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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.09.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-09-15
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980915021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898091502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898091502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-09
- Tag1898-09-15
- Monat1898-09
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Gröbere Schriften laut unserem Preis- vcrzrichniff. Tabellarischer und Zissernjatz nach höherem Tarif. Eptra-Bei lagen (gesalzt), nur mit der Morgen-An-gabe. ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbrsörderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bonnitiazs 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittag- 4Uhr. vei den Filialen und Annahmestellen je eia« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet- an die Srpc-ttia» zu richten. Druck und Verlag von E. Dolz iu Leipzig, 469. Donnerstag den 15. September 1898. 92. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 15. September. Nachdem am Sedantage in kiantschau die Ocffnnng des Freihafens verkündet ist, steht ein rascher Aufschwung von Handel und Verkehr dort zu erwarten. Mit der von kauf männischer Seite dringend gewünschten Vergebung von Land zu gewerblichen Niederlassungen und Wohnhäusern wird noch iu diesem Monate vorgegangen, da die Grundzüge deS Hafen- und Stadt-BauplaneS nunmehr festgestellt sind. Inzwischen hat die Marineverwaltung nicht nur auf technischem Gebiete, sondern auch auf dem der Verwaltungs einrichtungen die Vorkehrungen getroffen, welche eine moderne kaufmännische Niederlassung großen Stiles erfordert. Von besonderer Bedeutung ist für jede HandelScolonie eine un bedingt zuverlässige, rasch arbeitende und dabei nicht eng herzig-formalistische, sondern von lebendigen kaufmännischen Anschauungen getragene Rechtspflege. Um eine solche zu sichern, ist das kaiserliche Gericht in Kiautschau ähnlich wie die Consulargerichte aus einem Juristen als Vorsitzendem und zwei bezw. vier Laien-Beisitzern zusammengesetzt. Letztere sind, wie aus Kiautschau soeben gemeldet wird, auS den Kreisen der dortigen Kauf leute und Civilbeamten bereits ernannt. Diese Laienrichter werden namentlich in handelsrechtlichen Streitigkeiten durch ihre Kenntniß der örtlichen HandelS-Usancen werthvolle Dienste leisten. Ihre Mitwirkung entspricht zugleich dem Grundsätze der Selbstverwaltung, welcher nach der Absicht der Marineverwaltung in Kiautschau auch in allen anderen Zweigen deS öffentlichen Lebens in weitestem Maße Platz greifen soll, sobald die nothwendige Anzahl angesehener kaufmännischer Clemente sich dort heimisch gemacht haben wird. Ueber den Stand der Vorbereitungen über die Mittel- land-Eanalvorlage läßt sich zur Zeit, wie die „National liberal: Correspondenz" hört, so viel sagen, daß die StaatS- regierung im Landtage bestimmt in der nächsten Session und zwar das ganze Project, die Verbindung vom Rhein bis zur Elbe, zur Vorlage bringen wird. Die Entwürfe sind seinerzeit sorgfältig nachgeprüft worden und -S stehl außer Zweifel, daß technische Bedenken insbesondere hin sichtlich der Wasserzuführung, wovon in den letzten Tagen noch zu hören war, in keiner Richtung bestehen. Was die Uebernahme der von den Eommunalverbänden geforderten Garantie anbelangt, so darf angenommen