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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.04.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-04-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960424026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896042402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896042402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-04
- Tag1896-04-24
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Reclameu unter dem Redactionsstrich (4ge- spalten) 50^, vor den Familiennachrichlen (6 gespalten) 40/^. Gröbere Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Zifferniatz nach höherem Tarif. Extra-veUagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbrsörderung 60—, mit Postbrsörderung 70.—. Annahmeschluk für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Lormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen find stets an dir Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 9V. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 24. April. Im Reichstage scheinen sich jetzt die maßgebenden Parteien definitiv dahin geeinigt zu haben, vor Pfingsten noch aufzu arbeiten, was aufgearbeitet werden kann, und dann eine Vertagung bis gegen Ende September eintreten zu lassen, um dann den Rest, in erster Linie das Bürgerliche Gesetz buch, zu erledigen. Die „Nat.-Lib. Corr." meldet nämlich heute: „Die in der Presse aufgetauchte Behauptung, man strebe einen baldigen Abschluß der Reichstags verhandlungen auf die Gefahr hin an, daß „nichts" fertig werde, ist unbegründet. Im Gegentheil liegt dem Gedanken, im Mai eine Vertagung bis zum Herbst eintreten zu lassen, die Annahme zu Grunde, daß die vorliegenden Wirthschasts - gesetze einschließlich desBörsengesetzeS, auf dessen Znstande- tommen in dem gegenwärtigen Sessionsabschnitt die Regierungen den größten Werth legen, vor Pfingsten ferliggestellt werden tonnen. Daß der Reichstag zur Plenarberathung des Bürger lichen Gesetzbuches, das bis dahin in der Commission sehr Wohl erledigt sein kann, in der sommerlichen Zeit nach Pfingsten wieder zusammentrete, wird mit Grund nicht als zweckdienlich erachtet. Man dürfte sich dahin schlüssig machen, das Bürgerliche Gesetzbuch gegen Ende September in einer lediglich dieser Arbeit gewidmeten kurzen Sitzungsperiode zu Ende zu bc- rathen und dann den Sessionsschluß folgen zu lassen." Kurz wird diese Sitzungsperiode schwerlich werden, denn es ist eine alte Erfahrung, daß die Aussicht auf einen späteren Tagesabschnitt die Abgeordneten säumig und serienlüstern macht. Es wird also für den Herbst noch so viel Arbeits material übrig bleiben, daß die Sitzungen weit über die er hoffte Frist sich hinziehen. Man wird sich aber damit absinden können, wenn nur die Aussichten auf das unver kümmerte Zustandekommen des Bürgerlichen Gesetzbuches sich Keffern. Und eine solche Verbesserung der Aussichten scheint das Centrum durch seine gestern besprochenen Anträge zum Eherecht hervorgebracht zu haben. Diese Anträge stoßen auch bei den Conservativen auf entschiedenen Widerspruch und schwächen sichtlich den Eifer ab, mit dem die Gesinnungsgenossen der „Kreuzzeitung" Stim mung für die facultative Civilehe zu machen suchten. So schreibt die „Kreuzztg.": „So viel dürfte sich wohl ergeben, daß weder evangelisch-dogmatische noch kirchliche Gründe zwingend eine Aenderung des bestehenden rechtlichen Zustandes fordern, sondern daß nur Rücksichten auf gewisse, noch mit der obligatorischen Civilehe verknüpfte Mißstände und Miß verständnisse es sind, die in weiteren