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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.06.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-06-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980621012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898062101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898062101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-06
- Tag1898-06-21
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308. Dienstag den 21. Juni 1898. Dir Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr. die Abend-Ausgabe Wochentag- um 5 Uhr. Ue-artioir und Erpedition: JohanneSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abend» 7 Uhr. Wgcr JaMatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Rattzes nnd Nolizei-Amtes der Ltadt Leipzig. Filialen: ktto Klemm'- Tortim. (Alfred Hahn), UniversitatSstraße 3 (Paulinum), LantS Lösche. Katbarinenstr. 14, Part, und Könlgsplatz 7.' BezugS-Preis der Hauptexpedttton oder den Im Stadt« bezirk und den Vororten errichteten AuS- oabrstellrn ab geholt: vierteljährlich^ 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung in» Hau- „eil 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteliährlich 6.—. Direkte tägliche Nreuzbandiendung in» Ausland: monatlich 7.50. Morgen-Ausgabe. Auzeigen-Preis dle Ogespaltme Petitzeile 20 Pfg. 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Es ist richtig wenn wir nicht enttäuscht sind, so rührt dies daher, daß wir, wie an dieser Stelle oft genug ausgesprochen wurde, von den Wahlen des Jahre» 1898 nicht» gehofft, «och nichts gehofft hatten. Allein diese ErwartungSlosigkeit haben, das extreme Agrarierthum etwa ausgenommen, alle bürgerlichen Parteien getheilt. Der Socialdemokratie — warum dies leugnen? — hat Jedermann einen Zuwachs von 12 bis 18 Mandaten „gegeben". Daß sie darüber hinaus gelangt, ist nicht wahrscheinlich, vielmehr bleibt es fraglich, ob sie ihn erreicht. Ebensowenig Wie über gewisse socialistische Eroberungen hatte man sich über die Zahl der nothwendig werdenden Stichwahlen einer Täuschung hingegeben. Sie übertrifft die von 1893 nur um fünf und die Zer fahrenheit der Parteien ist diesmal von Anfang der Wahlbewegnng an als eine ärgere erkannt worden als die vor und während der vorletzten Hauptwahlen, die in der HeereSverstärkungsfrage noch einen erkennbaren BereinigungS- punct hatten. Daß die Sammlungs-Politik vorerst FiaSco gemacht bat, ist nicht zu bestreiten. Ihrem einzigen, in Straßburg er rungenen Erfolge steht Frankfurt a. M. gegenüber, wo die sämmtlichen alten bürgerlichen Parteien — nur die National socialen gingen gesondert vor — sich auf einen Candidaten geeinigt hatten, aber mit dem tristen Ergebniß, daß die Socialdemokatie im ersten Wahlgange durchdrang, während bisher jedes Mal regelmäßig die allein kämpfenden National liberalen ihren Eandidatcu in eine, allerdings aussichtslose, Stichwahl brachten. Indessen, um im ersten Wahlgange wirk sam sein zu können, war die „Sammlungs"-Parole viel zu nebelhaft verschwommen und die Improvisation des Grafen PosadowSky hat den Fehler verschlimmert, statt ihn zu ver bessern. Bei dem Allen ist es Thatsache, daß außer dem Centrum, da» übrigens auch an einer Stelle verlor, wo es seines Besitzes sicher war, zwar alle Parteien gleich unbefriedigt sind, ent täuscht aber allein die S ocialdemokratie. Sie hatte von der allgemeinen Verwirrung und der starken Verhetzung im Bürgerthume noch viel mehr für sich erhofft, als ihr zu Theil geworden. Das SiegeSgetöse, das der „Vorwärts" macht, hat lediglich den Zweck, die Anhänger über daS Fehlschlägen weit größerer in idnen genährter