werben, daß im Laufe dieser oder der nächsten Wochen die letzten noch ausstehenden Entscheidungen vortiegen werden. Man darf wohl von der Einsicht der beteiligten Communalverbände erwarten, daß sie eS an verständnißvollem Entgegenkommen der Staatsregierung gegenüber nicht fehlen lassen. Die Förderung dieser großen Cnlturaufgabe, die in eminentem Maße bestimmt ist, Osten und Westen der Monarchie wirth- schastlich einander zu verbinden, wird ohnehin politisch noch Hindernisse genug zu überwinden haben, wie sich in den Aus lassungen insbesondere der agrarischen, principiell Canalbauten abgeneigten Blättern deutlich bekundet. Die „Germania" klagt, daß der Hilferuf der deutschen Missionare in Shantung ungehört verhalle. Die deutsche Regierung hatte zwar Anfangs energisch auf die Verfolgung der Mörder gedrungen — geschehen sei gegen diese bisher, also nach 9 Monaten, sozusagen nichts. Mißliebiges Ge sindel habe man eiugekerkert und bestraft, während die wirk lichen Mörder sich frei bewegen. Der Missionar k. Stenz schreibt, die chinesische Negierung habe die Mittel, aber sie wolle nicht. Die Seele vom „großen Messer", welche im vorigen Jahre einen Ausstand gegen die Missionare erhob und viele Kirchen und Gotteshäuser zerstörte, treibe ihr Unwesen nach wie vor. Neue Drohungen von Räubern seien offen ergangen. Die „Germ." legt unserer Negierung erneut die energische Verfolgung der Mörder unserer Missionare ans Herz. Diesem Verlangen wird man sich allseitig anschließen müssen. Wie zu erwarten war, wird es bei der Anregung der Frage einer erfolgreichen Bekämpfung des Anarchismus nicht bleiben. Wie die Berliner „Militärische und politische Corre spondenz" erfährt, werden demnächst Verhandlungen in die Wege geleitet werden, um eine internationale Ver ständigung über die denkbar nachdrücklichste Be kämpfung des Anarchismus herbeizuführcn. Sollen, so fügt die Correspondenz hinzu, diese Verhandlungen von Erfolg begleitet sein, so muß sich in erster Linie die Schweiz bereit finden, mit ihrem jetzigen Gewohnheitsrecht zu brechen, nach dem jeder Canton „frec" und selbstständig für sich vorgeht und eine cantonale Regierung von der anderen nichts weiß. Weiter schreibt die „Wiener Reichswehr", in dortigen diplomatischen Kreisen verlaute, daß aus Anlaß des Genfer Verbrechens eine internationale Conferenz behufs Einigung aller europäischen «Staaten zur Bekämpfung der Anarchisten werde eiuberufen werden. Gleich unS weist daS österreichische Blatt darauf hin. daß das Freiasyl, welches den Feinden der gesellschaftlichen Ordnung derzeit in der Schweiz gewährt werde, die strengsten Maßregeln der einzelnen Staaten illusorisch mache. Die „Köln. Volksztg." erfährt aus Berlin, der Zusammentritt einer internationalen Conferenz sei von deutscher Seite angeregt; die vorbereitenden Schritte seien bereits unternommen, eS sei kein Zweifel, daß die Einladung werde angenommen werden. Die Conferenz soll womöglich früher als die Abrüstungsconferenz zusammenlretcn. Deutscher seits werde daS größte Gewicht darauf gelegt, daß mit dem bisherigen unzureichenden Ueberwachungssystem gebrochen und das Jsolirungssystem eingeführt werde, dergestalt, daß jeder Staat die Verpflichtung übernehme, die als Anarchisten bekannten Personen in seinem Bereiche zu interniren und unschädlich zu machen. Ein solcher Vorschlag solle in erster Linie von den deutschen Vertretern gemacht werden. Voraussetzung