Kreisen des Volkes den Wunsch nach einer Aenderung des gesetzlichen Zustandes haben taut werden lassen." Das klingt ganz so, als sollte der conservative Ansturm gegen die obligatorische Civilehe auf gegeben werden. Wenn man sich der Hoffnung hingegeben hatte, das un freiwillige ^Ausscheiden des ehemaligen Redacteurs der „Kreuzztg.", Freiherrn v. Hammerstein, aus dem politischen Leben, werde die preutzischcn Conservativen einer Ab wendung vom Centrum und einer Wiederannäherung an die Mittelparteien geneigter machen, so sieht man sich in dieser Hoffnung durch die Vorgänge in der vor gestrigen Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses gründ lich getäuscht. Enger als je schlossen sich in dieser Sitzung Conservative und Centrum zusammen und schroffer als je standen sie den Mittelparteien gegenüber. Ein so rücksichts loses Verhalten der Mehrheit gegen die Minderheit, wie es bei dieser Gelegenheit von beiden Fractionen beliebt worden ist, steht in der Geschickte dieser parlamentarischen Körperschaft beispiellos da. Wenn ihr Gerechtigkeitsgefühl nicht stark genug dazu gewesen ist, so hätte die Klugheit die beiden Parteien verhindern müssen, eine innerliche schwache Position durch die Weigerung, die Gegner zu hören, auch äußerlich als eine solche zu kennzeichnen. Im An schluß an das Lehrerbesoldungsgesetz hatten die Verbündeten bekanntlich die Resolution beantragt: „Die königliche Staatsrezierung zu ersuchen, dem Landtage baldigst ein allgemeines, auf christlicher und konfessioneller Grund lage beruhendes Volks schulgesetz vorzulegen." Diese Resolution kam in sehr später Stunde (es war fast Vr4 Uhr) zur Verhandlung. Die conservative Partei legte ihr eine solche Bedeutung bei, daß sie trotz dieses Umstandes namentliche Abstimmung beantragte. An erster Stelle kam der national liberale Führer, Abg. Hob recht, zu Wort, den die Conser vativen, obgleich er die Resolution überaus maßvoll bekämpfte, schon nicht mehr mit der gebührlichen Ruhe anhören zu müssen glaubten. Herr Hobrecht, der unwidersprochen die Auffassung kundgab, daß die Resolution nichts Anderes wolle, als den Zedlitz'sch en Schulgesetzentwurf, empfahl die An nahme des freiconservativen Antrags, der Resolution hinzu- zusügen: „unter Abstandnahme von den zur Erreichung dieses Zieles nicht erforderlichen, mit der Staatshoheit unverein baren Vorschlägen des Entwurfs von 1892." Nachdem hierauf der conservative Abgeordnete Bartels die Reso lution begründet und der Cultusminister vr. Bosse eine Reve gebalten hatte, die zum Gegenstand einer Erörterung zu machen für die Minderheit ein Bedürfniß sein mußte, halte die Sitzung 5'/r Stunden gewährt, eine Dauer, die im preu ßischen Abgeordnetenhause nahezu unerhört ist. Der Ab geordnete von Eynern stellte nunmehr einen Vertagungs antrag mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß die späte Stunde den Minderbeitsparteien die ausreichende Begründung ihres abweichenden Standpunctes nicht gestatte. Dieser Ver tagungsantrag, sowie zwei folgende wurden nicht nur ab gelehnt, sondern man machte auch alsbald der Discussion durch Annahme eines Schlußantrags ein Ende. Auf diese Weise war die nationalliberale Partei außer Stand gesetzt, die Ausführungen des Ministers, der Conservativen und des Centrums, das durch den Abgeordneten vr. Porsch zu Worte gekommen war, zu beleuchten. Sie war mundtodt gemacht in einer Frage, der die Mehrheitsparteien selbst durch ihren Antrag aus namentliche Abstimmung eine Hobe Be deutung zuerkannt hatten, und verzichtete darauf, ein Votum abzugeben, dessen Begründung