Hoffnungen nicht zum Bewußtsein kommen zu lassen; es ist übrigens bedeutend gedämpfter geworden, seit zugegeben werden mußte, daß statt der zuerst gemeldeten 36 Siege bisher nur 32 Mandate errungen sind und daß dem Gewinn von vier Sitzen der Verlust dreier bisher von Socialdemokraten innegehabter gegenübersteht. Die Socialdemokratie hat im ersten Wahlgange acht Mandate mehr erlangt, als in den Hauptwahlen von 1893. Angesichts deö Krieges Aller gegen Alle, der im Bürgerthum fast aller großen Städte wülhete — Stettin hatte sechs bürgerliche Bewerber! —, ist dieser Erfolg nicht sehr hoch anzuschlagen und er wird durch sehr empfindliche, vorerst freilich nur moralisch wirkende Nackenschläge beeinträchtigt. Für eine Zusammenrechnung fehlen noch die zuverlässigen Unterlagen, aber Eine- steht fest. Obschon die Vermehrung der Bevölkerung der großen Städte eine Verschiebung zu Gunsten der Arbeiterelemente bewirkt hat, ist da» WachSthum der socialdemokratischen Stimmenzahl vieler Orte weit hinter dem der bürgerlichen Ziffern zurückgeblieben, und noch mehr: schon jetzt laßt sich wahrnehmen, daß die Socialdemokratie in großen Städten Einbußen erlitten hat, die nickt mit der Bevölkerung-Verminderung zusammenhängen. In Bochum z. B. sind die bürgerlichen Stimmen um über 15 000, die socialdemokratischen nur um 2500 gestiegen, der Rückgang der Socialdemokratie in Leipzig-Stadt ist in Anbetracht des BevölkerungszuwackseS und der Energie der Wahlagitation nicht unerheblich und in Berlin sogar recht beträchtlich. Die Gesammt- zffferderin derReichShauptstadt abgegebenen socialdemokratischen «Stimmzettel ist allerdings etwas höher als im Jahre 1893. Der Zuwachs macht sich aber fast ausschließlich im dortigen 6. Wahl kreise bemerkbar, den die anderen Parteien und bis auf Weiteres mit gutem Grunde als einen verlorenen Posten betrachten. In vier Berliner Wahlkreisen weist die Socialdemokratie ein Minus gegen 1893 auf, und daS läßt sich nicht allein auf die Bevolkerungsverminderung zurück führen. Im zweiten Wahlkreise ist die Zahl der Wahl berechtigten — und die der freisinnigen Stimmen — gestiegen, die Zahl der socialdemokratischen aber zurückgegangen. Hier wie anderwärts kann mit Fug von einer Neber- schreitung des Höhepunktes gesprochen werden, und wenn Erscheinungen dieser Art auch nicht überschätzt werden dürfen, so darf man sie doch auch nicht verdunkeln lassen durch die socialdemokratische Gesammtziffer aus den lediglich zu Be- täubungSzwecken in den socialdemokratischen Bewerbungsbereich hineingezogenen sämmtlichen 397 Reichstagswahlkrcisen. Zieht man die Höhe dieser letzteren Ziffer und immer wieder die bürgerliche Uneinigkeit, wie sie nun einmal bei der Haupt wahl bestanden hat in Betracht, so ist die (gegen 1893 er höhte) Vermehrung der Wahlkreise, in denen die Social demokratie zur Stichwahl gelangt, um 17 zwar sehr ernst, aber nickt schreckenerregend. Freilich, die 1893er Wahl war schon eine sehr unbefrie digende und eS ist nichts weniger als tröstlich, sich zu vergegen wärtigen, daß daS jetzige Ergebniß nicht sehr viel schlechter ist, als jene- gewesen. Aber eS handelt sich auch nicht um Trost, sondern um Ermuthigung. Zu dieser trägt auch die gleichfalls sehr bedeutend gestiegene Zahl der Stichwahlen bei, an der die nationalen Parteien, besonders die national liberale, betheiligt sind, sowie die beiden bereits gepflückten Früchte der Einigkeit im Kampfe mit dem Polenthum. Von dem Gefühl der Genugthuung über die Erhaltung deS Besitzstandes deS CentrumS wissen wir uns mit unseren Lesern völlig frei. Dennoch kann man eS als ein nicht unerfreuliches Symptom bezeichnen, daß die Zustimmung zum Flottengesetze