Labei bleibt natürlich, wie wir schon mehrfach hervorhobcn, eine befriedigende Regelung der Asyl frage. Wie uns aus Petersburg gemeldet wird, bemerken die „Nowosti" und „Birz. Wiedomosti", daß eS zu den Aufgaben der Friedenskonferenz gehören müßte, auf Mittel zu sinnen, um den Anarchismus anszurotten. Unterdessen gehen die Schweizer und die italienischen Behörden scharf gegen die Anarchisten vor. So berichtet man uns: * Wien, 15. September. (Telegramm.) Die „Neue Freie Presse" meldet au- Genf: Bisher wurden 18 Personen ver haftet, von diesen 6 in Lausanne, die übrigen in Genf, unter dem Verdachte, anarchistische Propaganda zu treiben. Der am meisten compromittirte ist ein gewisser Calducct, der eine halbe Stunde vor dem Attentate im Gespräche mit dem Mörder gesehen wurde. * Genf, 14. September. Das Justiz« und Polizei-Departement hat heute 15 Ausweisungsbefehle erlassen. * Rom, 14. September. In der vergangenen Nacht und heute früh wurden hier mehrere Socialisten und Anarchisten ver haftet. Zwei derselben sind an dem Blatte „Avanti" beschäftigt. Die Polizei hat bei ihnen Haussuchungen angestellt. * Rom, 14. September. Auch auS einigen Provinzstädte» werden Verhaftungen von Anarchisten gemeldet. Tie Schweiz hat viel, sehr viel gut zu machen, und eS ist dringcndst zu wünschen, daß ihr jetzt an den Tag gelegter Eifer nicht wieder erlahmt. Auch London ist immer noch ein Sammelpunct der Anarchisten. Dort läßt man sie ge währen in der Voraussetzung, daß sie England selbst mit Attentaten verschonen werden. Auch die französische Polizei verfolgt eine viel zu milde Praxis gegen die internationale Mordbande, und man kann nicht genug darüber staunen, daß nach der Ermordung Carnot'S dort anarchistische Clubs be stehen bleiben dursten, Vereine, in denen die anarchistischen Grundsätze offen gepredigt werden und zur Zerstörung jeder gesellschaftlichen Ordnung aufgefordert wird. Ueber die Strafen, die in der Schwei; auf die höchsten Verbrechen gesetzt sind, gab ein eben in Wien weilender Schweizer NechtSlehrer dem Berichterstatter eines dortigen Blattes folgende Auskunft: Im Jahre 1848 hat die Bundes verfassung mit Art. 55 die Todesstrafe nur bei politischen Vergehen verboten, so daß die Gesetzgebung über die Todes strafe im Ucbrigen den Cantonen zustand. Die Mehrheit der Cantone bedrohten nun die schweren Verbrechen mit der Todesstrafe, einzelne Cantone hoben diese jedoch gänzlich auf. Genf thal dies am 24. Mai 1871 auf Antrag des Straf- rcchtSprofcssorS Hornung. Veranlassung dazu gab der Fall einer Brandstifterin, der mildernde Zustande bewilligt wurden und die nun in Folge dessen zur höchsten Freiheitsstrafe von dreißig Jahren verurtheilt werden konnte, da Genf damals die lebenslängliche Zuchthausstrafe nicht kannte. Vor Genf hatten Freiburg im Jahre 1848, Neuenburg 1864 und Zürich 1869 die Tooesstrafe aufgehoben. Nachher thaten dies Basel-Stadt 1872, Basel-Land 1873 und Solothurn 1874. Der letzte Fall der Vollstreckung der Todesstrafe geschah neun Jahre vor deren Aufhebung an dem zwanzig jährigen Maurice Eley. Dieser wurde wegen Tvdt- schlageS und Diebstahls am 26. März 1862 zum Tode vcrurthciit und am 24. April hingerichtet. Fünf Jahre danach wurde Marie Calpini wegen Brandstiftung zum Tode verurtheilt, jedoch begnadigt. Äiit der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 sielen die cantonalen Bestimmungen, be treffend die Todesstrafe, vou