man ihr verwehrt hatte. Der moralische Gewinn ist auf ihrer Seite geblieben, denn das Verhalten der Mehrheit drückt die Furcht der größeren Zahl vor dem Gewichte der stärkeren Argumente aus. Diese stärkeren Argumente werden nun zwar das preußische Ministerium sicherlich davon abhalten, durch Zurückgreifen auf die Zedlitz'sche Vorlage die Kämpfe von 1892 wieder aufleben zu lassen, aber zweifellos wird das Verhalten der Conservativen des preußischen Abgeordneten hauses gegen die Mittelparteien von ungünstigem Einfluß auf die Beziehung der drei Parteien im Reichstage auSüben, und das ist das Beklagenswertheste an den Vorgängen im preußischen Abgeordnetenhaus-. Als der Präsident der französischen Deputirtenkammer von dem demissionsbereiten Bourgeois um Mitternacht aus der Oper gerufen wurde, um schleunigst die Kammer zu be rufen, erklärte er, in seiner ganzen parlamentarischen Carriöre sei ihm eine so confuse Situation noch nicht vorgekommen. Damit ist die Lage nur zu treffend charakterisirt. Volle Klarheit wäre geschaffen worden, wenn die Deputirtenkammer sich gestern mit dem Senat auf den Wortlaut der Verfassung gestellt hätte und das Ministerium Bourgeois ohne Sang und Klang hätte gehen lassen. Damit hätte die Mehrheit der Volksvertretung kund gegeben, daß sie nicht gewillt ist, auf den mäßigenden, retardirenden Einfluß des nicht aus allgemeinen Wahlen bervorgegangenen Senats zu verzichten, daß sie das Heil dcS Staates m ruhiger, lang samer, organischer Entwickelung erblickt und von der Aus lieferung der Gewalt an die von dem radikalen Fortschritt beherrschte, direct vom Volke gewählte Deputirtenkammer den Uebergang zum allgemeinen Umsturz erwartet. Statt dessen hat die Kammer sich auf Seite des Ministe riums gestellt und zu versieben gegeben, daß dem Senat so gut wie keine politische Bedeutung zukomme, daß er sich lediglich mit der Rolle eines konstitutionellen Schaustückes zu begnügen habe. Anders läßt die Tagesordnung: „Die Deputirtenkammer betont von Neuem die Vorherrschaft der Erwählten des allgemeinen Stimmrechts und ihren Entschluß, eine Politik demokra tisch er Reformen zu verfolgen" nicht auffassen. Das Erstereistdienotbwendige logische Consequcnz des Letzteren, wenigstens in Frankreich; denn die Durchführung solcher Reformen, die in Frankreich stets social- radicaler Natur sein werden, ist undenkbar ohne die Be seitigung des Senats. Aber hier zeigt sich, wenn man das AbstimmungSergebniß näher ansieht, die Confusion. An wesend waren nicht unter 551 Abgeordnete. Von Viesen stimmte die bedeutende Mehrheit von 417 gegen 37 für eine Politik demokratischer Reformen, wobei sich 97 Abgeordnete der Ab stimmung enthielten, für daS Votum gegen den Senat fanden sich nur 309 wider 38 Stimmen bereit, wobei die Zahl der Stimmentkaltungen auf 204 stieg. Daraus «rgiebt sich, daß die überwältigende Mehrheit der Kammer in der Betonung des demokratischen Princips, im speciellen Falle in der Betonung des radikal - demokratischen Princips einig ist, daß aber eine bedeutende Minderheit die Consequenz eines radikalen Vorgehens gegen den Senat iu praxi nicht zu ziehen wagt, daß man mit der radikal-demokratischen Phrase, daß man mit Socialismns und Anarchismus spielt, daß man aber vor den Consequenzcn dieses Spielens mit dem Feuer zurückschreckt, ohne freilich verhindern zu können, daß sie doch über kurz oder lang einlreten. Mindestens ist ein großer Theil der Deputirtenkammer sich über sein Verhalten dem Ansturm des radikalen Fortschrittes gegenüber noch immer nicht klar, wie dies ja auch die Signatur der