für die Partei keine üblen Folgen nach sich gezogen hat, auch in Bayern nicht. Der einzige bayerische Klerikale, der die Marinevorlage angenommen hat, ist wiedergewählt. Die Agitation in Bayern hatte sich aber nicht nur gegen ihn, sondern gegen sämmtliche bayerische Centrumsmitglieder gerichtet, weil diese einer Partei, die in der Flottenfrage nicht versagte, angehörten und weiter anzu gehören entschlossen sind. Diese reichsfeindliche Beschuldigung hat offenbar nicht verfangen, wie überhaupt die grundstürzende Volksbearbeitung des bayerischen Bauernbundes fast ohne jeden Erfolg geblieben ist. Nicht genau dasselbe läßt sich von der gleichgearteten Verhetzung sagen, die von Leitern und Agitatoren des Bundes der Landwirthe betrieben worden ist. Aber auch hier steht das Ergebniß in einem schreienden Mißverhältniß zu dem gemachten Aufwand an Kraft, an Wahrheitswidrigkeiten und an Geld. Zwar ist Herr v. Ploetz (Herr vr. Oertel und einige andere Bündler sind offenbar von den ofsiciösen Wahlrechnern anderen Parteigruppen zugezählt) im ersten Wahlgange gewählt, aber Herr vr. Hahn, der erklärtermaßen auszog, um den Nationalliberalismus zu ver nichten, ist in der Stichwahl auf dessen Hilfe angewiesen, ebenso Or. Noesicke. Der Bundescandidat Graf Dohna ist dem Grafen Dönhoff unterlegen, als Gewählte des Bundes wird bisher überhaupt nur eine Person aufgeführt. Die Agrar demagogie hat demnach zwar Vieles zu Gunsten der Social demokraten und des WelfenthumS zu erwerben, sich selbst aber nur schwach zu behaupten vermocht. Mißlang die „Sammlung", so könnte Einen beinahe daS Mitleid bewegen, von der „Gegensammlung" gar nicht zu reden. Die freisinnige Vereinigung hat sich zu spät auf ihre nationalen Pflichten besonnen, kann auch im besten Falle ihre frühere — Schwäche nicht erreichen, ebensowenig die süddeutsche Volkspartei, und die Richter'sche Volks partei wird sie nicht erreichen. Der „Zug nach links" hat wieder da eingesetzt, wo der Freisinn stand, die Begründung des „Schutzverbandes gegen agrarische Uebergrisfe" war ein Schlag ins Wasser. Die Niederlagen der Demokratie sind nicht zu bedauern. Daß sie zu einem Theil das Anwachsen der Socialdemokratie nach sich ziehen, ist beklagenswerth, aber erklärlich. Die von bürgerlicher Seite ausgestreute antinationale Saat geht als socialdemokratischeö Korn auf, die Wähler ziehen eben die Consequenzen. Auf_ bürgerliche Verhetzung weist auch die Ausbreitung der Socialdemokratie auf dem Lande zurück. Wer glaubt, was die Sendlinge der Berliner Leitung des Bundes der Landwirthe über die Ausbeutung der ehrlichen ländlichen Arbeit durch den CapitaliSmns den Bauern erzählen, der wäre ein Thor, wenn er anders als für die Socialdemokratie wählte, die mit dem CapitaliömuS ganz und gar, nicht nur mit dem in den Städten aufzuräumen verspricht. Der Bund ist hervorgegangeu aus einer Be wegung, die damit begann, den „Kaiser als politischen Feind des Landwirthes" und das socialdemokratische Beispiel als mustergiltig für die Landwirthe hinzustellen. Diese Spuren seines Ursprungs sind wenigstens au seiner Agitation haften geblieben und die ländlichen Wahlziffern zeigen den Effect. Die demokratische und die agrarische Demagogie sind ohne Zweifel eine der Hauptursachen deö Anwachsens der socialdemokratischen Stimmen. Aber gerade weil dies durch bas Wahlergebniß so deutlich gezeigt wird, erscheint die durch die Wahlen geschaffene Lage nicht als eine verzweifelte. Die Wähler werden sich gegenüber den Verheißungen und Auf reizungen der Bethörer auf sich selbst besinnen und von diesem Augenblick an wird die Besserung eintreten. DaS unerfreuliche Wahlergebniß der Demagogie allein