plötzlich mit einer so rapiden Geschwindigkeit jenem socialdemokratischerseits erhofften Ab grunde nähern sollten. Auf industriellem Gebiet ist eine solche Katastrophe höchst unwahrscheinlich, wenn geeignete Gegenmaß- regeln im Sinne der Decentralisation getroffen werden. Ver einigung der technischen Mittel ist kein Uebel, »wenn nebenher Capitalselbstständigkeiten in kleinerm Umfange gebildet werden. In der Landwirthschaft, welche doch fast die Hälfte der Be völkerung in Deutschland beschäftigt, sind aber bis heute noch keine Anzeichen zu einer centralistischen Veränderung, geschweige zu einem Zusammensturz im socialdemokratisck-en Sinne vor handen; auf diesem Gebiet kann von einem Vorherrschen der Latifundienwirthschaft keine Rede sein. Ueberhaupt will der Landmann, der Bauer von den socialdemokratischen Zukunfts malereien am wenigsten etwas wissen; der ist zu praktisch ge sinnt und zugleich gewitzigt genug, um hinter den communistiscAn Vorspiegelungen und Phantasien etwas ganz Reales, nämlich jene Annectirung des Eigenthums zu wittern. So zeigt sich also auch hier, daß die socialdemokratischen Führer die Masse mit eitlen, Hoffnungen und Versprechungen ködern, an deren Erfüllung sie selbst am wenigsten glauben. Diese bewußte Täuschung und Nasführung der Masse ist das Bedenklichste in der socialdemokratischen Agitation. Utopien bleiben so lange einigermaßen unschuldige Gebilde, als die Urheber und Vertreter derselben von deren Realisirbarkeit ehrlich überzeugt zu sein glauben. Der Schaden, den sie durch ihre vorwitzigen Experimente anrichten, kann unter Umständen erheblich sein; doch söhnt der Gedanke theilweise wieder aus, daß der Schiffbruch des Unternehmens ihre Theilnehmer wenigstens von einem gefährlichen Jrrthum befreit hat. Wenn aber hinter den utopistischen Luftgebilden unlautere Ab sichten lauern, wenn die Utopie ein Mittel zu egoistischen Zwecken und zur Aufreizung böser Leidenschaften wird, dann sind derartige Bestrebungen nicht mehr als unschuldige Ver irrungen der Phantasie, sondern als Bethätigungen einer corrupten Moral aufzufaffen. Wie sieht es nun mit dem zweiten Puncte, der kommu nistischen Gesellschaft, aus? Auch darüber sucht man in den sogenannten officiellen Kundgebungen vergebens nach einer Aus kunft; nicht einmal die allgemeinsten Züge sind gekennzeichnet. Sogar über die fundamentalsten Principien der Vertheilung der Arbeit und der Bezüge findet sich kein Wort in dem Programm. Und was man in den Parieischriften darüber zu hören be kommt, bezeugt entweder gänzliche Rathlosigkeit oder Hand greiflichen Unsinn. Offenbar müßte, wenn aller Besitz an den kommunistischen Staat übergegangen wäre, von Staatswegen, genau so wie in Sclavenstaaten, decretirt werden, was Jeder zu genießen, wie Jeder sich zu kleiden, wie er zu wohnen, was er aus dem Staatskosten zu bekommen und welche Dienste er in dem marxistischen geld- und tauschlosen Arbeitscasernenreich zu verrichten hätte. Socialdemokratische Partcischriften, zum Theil von Hauptführern verfaßt, gehen sogar so weit, zu er klären, daß selbst die Kindererziehung den Eltern abgenommen und dem Staate übertragen werden würde. In ungeheuren Staatskindererziehungscasernen würde das Erziehungsgeschäft im Großen und unter Staatscommando besorgt werden und gewaltige Staatsküchen würden für die allgemeine Abspeisung zu sorgen haben. Da würde freilich von der Familie, dem Familienleben, von der Bethätigung der Mutter- und Kindes- Die LeoparLi-Feier in Italien. Von Wilhelm Rullmann (Graz). Nachdruck verboten. Zu Beginn des Jahres 1823 wandert ein fünfundzwanzig jähriger junger Mann zwischen den Palästen und Hütten des neuen Rom und jenen ehrwürdigen Ruinen der alten Stadt umher, die die Zeugen einer großen Vergangenheit sind. Nichts berührt seinen sinnenden Geist so sehr, als ein unscheinbares Grab, das er im Kloster St. Onofrio aufsucht: das Grab seines Lieblings dichters Tasso! Er vergießt Thränen an dieser ihm heiligen Stätte, und