Kammersitzungeu während der letzten fünf Monate war, wo die Minorität ziel- und haltlos zwischen Opportunismus und Radikalismus hin uud herpendelte. Ueber die namentliche Schlußabstimmung liegen uns folgende Meldungen vor: * Paris, 23. April. Deputirtenkammer. Die Tages ordnung Ricard's wurde mit 258 Stimmen angenommen. Dagegen stimmte Niemand. (Beifall.) Mehrere Anträge, betreffend Versassungsrevision, wurden eingebracht und einer Com mission überwiesen. Hierauf wurde die Sitzung geschlossen und die nächste auf Dienstag anberaumt. — Ricard, dessen Tages ordnung angenommen, ist nicht der Justizminister, sondern der Deputirte des Oüte ck'or. * Paris, 24. April. (Telegramm.) An der endgiltigen Abstimmung der Deputirtenkammer über die Tagesordnung Ricard's, welche mit258 Stimmen gegen keineStimme angenommen wurde, nahmen die gemäßigten Conservativen nicht Theil. Da fest gestellt wurde, daß das Haus während der Abstimmung nicht beschlußfähig war, so wurden die Unterzeichner des Antrags bei der NamenSabstimmung als anwesend und das Ergebniß der Ab- stimmung als rechtsgiltig erklärt. Bei der Gesammtabstimmung ist also die Zahl der Nicht stimmenden noch bedeutend über 200 gestiegen, ja es ist noch fraglich, ob der Beschluß zu Reckt besieht, va das HauS — charakteristisch genug — plötzlich beschlußunfähig war. Nimmt man noch hinzu, daß um ein Haar der Antrag Lebon, die Be- rathung zu vertagen, angenommen worven wäre (es standen 283 gegen 268 Stimmen), so darf man constatiren, daß die Deputirtenkammer dem radikalen Cabinet das Ver trauen nur mit Zittern und Zagen, jedenfalls nickt mit gutem Gewissen, votirt bat. Die Signatur der Lage bleibt der politische Wirrwarr, und den wird auch die Bildung eines neuen Cabinets nicht beseitigen. Ueber die Stimmung, welche der Beschluß der Kammer in Paris bervor- gerufen hat, und über die Combinationen, welche sür die nächste Zukunft erwogen werden, wird uns Folgendes gemeldet: * Paris, 24. April. (Telegr.) Tie Berathung der Minister im ElysSe war nur von kurzer Dauer. Präsident Faure nahm die Demission des Cabinets an und wird die Berathungen betreffs Bildung des neuen Ministeriums aufnehmen. — In den Kammer- couloirs herrscht die Ansicht vor, Präsident Faure müsse infolge des Kammervotums zu einem radikalen Cabinet greisen, eine Combination Peylral-Sarrien wird mehrfach sür wahrscheinlich bezeichnet. * Paris, 24. April. (Telegramm.) Ti« Blätter constatiren einstimmig, daß der gestrige Beschluß der Kammer den Conslict auf das Aeußerste zuspitzt. Die Socialisten und Radikalen behaupten, der Beschluß begreife in sich die Einsetzung eines rein radikalen Cabinets mit Hoblet, Brisson oder Pchtral an der Spitze und mit der Revision der Verfassung als Grundlage seiner Politik. Die Republikaner greisen Len Beschluß an, welcher ankündigt, daß die Majorität der Kammer dem Senate den Krieg erklären wolle, und meinen, nur ein Cabinet des Widerstandes gegen die Radikalen sei möglich, sonst müsse die Auslösung der Kammer erfolgen. Tie Conservativen halten die Lage des Staatsoberhauptes sür sehr schwierig und fassen eine eventuelle Präsidentenkrise ins Auge, welche der Vorläufer des Sturzes der Republik sein würde. * Paris, 24. April. (Telegramm.) Die Socialisten und Radikalen äußern laut ihre Befriedigung über den Beschluß der Kammer; viele erklären, Goblet müßte auf Grund des Beschlusses der Kammer mit der Bildung des Cabinets betraut werden. Die beklagenswertheste Rolle spielt inmitten der graus vurcheinanderfluthenden Wogen der Präsident der Republik, welchem die Aufgabe obliegt, Ersatz