in die Schuhe zu schieben, wäre jedoch ein Unterfangen, das der Zerrissenheit und dem Zwecke, daS Uebel, um es ganz zu beseitigen, ganz zu erkennen, widerstreiten würde. Auch andere Parteien wie auch die Regierung haben sich Unterlassungs sünden vorzuwerfen. Eine der weiteren Ursachen des Mißerfolges der Samm lung hat Herr v. Kardorff bezeichnet, als er im Reichstag feststellte, das monarchische Gefühl habe Einbuße erlitten. Die Wahlen auf dem Lande bestätigen, daß sich der Ab geordnete nicht geirrt hat. Er hatte hmzugefügt, er wisse die ernste Erscheinung nicht zu erklären. In der Agitation allein ist die Erklärung jedenfalls nicht zu suchen. ES ist vielmehr unverkennbar, daß das Volk in den letzten zehn Jahren viel fach von oben her irre gemacht, daß ihm Anlässe zur Kritik gegeben worden sind, wie sie dem sicheren monarchischen Gesühle vordem ferne gelegen. Der großstädtische Zeitungsleser — und manchmal auch Zeitungsschreiber — vergißt leicht Dinge, die sich bei dem weniger zerstreuten, „schwerfälligeren" Manne auf dem Lande und in der Kleinstadt „senken". Seine Ein drücke wirken auch bei den Wahlen. Gewiß hat kein einziger, den z. B. das Verfahren gegen den Fürsten Bismarck und späterhin dessen Charakterisirung als minderwertbige Kraft, den die wiederholte Gegenüberstellung von Edlen und Unfreien geschmerzt, am Donnerstag einen socialdemo kratischen Stimmzettel abgegeben. Weggeblieben von der Wahl sind gewiß viele der so Gesinnten. Bei zahl losen Wählern geht aber das Befremden und der Schmerz in eine für immer weiter gehende Kritik empfängliche Stimmung über, eine Erfahrung, die sich die Socialdemokratie zu Nutze zu machen weiß. In der Wahlagitation hat sie sich in der Lage gesehen, bei vorsichtiger Vermeidung jeden CommentarS und durch einfache Wiederholung von Worten aus hohem Munde ihrer Sache zu dienen. Auch nach dieser Richtung liegt die Möglichkeit der Abhülfe nur in der Erkenntniß, und deshalb wäre es nicht berechtigt, mit den gemachten Beobachtungen hinter dem Berge zu halten. Die Sammlung fordert von Allen, die sie wollen, Opfer, und werden sie gebracht, dann werden die jetzigen Erfolge der Socialdemokratie eine Episode ge wesen sein. Deutsches Reich. TrcSdcu, 20. Juni. Herr Rechtsanwalt I)r. Haeckel richtet „an alle Reformer und Anhänger der deutsck socialen Reform Partei im 5. Wahlkreise" folgende Aufforderung: „Man hatte mir die Ehre zu Theil werden lassen, während des Wahlkampfes vor den Hauptwahlen die öffentlichen Ver sammlungen der Neformpartei im V. Wahlkreise zu leiten. Ich habe dabei zu meiner lebhaften Freude immer die Zustimmung nicht nur seitens unserer Parteigenossen, sondern auch anderer vaterlandstreuer Anhänger gefunden. — Nachdem unsere Candidaten in ehrenvollem Kampfe unterlegen, halte ich es für meine Pflicht als guter Reformer, als wahrer Patriot, wie ich solches während der Wahlversammlungen in unserem, wie im gegnerischen Lager wiederholt gethan, wie ich solches insbesondere auch noch nachdrücklichst am Fenrllrtoi». Wenn Lie Kirsche reift. Von Paul Geiser. Nachdruck verboten. „Die Lust der Knaben und der Vögel", nennt Hahn unsere schöne Sommerfrucht. Die Bezeichnung ist nicht nur hübsch, sondern auch treffend; und es ist wohl von Interesse, zu fragen, woher denn eigentlich die ganz besondere Vorliebe unserer Jugend für die Kirsche sich herschreibt. Vielleicht daher, daß sie die früheste aller Obstsorten ist; der Jugend pflegt ja die erste Er füllung ihrer Wünsche die liebste zu sein. Vielleicht auch spielt der Umstand eine Rolle, daß keine andere Frucht einen solchen Massengenuß erlaubt, wie die Kirsche; und daß das junge Volk auf die Quantität