selbst, da sie in der ganzen Schweiz mit Artikel 65 aufgehoben wurden. Nur die Be stimmungen des Militairstrafgesetzes blieben für Kriegszeiten unverändert. Vom Jahre 1874 bis 1879 waren demnach in sämmtlicken Cantonen die etwa vorhandenen Bestimmungen über Anwendung der Todesstrafe von selbst ausgehoben. Be sondere Bestimmungen erließen in dieser Hinsicht die Cantone Schaffhausen, Bern und Freiburg im Jahre 1874, Waadt 1875 und Aargau 1876. Im Jahre 1879 sah sich der BundeS- rath durch eine Reihe schwerer Verbrechen im Lande ver anlaßt, den Art. 65 der Bundesverfassung dahin abzuändern, daß den einzelnen Cantonen das Gesetzgebungsrecht, betreffend die Todesstrafe, wieder zurückgegeben wurde. Die politischen Verbrechen blieben indeß weiterhin ausgeschlossen. Mit der Aufhebung deS BundeSvcrbotS trat jedoch keineswegs die Todesstrafe wieder in Kraft, sie mußte auch in jenen Cantonen, in denen sie bloS stillschweigend anfgehört hatte, wieder eingeführt werden. Es geschah dies auch in den Cantonen Appenzell, Obwalden, Üri, Schwyz, Zug, St. Gallen, Luzern, Wallis und neuerdings Schaffhausen, während die übrigen, darunter auch Genf, bei der Auf ¬ hebung der Todesstrafe verblieben. Es ist demnach nach dem Genfer Gesetze nicht möglich, den Mörder dem Henker zu überliefern. Von dem Schwurgerichte in Genf wird Luccheui bloS zur höchsten Freiheitsstrafe, lebenslänglichem Zucht haus, verurtheilt werden können. Im Princip ist jedoch in Genf nach Artikel 8 seiner Verfassung die zwanzigjährige Zuchthausstrafe die höchste, die verhängt werden kann. Freiburg und Neuenburg bestimmen 30 Jahre, Graubünden und Wallis 25 Jahre, Aargau, Tessin 24 Jahre; gleich Genf haben 20 Jahre als höchste Strafe bestimmt: Thurgau, Oberwälden, Bern, GlaruS, Basel, Zug, Solothurn, Appenzell, St. Gallen und Neuenburg. Genf behielt sich jedoch ausdrücklich Ausnahmen vor, in denen auch lebenslängliche Strafe verfügt werden kann. Von dieser Bestimmung hat eS bereits Gebrauch gemacht, und derzeit befindet sich ein zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurtheilter Verbrecher im Genfer Straf hause. Ueber die Bewegung der französischen ArbeitSlöhni innerhalb deS Zeitraumes von 1840 bis 1891 macht ein vom dortigen Arbeitsamt (Otlieo cku travail) veröffentlichter Bericht sehr interessante Mitthcilungen. Dieser Bericht ist die Frucht einer siebenjährigen Enquete, welche ihre Resultate einmal nach den Industriezweigen, einmal naä> den örtlich zusammengesaßten Betrieben grnppirt der Ocffcntlichkcir unterbreitet. ES gehl daraus im Allgemeinen hervor, daß der mittlere Lohn der französischen Industrie arbeiter von 2,07 Francs täglich in 1840 auf 4 Francs in 1891 gestiegen ist, der Lohn der Arbeiterinnen in dem gleichen Zeitraum von 1,22 Francs auf 2,20 Francs. Es ist also innerhalb dieser 50 Jahre eine ungefähre Verdoppelung der industriellen Arbeits löhne eingetreteu, und zwar entfällt die Steigerung wesent lich auf die letzten dreißig Jahre. Die Enquete von 1860 konnte im Vergleich zu I8l0 nur eine Steigerung von 17 Proc. für die Arbeiter und von 12 Proc. für die Arbeiterinnen seststellen. Die Lohnerhöhungen hielten gleichen Schritt mit der Zunahme der industriellen Prosperität. Andererseits ist auch die Lebenshaltung der Leute entsprechend gestiegen. Die heutige Arbeiterschaft stellt ganz andere Anforderungen in Bezug auf Comfort und Zerstreuungen, als eS vor 50 Jahren der Fall war. Dessen