für das Cabinet Bourgeois zu schaffen. Hält er sich stricte an den Wortlaut der Verfassung, so muß er ein sogenanntes Versöbnungscabinet berufen. Der Senat Hal das Cabinet Bourgeois gestürzt, deshalb muß ein Theil der neuen Minister den Kreisen der „Reaktionaire" entnommen werde», die Kammer hat dem radikalen Bourgeois ihr Vertrauen ausgesprochen und so muß auch die die Kammer führende radikale Linke berücksichtigt werden. Aber gerade jetzt ein Versöhnungsininisterium! Nicht zwei Tage würde es im Amte sein. Eine zweite Möglichkeit wäre die Bildung eines gemäßigt-radikalen Cabinets, das wäre aber nur die Fortsetzung des bisherigen Systems, wobei blos die Namen wechselten, und hieße, den Conflict in Permanenz erklären, vorausgesetzt, daß der Senat nicht abermals zu Kreuze kriegt. Immerhin ist, da Der Roman einer Schwiegermutter. Fräulein I. de Saint-Aignan*) nacherzählt von H. Semmig. 1) Nachdruck verboten. Wir haben uns in eine Zeit zu versetzen, die noch gar nicht zu fern hinter unS liegt, die aber ein ganz eigenthüm- licheS, uns fremdartig anmuthendes Gepräge trägt, in die ersten Jahre dcS ersten französischen Kaiserreiches. Es war im Sommer des Jahres 1807, an einem jener heißen Juni abende, die die Pariser Bevölkerung unwiderstehlich aus ihren erstickenden Wohnungen herauSzulocken scheinen; ein junger Mann, mit Eleganz nach jener steifen, den Körper zusammen schnürenden Mode gekleidet, die uns heute so lächerlich vor kommt, ging langsamen Schrittes die Quais des linken Seine- uferS entlang dem Pont-des-Arts zu. Von Zeit zu Zeit kehrte er sich um und betrachtete die zahlreichen Equipagen, die die Chaussee binabrollten, mit lenem naiven Erstaunen, das sich unwillkürlich in den Blicken eines Jeden malt, der zum ersten Mal in die Große Stadt kommt. Nichtsdestoweniger und trotz dieses stummen Be kenntnisses seiner Herkunft auS der Provinz zeichnete sich der junge Mann durch die feinen Züge seines Gesichtes, seine großen blauen, zugleich zärtlichen und lebhaften Augen und die ausnehmende Vornehmheit seiner Haltung sofort in der Menge aus, und mehr als ein schmeichelhafter Blick fiel auf ihn auS den mit neuen Wappen bemalten Wagen, in denen sich die Schönheiten der Tagesmode bräisteten. WaS unfern einsamen Spaziergänger der Aufmerksamkeit der nachlässig in ihren eleganten Landaus hingestreckten Schonen besonders bemerkenSwerth machte, war das anniuthig geschmeidige Wesen, das in seiner Haltung, seinem Gange wie in seiner ganzen Person lag, ein gewisses Sichgehenlassen, woraus man ersah, daß fein Körper niemals durch Uniform und Exerciren zu militairiscker Steifheit gezwungen worden war. * Diese Dame, die wir 1855 persönlich kennen gelernt haben und die vor mehreren Jahren gestorben ist, bewohnte ein Schloß südlich von Nantes nahe der VenLSe, ihre Schriften gehörten also der viel verkannten sranzösischen Provinzliteratur an. In unserem Buch» „Fern von Pari«" haben wir schon zwei Novellen dieser geistreichen Schriftstellerin mitgetheilt. Fräulein I. de Tt.«Aignan war die Cousin« dr« General« Lamoricitr«. H. S-. Gerade in jener Zeit war bei der gebieterisch drängenden Lage und dem System der Regierung ein junger Mann von Stande, der nicht die Uniform irgend eines Regiments trug, das Seltenste, WaS man sehen konnte. Die Frauen der vornehmen Gesellschaft lebten in einem glänzenden Kreise von Stickereien, goldenen Epauletten und funkelnden Ehrenzeichen; aber wenn sich auch der Kriegsruhm zuweilen zu Tändeleien herabließ, und wie leicht es auch mancher jugendlichen Phantasie wurde, m jedem Krieger, der sich