überall mehr Werth legt als auf die Qualität, davon weiß ja jede Mutter ein Lied zu singen. Ich persönlich halte den letzteren Grund im Vereine mit den Vorzügen des Kirschkerns für die Hauptursache der Vorliebe der Kinder für die Kirsche. Der Kirschkern hat ja für heimliche Angriffe und lustigen Krieg etwas sehr Verführerisches, und der gute Voß hat selbst seine liebliche Luise dieses beliebte Kampfmittel mit ihren weißen Fingern gebrauchen lassen: „Sie that izachlässig und schnellt' auf die Knaben den Kirschkern", also singt er von seiner Heldin. Uebrigens ist es beileibe nicht nur die Jugend, die für die Kirsche Sympathie hat. Vielmehr erfreut sie sich auch bei den Erwachsenen allgemeiner Beliebtheit, und es giebt sogar Männer, die der „Kirschensache" ihr Leben gewidmet haben. Dahin gehö.rt vor Allem der Herr von Truchseß, der im ersten Drittel unseres Jahrhundert» auf der lieblichen Bettenburg in Franken lebte und der Kirsche und ihrer Cultur eine fast leidenschaftliche Liebe widmete. Unaufhörlich war er bestrebt, neue Nachrichten über die Kirsche und ihre Zucht zu sammeln, neue Sorten zu erwerben, und diesen Bemühungen verdankt die deutsche Obstcultur einen großen Aufschwung der Kirschen zucht, die Wissenschaft aber eine umfangreiche wissenschaftliche Beschreibung, die nicht weniger als 231 Kirschensorten umfaßt. So glücklich hat sich dieser liebliche Fremdling eingebürgert. Denn ein Fremdling ist die Kirsche. Der Beginn ihrer Geschichte ist mit dem Namen eine» Mannes verbunden, der in der Historie alles Genießbaren auch sonst einen klassischen Ruf erworben hat, mit Lucullu». Lucullus, der Sieger im mithridatischen Kriege, brachte aus der Umgegend der von ihm zerstörten Stadt Cerasus an der pontischen Küste — so lautet die alte Ueberlieferung — neben anderer Kriegsbeute, die dazumal für kostbarer erachtet wurde, inzwischen aber längst den Weg alles Vergänglichen gewandert tst, auch den Ktrschbaum mit, der heute noch auf weite Strecken der bewohnten Erde lustig und herz erfreuend gedeiht. Unsere kritische Zeit hat allerdings auch diese ehrwürdige und anmuthende Ueberlieferung nicht unberührt ge lassen. Die Süßkirsche ist jedenfalls schon vor der Zeit des Lucullus in Europa bekannt und sogar wohl cultivirt gewesen. Süßkirschkerne, die in schweizerischen Pfahlbauten vorgefunden wurden, rauben dem Lucullus seinen pomologischen Lorbeer und stellen zwischen uns und unseren amphibienhaften Vor vorfahren einen ansprechenden und gemüthvollen Zusammen hang her. Auch die Sauerkirsche wird nicht, wie man später vielfach angenommen hat, als das köstliche Product des lukullischen Kriegszuges anzusehcn sein; sie scheint aus Vorderasien von den Griechen nach Europa importirt. So viel aber bleibt doch an der alten Nachricht richtig, daß Lucullus eine besonders feine Kirschensorte, und zwar vermuthlich eine Sauerkirsche, entdeckt und zuerst nach Italien gebracht hat, sowie ferner, daß auch die Kirsche, wie dir Rose und die Apfelsine, ein Kind Asiens ist. Die Sprache jedenfalls hat die Erinnerung an die Stadt Cerasus getreulich festgehalten; selbst im Slawischen, Madyarischen, Per sischen u. s. w. finden wir wie im deutschen Worte „Kirsche" den Stamm Cerasus erhalten. Dagegen ist die zweite allgemein übliche Bezeichnung der Kirsche, speciell der Sauerkirsche, die im Deutschen Weichsel lautet und sich auch im Italienischen, Französischen und Spanischen, ja selbst im Lithauischen und Neu-Griechischen wiederftndet, bisher noch unerklärt geblieben. Doch zurück zur Geschichte der Kirsche. Sie wurde in Italien bald sehr beliebt und ausgiebig cultivirt, und da sie eine ziemlich harte Frucht ist, unter