der Gegensatz zwischen der Dürftigkeit dieses Grabes und den prunkvollen Monumenten, die man längst vergessenen Größen der ewigen Stadt errichtet hat, läßt schmerzliche Gedanken in ihm erwachen. Vielleicht auch, daß sich in diesem jungen Manne eine unbestimmte Ahnung von dem Schicksale regte, das ihn erwartete und das mit dem Leben und Leiden seines Lieb lingsdichters so viel Ähnlichkeit hat. Denn der Name dieses Jünglings, der an dem Grabe Tasto's Thränen vergießt, ist Giacomo Leopardi. Zu jener Zeit hatte der junge Graf, der diesen Namen führte, durch seine ersten Canzonen („An Italien", „An Dante", „An Angelo Mai") sich bereits Freunde gewonnen, die sein Talent bewunderten. Niemand aber hatte eine Ahnung davon, daß dieses junge Talent den Flug zu den Sternen nehmen sollte. Heutzutage ist uns Leopardi mehr, als der Dichter des „Befreiten Jerusalem", denn die Ausströmungen seines Genius sind von jenen Stimmungen und Anschauungen getragen, die in dem Geiste unseres Zeitalter- lebendig sind. Leopardi ist, wenn auch seine Muse uns in antikem Gewand« entgegentritt, doch ein ganz moderner Dichter, und da seine Leier die erhabendsten Töne findet, wenn er der geschwundenen Größe de» Vaterlandes seine Seufzer und Klagen nachruft, so begreift man, daß der Name Leopardi jedem Italiener, der nicht im Banne der klerikalen An schauungen steht, heilig und theuer ist. Darum rüstet sich das geeinte und seiner nationalen Einheit sich freuende Italien, die Jahrhundertfeier der Geburt Leopardi'S am 29. Juni d. I. festlich zu begehen, und voraussichtlich wird diese Feier an Wärme und Großartigkeit der allgemeinen Theilnahme nicht weit hinter dem erhebenden Schauspiel zurückbleiben, da- die Schiller feier der Deutschen im Jahre 1859 bot. In Recanati in der Mark Ancona, wo er am 29. Juni 1798 da- Licht dieser Welt erblickte, in der Nähe dcS berühmten Wallfahrt-ortr- Loreto, wird an diesem Tage da- Denkmal Leopardi'- enthüllt werden und dorthin werden um diese Zeit sowie später auch nach Neapel, wo sich seine Grabstätte befindet, Vertreter aller italienischen Hochschulen und Verehrer de- Dichter- au- dem ganzen Lande eine feierliche Wallfahrt antreten. Auf dem Monument in Recanati und auf dem Grabmal in San vitale in Neapel werden die Deputationen der italienischen Hochschulen Lorbeer kränz« au» Bronze niederlegen, im Peristyl der Universität in Rom wird eine Gedenktafel angebracht werden, und das Ministerium des Unterrichts hat Fürsorge getroffen, daß man auch in den Schulen des Landes die Jahrhundertfeier der Geburt des Mannes festlich begeht, der zu den ersten Zierden der nationalen Literatur gehört. Wenn dieser Dichter einst in einem jener Augenblicke der bittersten Melancholie, an denen sein Leben leider so reich war, das Wort ausgesprochen: „mal von vsäsr la lueo era, orscko, II mizlior —" so spricht die Großartigkeit der Feier dafür, daß er nicht umsonst gelebt und gelitten und daß die Bitternisse dieses Erdendaseins für das Volk, das er liebte, reiche Früchte getragen haben. Das eben citirte Wort erinnert uns daran, daß Leopardi mit Byron,Heine,Puschkin und AlfreddeMussct zu den Trägern einer Epoche der Weltliteratur gehört, in der sich eine mächtige Zeit stimmung spiegelte. Wie Schopenhauer der Philosoph, so ist Leopardi der Dichter des Weltschmerzes. In demselben Jahre, in dem Leopardi seine ersten Canzonen veröffentlichte, im Jahre 1818, erschien „Die Welt als Wille und Vorstellung". Leopardi hat dies Werk nicht gekannt, er hat überhaupt nichts von Schopenhauer gelesen, ja es ist mehr als wahrscheinlich, daß er diesen Namen, der erst so spät einen so starken Klang gewinnen sollte, niemals gehört hat. Wohl aber hat Schopenhauer sich mit den Dichtungen Leopardi'S mit großer Vorliebe beschäftigt, und am Schlüsse eines Capitels seiner „kararsa und karalipornena", das von der Trostlosigkeit des menschlichen Daseins handelt, sagt er: „Keiner hat diesen Gegenstand so gründlich und so erschöpfend