willig von schönen Händen entwaffnen ließ, einen Rinaldo zu erblicken, so waren doch manche Charaktere, die die Veränderung lieben, die beständige Wiederholung derselben Bewunderung, derselben Angst, viel leicht auch derselben Abwesenheit zuletzt recht müde. Dieser junge Mann hieß Maxence d' Arton. Er hatte seinen Vater während der Emigration und seine Mutter erst vor wenigen Monaten verloren. Jung, Herr eines mäßigen, aber immerhin anständigen Vermögens, das Frau d'Arton mühsam aus den Trümmern eines beträchtlichen väterlichen ErbeS gesammelt hatte, empfand Maxence, der nun allein auf der Erde zurückgeblieben war, eine so schmerzliche Leere, ein so grausames, bittres Gefühl der Verlassenheit, daß es ihm unmöglich war, auf dem ruhigen Landsitz zu verbleiben, den sonst die Sonne der mütterlichen Liebe erwärmt, in den er bis hierher sein Leben, sein Glück und seine Hoffnungen eingescklossen hatte. Seine eigenen Grundsätze sowie die seiner Familie hielten ihn ab, im Lärm der Lager und dem Getümmel der Schlachtfelder die mächtige Aufregung zu suchen, die ihn in seiner traurigen Stimmung hätten zer streuen können. Er beschloß also nach Paris zu geben und sich dort in den Vergnügungen der großen Welt nicht den Trost, den sie nicht geben können, aber wenigstens jene Be täubung zu holen, in der man daS Vergessen der Vergangen beit und die Sorglosigkeit um die Zukunft findet. Ge stützt auf seinen Namen, auf einige alte Freunde und eine bejahrte Tante, die Marquise de Cbalantzay, die. Dank zahlreichen einflußreichen Bekanntschaften und einem sehr originellen Charakter, die Revolution obne Be unruhigung durchlebt und Paris seit sechzig Jahren nicht verlassen hatte, sah sich Maxence, der erst seit einigen Tagen angekommen war, in recht angenehmen Verbält- nissen. Gerade im Augenblick, wo wir ihm begegnet sind, begab er sich zu einem Stelldichein der ganzen eleganten Jugend, um einige neue Freunde zu treffen, die ibm den Gefallen tbun wollten, ihn in die Thorheiten ihre« Alt«rS einzuweiben. Dieses Stelldichein war der Pont-deS-Arts, der erst vor Kurzem dem Verkehr übergeben worden war. Es war Mode in der feinen Gesellsckaft, hier die frische Seineluft einzu- athmen und die gute Musik an,»hören, die von den in Paris in Garnison siebenden Regimentern zum Besten gegeben wurde. Das Geländer der Brücke war mit Hortensien besetzt, einer damals noch neuen und seltenen Blume, deren Name eine anmuthige Erinnerung jener in dieser Hinsickt so wenig fruchtbaren Zeit zurückruft. Umsonst bemühte sich Maxence, seine Freunde aus der dichten Menge herauszufinden; er lehnte sich auf das Geländer und blickte umher, aber kein bekanntes Gefickt tauchte vor ihm auf. Nach einiger Zeit nahm ibn der Zauber der Musik gefangen. Diese Klänge, denen das ferne Echo der lärmenden Stadt und das Gemurmel des Flusses einen neuen harmonischen Reiz liehen, weckten unmerklich in ihm wieder Erinnerungen an eine Ver gangenheit, deren Bild sein neues Leben noch nickt aus seinem Herzen hatte verwischen können; an jene Tage der Ruhe, die er schmerzlich als die glücklichste Zeit seines Lebens vermißte; an das Glück, das er verloren hatte und das, er fühlte es nur zu sehr, die Zerstreuungen ibm nicht wieder ersetzen würden. Er wandte sich halb von der fröh lichen Menge ab, in der er sich so gänzlich einsam füblte, um sich um so ungestörter seiner wehmüthigen Träumerei zu überlasten. Indem er sich so abkehrtc, bemerkte er neben sich zwei Damen in Trauerkleidern; die eine batte, um die frische Luft besser einathmen zu können, den langen Wittwenschleier, der