Anderem auch am Pontus an kalte Winter gewöhnt war — Plinius sagte sogar, daß Kälte ihr Vergnügen mache —, so drang sie auch schnell nach Norden vor. Bald finden wir sie in Britannien, in den Ländern nördlich der Alpen, und heute gedeiht sie selbst bis ziemlich hoch in Norwegen. Ja, sie ist in diesen alten Barbarenländern schöner und aromatischer geworden, als es ihr je bei den Römern ge lungen ist. So dürfen wir die Kirsche jetzt als eine specifisch nordisch« Frucht in erster Linie ansprechen, und gerade Deutsch land kann sich einer großen Zahl trefflicher Kirschgegenden rühmen. Es sei nur an das Alte Land bei Hamburg erinnert, wo je vier Stämme 600 bis 1000 Kilogramm Kirschen im Jahre zu tragen pflegen, an Werder, die Kirschkammer Berlins, an die Bergstraße, das bayerisch« Franken u. s. w. Außerhalb Deutschlands sind besonders Tirol und die Schweiz, Nordholland und Gelderland, Grenoble und Montmorency, endlich Dalmatien und die englische Grafschaft Kent als hervorragende Kirsch bezirke zu nennen. Wie auf unserem Boden, so hat auch in unserem Geistes leben die Kirsche schon seit dem frühen Mittelalter festen Fuß gefaßt. Besonder» die Dichter haben alle Eigenschaften der Kirsche für da» poetische Arsenal geplündert. Da ist der Kirschenmund, die Kirschenlipp«: Zwei frische «irschenlippen taugen Mehr al» «in schwer Gespräch zur Lust. (Deibel.) Der manchmal ganz realistische Jean Paul dichtet einer Schönen sogar eine Kirschenwange an. Noch deutlicher aber künden populäre Ueberlieferungen, wie fest sich die Kirsche in die Neigung des deutschen Volkes eingeschmeichelt hat. Da haben wir das bekannte, schon bei Boncr auftreicnde Sprich wort, daß mit Herren nicht gut Kirschen essen ist: Wv mit ihn Hirsen essen Wil, Dem wcrsent sie ver Kirsen Stil In die Augen. Dazu tritt eine Reihe lieblicher Kirschensagen. Wer an St. Barbara's Tag einen Kirschenzweig kauft, in Wasser setzt und früher oder schöner zur Blüthe bringt, als die, die mit ihm das Gleiche gethan, der darf Glück erwarten. Auch wird von dem Kirschbaum erzählt, daß er zu Ehren des Weihnachts wunders zuweilen in der kalten Christnacht blühe, und daß er viele Früchte bringe, wenn man ihn an die stille, heilige Nacht erinnere. Von der blühenden Kirsche im Winter wissen auch sonst allerlei Sagen zu berichten, und zweifellos verdankt die Kirsche diese Beachtung seitens der Volksphantasie dem uner schöpflichen Reize, den sie zur Zeit ihrer Blüthe bietet, wenn sie mit dem weißen Blüthenschnee Uber und über beschüttet aus dem mailich lachenden Grün hervorleuchtet. Da, wo sich die Kirsche in größerer Menge findet, ist deshalb die Zeit der Kirschenblllthc auch eine Zeit der besonderen Freude. So bildet Werder bei Berlin zur Zeit der Kirschblüthe das Ziel von Tausenden und aber Tausenden, die dort von den Hügeln des lieblichen Havelstädtchens den Blick auf das wogende weiße Blüthenmeer genießen. Noch ausgebildeter charakterisirt sich die Zeit der Kirschenblüthe als ein Volksfest in Japan, speciell in Tokio, wo, wie Adolf Fischer erzählt, das festlich geputzte Volk in Schaaren nach dem Ugenopark und nach allen Orten, wo Kirschbäume in großer Anzahl prangen, hinströmt, sich an Ge dichten erfreuend, Dithyramben auf die Schönheit und Güte der Natur. Nun ist aber auch der japanische Kirschbaum, der, nebenbei gesagt, keine eßbaren Früchte trägt, ein zwei- bis dreimal so großer Baum, als sein europäischer Bruder und zur Blllthezeit von einer berückenden Pracht. Die Schulkinder, Knaben und Mädchen ziehen mit Fahnen auf die von einem Blüthenmeer um rahmten Plätze, um dort Spiele zu treiben. Farbige Ballons, Drachen, Schmetterlinge flattern in den Lüften, während