behandelt, wie in unseren Tagen Leopardi. Er ist von demselben ganz erfüllt und durchdrungen: überall ist der Spott und Jammer dieser Existenz sein Thema, auf jeder Seite seiner Werke stellt er ihn dar, jedoch in einer solchen Mannigfaltigkeit an Formen und Wendungen, mit solchem Reichthum an Bildern, daß er nie Ueberdruß erweckt, vielmehr durchweg unterhaltend und anregend wirkt." Und wenn andere Dichter, wie Lenau, sich an den Busen der Mutter Natur flüchten, um den Schmerz diese- Erdendaseins für Augen blicke süßer Träumereien zu vergessen, so empfindet Leopardi die Natur als ein feindliches Wesen, da-, höheren Gesetzen ge horchend, dem Elend gegenüber nicht nur kalt und gleichgiltig ist, sondern dem Staubgeborenen, der sich so gerne al» „den Herrn der Schöpfung" bezeichnet, mit Vorliebe feindlich gegenübertritt, das den Hirten auf dem Felde durch den Blitz erschlägt, dem Schiffe im Meere den Felsen entgegenstellt, an dem es scheitert, und da- aus dem Innern der Erde Ströme von Lava ent sendet, um Städte und Dörfer zu zerstören. Das berühmteste jener Gedichte Leopardi'S, die diesen Gegenstand in immer neuen Variationen behandeln, ist „!,» sinsstra o il Lior« ckel ck«««r1o" („Der Ginster oder die Blume der Wüste"). Dieses hohe Lied des Weltschmerzes ist in jener lebten Periode seiner Erdenpilgerschaft entstanden, die er, schwer leidend und von seinem Freunde Ranieri und dessen Schwester gepflegt, in Neapel verlebte. „Auf dem dürren Rücken — Des schauervollen Berge» — Desudiu», deS Vernichter» —", wandelt der Dichter sinnend umher, er gedenkt der versunkenen und ver schütteten Städte, auf deren Grab jetzt der Ginster, die Blume der Wüste wuchert und „Erfüllt von Mitleid für der Menschen Schmerzen — Zum Himmel ihre süßen Düfte sendet — Zum Trost für diese Wildniß". Hierher möge Derjenige, der unser Dasein zu preisen liebt, hierher möge er kommen, um zu sehen, mit welcher Art von Liebe die Natur ihre Geschöpfe behandelt, sie, die der Mensch als seine Mutter verehrt und die in Wahrheit ihm nur stiefmütterlich gesinnt ist. „Eie nennt er Feindin, doch in Treu' verbunden Scheint ihm die ganze Menschheit, — Sie ist es auch und war'» zu allen Zeiten — Um gegen sie zu streiten. In allen Menschen sieht er nur Genoffen, Die er mit wahrer Liebe Umarmt alle —- Man sieht, der Weltschmerz Leopardi'S gelangt zu demselben Schluffe, wie die altruistische Moral des Christenthums: im Kampfe gegen die Natur, die, den ehernen Gesetzen gehorchend, die als blinde Kräfte in ihr thätig sind, dem Menschen mehr feindlich als freundlich gesinnt ist, sollen alle Kinder der Erde wie Brüder in gemeinsamem Bunde stehen. Gerade in jene letzte Lebensepoche des großen Dichters, die er in Neapel im Hause seines Freundes Ranieri zubringt, fallen übrigens die glücklichsten Augenblicke seines Erdendaseins. Frei lich sind es eben nur Augenblicke des Glückes, von denen man reden darf. Als solche bezeichnete er selbst die Stunden, die er mit Platen verplauderte, der im Jahre 1834 in Neapel weilte und dort durch Ranieri mit Leopardi bekannt gemacht wurde. Der deutsche Philologe H. W. Schulz, der gleichfalls in diesem Freundeskreis Eingang fand, erzählt uns darüber: „Platen hatte bereits die Gesänge Leopardi'S mit Bewunderung gelesen, Leo pardi dagegen hörte zum ersten Male den Namen des deutschen Dichters. Das erste Zusammentreffen war kalt und höflich, da Platen bei neuen Bekanntschaften in der Regel einsilbig und ver legen war. Bald aber entspann sich ein inniges, freundschaft liches Verhältniß zwischen diesen ausgezeichneten Männern, und eS verging kein Tag, ohne daß Platen seinen kranken Freund auf eine Stunde besuchte. Viele geistige Berührungspunkte ver einten beide Dichter. Beide waren von glühender Begeisterung für das Alterthum durchdrungen und jeder war ein lebendiger Vermittler klassischen Geistes und klassischer Form bei seinem Volte. Platen bekundete dies durch hohe Sprachkunst und um fassende Kenntniß, er war