ihren Kopf bedeckte, aufgehoben und ließ ein reizendes Gesicht sehen, das von zwei sckwarzen, sanflblickenden Sammet augen beseelt ward. Einige Sckritte davon schien ein Livree- bedienter die Befehle dieser Damen zu erwarten, deren Toilette, trotz der ernsten Trauertracht, Eleganz und Reick- thum ankündete. So wehmüthig gestimmt er war, konnte sich Maxence doch nicht enthalten, die Schönbeit der jungen Frau zu beobachten, und folgte allmählich mit immer aufmerksamerem Auge allen Bewegungen seiner reizenden Nachbarin. Er versuchte, einige der von den Damen leise gewechselten Worte zu «rbaschen, um ihren Namen, ihre Wohnung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu errathen. Aber er konnte nichts verstehen, außer daß die jüngste die ältere ihre Mutter nannte unv dies« wieder ihrer Begleiterin den süßen Namen Antonine gab. Nach einer halb«n Stunde, während welcher Letztere nur der Musik zu lauschen und die Ausm«rksamk«it, mit d«r Maxence sie betrachtet«, nicht zu bemerken schien, schickten sich die beiden Damen zum Fortgehen an und wandten sich, immer von ihrem Bedienten begleitet, dem reckten Ufer der Seine zu. Der junge d'Arton folgte ihnen in einiger Ent fernung nach, sah sie in einen einfachen, aber eleganten Wagen steigen und füblte sich, nachdem er sie aus den Augen ver loren batte, weniger als je aufgelegt, seine lärmenden Gefährten aufzusuchen. Am andern Tage kam er wieder zum Pont-des-Arts. Sein Herz klopfte gar stark, während er sich fast ängstlich bemühte, unter den Spaziergängern seine Nachbarinnen wiederzusinde». Er fürchtete, daß die bezaubernde junge Frau, deren so lieb liches Gesicht in seine Erinnerung eingegraben war, wie eine anmuthige unfaßbare Erscheinung verschwunden sei; aber bald erblickte er sie wieder an derselben Stelle und schlick sich schnell hinter sie. Eine fast unmerkliche Bewegung der jungen Frau, eine andre entschiedenere, die aber eine sichtbare Unzufriedenheit ausdrückte, von Seiten der Mutter bewiesen Maxence, daß er Tages vorher mehr, als er glaubte, bemerkt worden war. Auch zeigte das unruhige Atbemholcn, eine gewisse Verlegenheit im Benehmen und eine schlecht verhehlte Aufregung, daß die schöne Antonine die Blicke ihres jungen Nachbarn durch ihren dichten Schleier hindurch auf sich ruben fühlte. Plötzlich verursackte die Verhaftung von ein paar Spitz buben, die ebenfalls den schönen Abend benutzten, um ihr Geschäft zu betreiben, eine lärmende Aufregung in der Menge. Man vernahm einen Krach und glaubte, die Brücke würde einbrechen. Ein panischer Sckrccken ergriff die Spazier gänger; die Frauen schrieen, einige wurden ohnmächtig, und es entstand ein Menschengewoge, wie wenn das Meer an fängt Wellen zu schlagen. Beim ersten Lärm war Maxence zu den beiden Damen getreten; schnell bot er seinen Arm an, den man obne Umstände annabm, und brach sich, während er dabei seine Schützlinge, die sich ängstlich an ihn drängten, zu beruhigen suchte, einen Durchgang durch die bestürzte wogende Menge. Al« es ihm endlich mit Hilfe deS schweig samen Dieners gelungcn war, unbehindert das Nordente der Brücke zu erreichen, führte er die beiden Damen z» ihrem Wagen und verabschiedete sich ehrfurchtsvoll von ihnen, nach dem er sich als Belohnung für den kleinen Dienst, den er ihnen erwiesen hatte, den Namen seiner schönen Gesell schafterinnen erbeten batte. Auf diese Weise erfuhr er, daß die junge Frau die Baronin Martial und ihre Mutter Madame de Lubersac hieß und daß sie in der Straße Saint-HonorS wohntrn; die jung.
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