die lustigen Kleinen in ihren malerischen farbigen Trachten, mit den fliegenden Hängeärmeln des Kimono, selbst einer Schaar bunter Schmetterlinge gleichen. Auch die Alten ziehen hinaus und lagern sich unter den blühenden Bäumen, in deren Schatten Strohhäuschen errichtet sind. Aus zierlichen Täßchen Thee oder Sake (Reiswein) trinkend, essen sie graziös mit ihren Hassi (Eßstäbchen) Reis oder Zuckerzeug, das ihnen auf blitzblanken Lacktassen servirt wird. Ist dann die Zeit der Reife gekommen, so wird die Kirsche speciell in ihre Eigenschaft als das früheste Obst von Neuem Veranlassung zu einer Festzeit, und in der alten Bischofsstadt Naumburg heißt sogar das beliebteste Volksfest das „Kirschen fest". Die Sage weiß ja dafür eine allerliebste Erklärung. Sie erzählt von dem grimmen Hussitenführer Prokop, der die un glückliche Stadt in Grund und Boden verderben wollte. Da schickten ihm die Naumburger ihre Kinder hinaus, ihn zu er weichen. Und der harte Mann ließ sich in der That durch das Flehen der Unschuldigen beschwichtigen und sandte sie, reich mit Kirschen beschenkt, zu den ängstlich harrenden Eltern heim. Danach, so meldet die Sage, heiße das der Erinnerung an jene Begebenheit gewidmete Fest noch heute das „Kirschenfest". Leider meldet die Historia, das Prokop nie vor Naumburg gestanden hat; ob der allerdings nachweisbare Angriff anderer Hussitenhaufen auf die Stadt Anlaß zu der Erzählung gegeben hat, muß da hingestellt bleiben. Was wohl auch dazu beigetragen hat, der Kirsche die allge meine Sympathie zu erwerben, das ist ihre Dankbarkeit. Sie stellt nicht zu große Ansprüche und ist auf der anderen Seite mannigfacher Verwcrthung zugänglich. So wird in der Schweiz aus dem Ueberfluffe der Kirschernte das Kirschwasser hergestellt, jenes Getränk, dessen Schärfe seinen Genuß eigenlich nur bei ermüdeten Alpentouristen legitimirt. Ein Seitenstück hierzu ist der weltberühmte Maraschino, der in Dalmatien, Triest und Venedig aus der Sauerkirsche, der marasos, destillirt wird, und als ein Liqueur von hervorragender Feinheit des Geschmackes bezeichnet werden muß. Verwendbar ist ferner vielfach das Holz des Kirschbaumes. So gebraucht der Möbeltischler gern das glänzende und harte Holz des Vogelkirschbaumes, das durch Beizen dem Mahagoni recht ähnlich gemacht werden kann und in dieser Behandlung besonders vor einem Menschenalter bei uns sehr beliebt war. Das Holz der im 16. Jahrhundert aus Arabien nach Europa eingeführten Felsenkirschen (Mahaleb) zeichnet sich durch einen angenehmen Wohlgeruch aus und wird daher gern zu Pfeifenrohren, Schnupftabakdosen und dergleichen verwandt. Der Hauptsitz dieser Industrie sind die Vogesen und speciell das Kloster St. Lucie bei Michol. Die Hauptcultur der Felsenkirsche aber zum Zwecke der Erlangung ihres wohlriechenden Holzes befindet sich in Baden bei Wien, wo man jährlich 400 000 gerader, möglichst ästeloser Stämme schneidet, aus denen nicht weniger als 2 Millionen Pfeifenrohre hergestellt werden. So eröffnet die Betrachtung der äußerlich so unscheinbaren Frucht ihrer Geschichte und Cultur gar mannigfache Ausblicke in die verschiedensten Gebiete des Menschen- und Völkerlebens. Dürfte da die Liebe fehlen? Auch sie will der Kirsche wohl; „Kirscken brechen" ist ein altes Wort, das dieselbe Bedeutung hat, wie „Rosen brechen" und heimlichen Liebesgenuß meint. Und im gleichen Sinne haben die Dichter aller Nationen gar oft den Kuß der Schönen oder ihre Liebesgunst als eine lockende Kirsche bezeichnet, die man sich nicht entgehen lassen dürfe. Kann «die Kirsch« ein größeres und zarteres Cvmpliment verlangen?
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