mannigfaltiger angeregt und sein poetischer Kreis war von größerem Umfang. Der Italiener dagegen stand mehr auf antikem Boden und die Bewunderung der Vorwelt war bei ihm Sach« des Gemütbs. Werth mußte Leopardi, dessen ganzes Leben ein Klagcpedicht auf das gefallene Italien war, ein fremder Dichter sein, in dessen letzten Werken überall eine entschiedene Vorliebe für das italienische Mittelalter durchblickt." Hierzu sei bemerkt, daß Platen zu seinen um jene Zeit entstandenen „Geschichten de« Königreichs Neapel" ein Motto vorsetzte, das dem Gedichte Leopardi'S an den Grafen Carlo Pepoli entlehnt war. Beide Dichter, der Italiener und der Deutsch«, hatten übrigen» noch etwas Anderes gemein, al- die Vorlieb« für das Alterthum und die Gabe, einem tiefen Gedanken oder einer lyrischen Stimmung eine dichterische Form von klassischer Vollendung zu geben. Es gab da noch ein Drittes, was ihnen gemeinsam war: die Furcht vor der Cholera! Als das Gespenst dieser Krankheit, die Europa damals verheerte, sich Neapel näherte, floh Platen nach Sicilien, und wenn ihn jener große Würgeengel auch nicht erreichte, so wurde er doch sein Opfer durch die Angst, die ihm dorthin folgte: er erkrankte an einem Leiden, das er für Cholera hielt, und die verkehrte Behandlung, der er sich unterzog, führte am 5. December 1835 seinen Tod herbei. Leopardi wurde, wie Schulz berichtet, „durch die Nachricht vom Tode Platen's tief erschüttert und er hätte wohl gern seine übrigen Tage für den Freund hingegeben". In der That konnte dem schwer Leidenden der Tod ja nur als ein Erlöser erscheinen, und doch hatte das Grauen vor der entsetzlichen Krankheit ihn aus der Stadt in die Einsamkeit getrieben; er hatte sich in ein Gartenhäuschen am Fuße des Vesuv zurück gezogen, von wo er erst im Februar 1837 nach Capodimonte zurllckkehrte. Bald darauf wurde er von der Krankheit, die schon seit längerer Zeit in seinem Innern wühlte und die von den Erscheinungen der Wassersucht begleitet war, stärker angefaßt und wieder wurde er von der Angst vor der Cholera geschüttelt. Er wollte am 14. Juni 1837 nach dem kleinen Häuschen arg Vesuv zurückeilen, aber während der Wagen vor der Thür hielt, der ihn dorthin bringen sollte, warf ihn ein heftiger Fieberanfall auf das Lager, und in den Armen seines Freundes Ranieri hauchte er seinen letzten Seufzer aus. „I'ammi vecier la luc-e" — „laßt mich das Licht sehen" — waren die letzten Worte, die von seinen Lippen kamen. DaS Unglück, mit dem Leopardi während seines ganzen Lebens zu kämpfen hatte, schien auch an seinem Todeslager nicht Halt machen zu wollen. Wie uns Brande- in der Ein leitung zu seiner Leopardi-Uebersetzung erzählt, war von der Sanitätspolizei in Neapel bestimmt worden, daß während der Dauer der Cholera alle Leichen ohne Unterschied auf dem Cholera-Friedhofe, und zwar innerhalb der ersten vierund zwanzig Stunden nach Eintritt des Todes, beigesetzt werden sollten. Dem Freunde Ranieri siel also noch die Aufgabe zu, die Leiche des Dichters vor der Beerdigung in der gemeinsamen Gruft zu schützen und dem Abgeschiedenen ein würdiges Denkmal an der Stelle zu setzen, die da- von ihm bewahren sollte, war an ihm sterblich war. Nach mancherlei Schwierigkeiten und langen Verhandlungen mit der Polizei, die er durch Bestechung gewann, gelang es Ranieri, diese» Ziel zu erreichen; die Leich« deS Dichters wurde in der Gruft der Pfarrherren der Kirch« von San Vitale, die außerhalb Neapel» in dem Vororte Fuori- grotta an dem Wege nach Pozzuoli liegt, beigesetzt. Und mit denselben Gefühlen dankbarer Verehrung, mit denen der Dichter, der hier seine Ruhestätte gefunden, einst al» Jüngling in Rom da- Grab Tasso'- ausgesucht, werden End« Juni Deputationen au» ganz Italien von dem Orte, wo die Wiege Leopardi'S stand, nach Neapel wallsahrten, um auch an dem Grabe de- größten Dichter- der neueren Literatur Italien» den Tribut ihrer pietät vollen Huldigung darzubringen.
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