ungeachtet ist da« Arbeitsamt der Meinung, daß die Lohne doch im Verhältnis; rascher gestiegen sind, als die von denselben bestrittenen Ausgaben, so daß der Arbeiter also einen absoluten Gewinn inner halb des Berichtszeitraumes zu verzeichnen haben würde. In Bezug auf die Arbeitgeber ist die gegen theilige Entwickelung eingetreten. Der Reinertrag der Werke sinkt fortwährend, weil die immer schärfer werdende Concurrenz nur durch Preis ermäßigungen ausgeglichen werden kann. Der Capitalbesitzcr steht der Thatsachc eines stetigen Sinkens des Zinsfußes gegenüber. Auch im Lichte dieser Statistik wird also die generelle Behauptung der socialdcmokratischcn Massenauswiegler von der „gewissenlosen AnSbentnng der arbeitenden Classi» durch das Capital" ziffernmäßig als agitatorischer Humbug erwiesen. Deutsches Reich. * Berlin, 14. September. Zur Palästinafabrt deS Kaisers und der Kaiserin wird den „Bert. N. N." aus Jerusalem geschrieben: Die Vorbereitungen zum Empfang der Majestäten sind in vollem Gange. Straßen werden durch gebrochen und rcgülirt, alte Häuser abgerissen und neue an Fcttilleton. Henny Hurrah! 13j Roman von Ernst Elausea. Nachdruck verboten. Schweigend schritt er neben ihr her, mit einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen. — „Sehen Sie, Herr Sternfeld, in der ganzen Stadt giebt es keinen Menschen, zu dem ich jemals ein vertrauliches Wort sprechen könnte. Man ist ja ein zu dummes Ding! — Man geht wahrlich stolz in solch eine Ehe hinein, stolz, sich opfern zu können, stolz, sich so in der Gewalt zu haben, um für seine An gehörigen ein solches Opfer zu bringen; von dem Egoismus, der darin steckt, und von der großen Lüge, die herauswächst, weiß man nichts! — Und nachher" — sie sah gerade aus, lachte dann kurz auf, und mit dem Sonneckschirm vor sich deutend, sagte sie: „Dort kommt mein Mann! — Uebrigens, betrogen werden solche Männer nicht, sie machen sich keine Illusionen, und sie wissen genau, daß Mädchen aus solchen Familien doch immer den Wunsch haben, anständig« Frauen zu bleiben, daß ihnen durch das Elternhaus etwas mitgegeben wird, worauf man sich verlassen kann. Unsereins hat eine angeborene Angst vor zweifel hafter Beurtheilung durch die eigene Kaste." Axel hatte nicht Zeit, darauf zu antworten, da der Com- merzienrath schon innerhalb Hörweite gekommen war. „Es ist gut, daß ich Sie hier treffe, Herr Sternfel-d! Du entschuldigst, Ella, wenn ich etwas Geschäftliches berühre? Ich habe Differenzen mit meinem Associß in New Jork, Mr. Brown, Brown, welcher, nebenbei bemerkt, jetzt krank ist. Bis jetzt haben wir hier Ihre Muster fabricirt; man will dort durchaus nun daS Fabrikationsrecht haben, und es wäre mir Nell, wenn Sie als Vertrauen-Person einmal hinübergingen. Es ist weniger Geschäftliches dabei, als vielmehr die Nothwendigkeit für jene, einzusehen, daß der Musterzeichner durchaus an Ort und Stelle sein muß, wo die Fabrikation vor sich geht. — Sie wissen da- ja selbst! Wenn Sie also wollen, Ihre Schulferien beginnen ja bald, und Alle- geht natürlich auf Geschäftsunkosten." — Axel wurde durch diese- Anerbieten im höchsten Grade in Er staunen gesetzt. ES klang ganz glaubhaft; er wußte aus Er fahrung, wie oft, wenn er ein neues Muster entworfen hatte, diese« auf technische Schwierigkeiten bei der Herstellung stieß; und deaaoch stieg in ihm ein Argwohn auf, ein Gefühl, als warnte ihn ein« innere Stimme, in Seefried's Worten nur ge schäftliches Interesse zu suchen. „Wollen Sie mir bis morgen Bedenkzeit geben, Herr Com- merzienrath?" „Gewiß! Natürlich!" Ganz zufällig sah Axel Ella Seefried an und bemerkte, daß ihr Blick mit leichtem Spott auf ihm ruhte. Er wurde glühend roth! „Also, ich schreibe Ihnen morgen!" Damit ging er fort, schon jetzt wissend, daß er jedenfalls annehmen würde. — Die Reise, die neuen Eindrücke, die Freude, einmal heraus zukommen in die Welt, das Alles iockte ihn. Nur das Wieder sehen mit Henny warf einen Schatten voraus in seine Stim mung. Er ging noch zu Tressings, ehe er abreiste, und fand nur den alten Onkel und Lotte zu Hause. Letztere hatte er lange nicht gesehen; sie war in Pension und später bei Verwandten in Berlin gewesen. Sie hatt« sich zu einem hübschen Mädchen ausgewachsen, blond, groß, mit den feinen Gesichtszügen der Uexhus und den freundlichen braunen Augen des Vaters, deren Ausdruck ihn lebhaft an Henny erinnerte. „Junge, Junge, Du kannst wohl lachen", sagte der Onkel immer wieder und humpelte dabei eifrig durchs Zimmer. Er war sehr gealtert in letzter Zeit, und seine Hände zitterten, wenn er die Pfeife anzünden wollte. „Grüße mir die Henny, meine alte Henny Hurrah! Ich wollte, ich könnte mitgehen. — Uebrigens scheint es meinem Schwiegersöhne recht schlecht zu gehen nach den letzten Nach richten; er hat sich auf einer Reise nach dem Süden bas Fieber gkholt." Dem alten Herrn standen die Thränen in den Augen. „Und dann schreibst Du mir einmal, Axel, nicht wahr? Ganz genau, wie Du sie gefunden hast." Axel versprach das Alles. — Lotte stand stumm daneben, die schlanke rechte Hand auf den Tisch stützend, und hielt die klu gen Augen auf den Detter gerichtet. Als er draußen im Corridor nach seinem Hut suchte, war sie plötzlich n«ben ihm. „Grüß Henny tausend Mal! Ich hätte mich riesig gefreut über da» prachtvolle Kleid, daS sie mir zum Geburtstag schenkte. — Wie geht eS Hedwig?" „Nicht zum Besten, Lotte! Sie wird mit Toni einige Wochen aufs Land nach Neubruch gehen." „Dos thut mir leid! Jedenfalls will ich sie vorher besuchen." „Wenns Deine Mutter erlaubt, Lotte", meinte er spöttisch. „Ich werde es doch thun! Weißt Du, ich finde, daß Mutter viel milder geworden ist in den letzten Jahren. Wie lange wirst Du fort sein?" „Sicher vier Wochen!" „Glückliche Reise, Axel!" Sie gab ihm noch einmal die Hand. Sie hatte nichts Be sonderes gesagt, aber der Klang ihrer weichen Altstimme that ihm wohl, und die Art, wie sie zu ihm sprach, hatte etwas warm Theilnehmendes. Man wird dankbar für solche Dinge, wenn man sie für gewöhnlich entbehren muß. So reiste er denn am andern Tage ab, nachdem er die Schwestern in Ncubruch untergebracht hatte. Toni war ein langer Backfisch geworden, und es that ihm fast weh, daß sie ihm mit einer Zurückhaltung begegnete, die mehr an das Verhältnis; von einer Tochter zum Vater als an ein geschwisterliches er innerte. Sie hatten eine billige Pension in dem kleinen Orte gefunden, und Hedwig lebte sichtlich auf in dieser ländlichen Um gebung. — Täglich machte sie mit der Schwester, die selig war, hier die Ferien verleben zu dürfen, lange Spazieraänge im Walde. Fast regelmäßig trafen sie dabei mit Dora Aönig zu sammen, die hier fleißig Malstudien machte und Landluft genoß. — Man grüßte sich zuerst nur, doch bald wurden die Mädchen bekannt, obgleich Philipp König's Schwester im Anfang sich eher zurückhaltend als entgegenkommend gezeigt hatte. — Hed wig fühlte sich hingezogen zu dem freundlichen, verständigen Mädchen mit den schwärmerischen, dunklen Augen und der allzeit heiteren Gemüthsverfaffung. — Dora König hatte sich ein Stübchen bei einfachen Bauers leuten gemiethet, das, lauschig und nett, im Giebel lag und an dessen Fenster frische Ranken wilden Weines klopften. Philipp war am Sonntag herausgekommen; hier war ja neutrales Gebiet und keine Möglichkeit, mit Graf Uexhus zu sammenzutreffen, und er fühlte sich in der Stadt vereinsamt, weil ihm Axel Sternfeld'S Umgang fehlte. „Auf jeden Fall, Dora", sagte er etwas rauh, „finde ich, daß Du die Bekanntschaft mit Fräulein Sternfeld Hättest ver meiden sollen! Du bringst mich in eine unangenehme Lage dem Brud«r gegenüber!" Sie sah ihn mit den großen Augen ruhig an und zwei dicke Thränen rannen ihr langsam über die Wangen. „Weiß Herr Sternfeld — ich meine, kennt er mich?" „Ja, ich habe mit ihm von Dir gesprochen — er ist nicht der Einzige in der Stadt, der davon weiß." „Und Du verlangst im Ernst von mir, Philipp, daß ich —" „Ja, Dora! Wenn ich das Alles gewußt hätte, würde ich mich nie hier festgesetzt haben." Er hielt die Augen gesenkt, aber sie sah es seinem Gesicht an, daß er schon Demüthigungen um ihretwillen hatte ertragen müssen. — „Gut, dann will ich abreisen, wenn Du glaubst, daß ich nicht das Recht habe, mit anständigen Menschen zu verkehren!" Er kaute verdrossen an den dunklen Haaren seines Schnurr bartes. Sonst so gutmüthig, verstand er selbst kaum, was ihn bei diesem Verkehr zwischen Hedwig Sternfeld und seiner Schwester so unangenehm berührte. „Davon ist keine Rede", antwortete er nach einer Pause — „es giebt Rücksichten, die man nehmen muß. Ahnt Fräulein Sternfeld, wie Du mit — wie sich Dein Leben gestaltet hat?" Dora zuckte zusammen, schlang die feinen Finger ineinander und strich langsam einige Falten ihres Kleides über dem Knie glatt. „Bin ich verpflichtet, das jedem Menschen mitzutheilen?" „Nicht jedem, aber diesen." „So —" Es war Schamgefühl, was ihre Wangen färbte, aber auch verletzter Stolz, der ihre Stirn in Falten zog. Sie stand hastig auf, ihre schlanke Gestalt emporreckend. „So? Was bin ich denn? Ein verworfenes Frauenzimmer? Ja, in gewisser Weise! Das heißt, ich stellte mich selbst außerhalb d«r Sitten, aber moralisch unwerth, mit einem «in ständigen Mädchen zu verkehren, nein und tausend Mal nein! Da giebt es Damen, verheiratete Damen, Philipp, die vor mir die Augen niederschlagen müßten, wenn die Welt ehrlich wäre! Es ist auch nicht Deine Meinung, Philipp, es ist nicht wahr, ich weiß es. — Hast Du SternfeldS vor dem Verkehr mit Uexhus gewarnt?" Er sah sie betroffen an; die Redensart, daß dies etwas ganz Anderes sei, blieb ihm im Halse stecken angesichts ihrer blitzenden Augen, und gerade aus dieser klaren Frage fühlte er heraus, wie sehr sie seine Schwester war. „Nein, dazu habe ich kein Recht!" „Nun, dann hast Du auch kein Recht, mir diesen Verkehr zu verbieten. Es ist ja Alles Lüge! Gewiß, ich habe kein Recht, mich in Familien zu drängen, ich habe kein Recht, zu verlangen, daß die Welt, wenn sie es wüßte, mein Leben endschuldbar fände; aber ich bin nicht gezwungen, mich für schlechter zu halten, als ich bin. — Philipp, ich kenne Dich doch! So offen und ehrlich und gerecht!" Er sah zur Seite. — Einer rauhen, ehrlichen Natur wie der
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