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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.10.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981018028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898101802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898101802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-10
- Tag1898-10-18
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Di» Morgen-AuSgab« erscheint am '/,7 Uhr. di» Lbrnd-AuSgabe Wochentag- um b Uhr. Filialen: Vit» Klemm'» Sartim. (Alfred HahaX UniversitätSstraße 3 (Paulinunc), Lo»iS Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und Königsplatz 7. LrLaction und Lrpe-itiou: JohanneSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbroche» «»öffnet von früh 8 bis Abmd« 7 Uhr. BezugS-PreiS di d« hanptexpedttion oder de« im Gtatzt- bezirk und drn Vororten errichteten Au«» aabestrllm ab geholt: vierteljährlich ^ll«^O, ort zweimaliger täglicher Zustellung in« Han» 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertestatirlich ^l 6.—. Dtrrcte tägliche Kreuzbandlrndung iuS Au-land: monatlich 7.50. Abend-Ausgabe. MipMcr TMlilall Anzeiger. Amtsblatt deS Hömglichen Land- «nd Amtsgerichtes Leipzig, des Aathes «nd Volizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. 53V. Dienstag den 1?. October 1898. AnzeigeN'PreiS die 6 gespaltene PMzetle SO Pfg.' Rrclamen unter d«mRedactionSstrich (4aw spalten) 50/>Z, vor den Familiennachrichten (6 gespalten) 40/<. Größere Schriften laut unsrrem Preis« vrrzeichnih. Tabellarischer und Ziffrrnsatz nach höherrm Tarif. Srtra»Veilagen tgefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderunx ^l 60.—, mrt Postbefördrrung 70.—. Ännahmeschluß für ^nzeizeu: Ab end «Ausgabe: vormittag« 10 Uhr. Morgrn-Ausgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je rin» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets au die Expedition zu richten. Druck und versag von E. Polz in Leipzig, 92. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 18. October. An der Nichtigkeit der englischen Meldungen über ein gegen Kaiser Wilhelm geplantes anarchistisches Attentat ist nach der osficiösen, vom Wolff'schen Depeschenbureau ver breiteten Bestätigung der „Nordd. Allg. Ztg." nicht mehr zu zweifeln. Die Meldungen traten auch von vornherein so bestimmt auf, daß ^wir ihnen umsoweniger mißtrauen zu sollen glaubten, als nach dem Mordanschlag auf die Kaiserin von Oesterreich die Besorgniß nur zu nahe liegen mußte, daß die offenbar wieder aller Orten mobile anarchistische Propaganda sich die günstige Gelegenheit der Reise eines gekrönten Hauptes ins Ausland und noch dazu nach dem Orient nicht werde entgehen lassen. Wenn die amtliche Bestätigung von deutscher Seite so lange auS- geblieben ist, so erklärt sich dies daraus, daß die Reichs regierung als die nächstbelheiligte bei der eminenten Be deutung des tiefbedauerlichen Borkommnisses erst die absolut sichere amtliche Beglaubigung abwarten mußte, lieber den Plan der Verschwörer wirb im Einzelnen noch Folgendes berichtet: * London» 17. October. Der „Daily Mail" wird aus Alexandria gemeldet: Tie Wichtigkeit der Entdeckung der anar chistischen Verschwörung wächst stündlich, da jede Verhaftung eine neue Enthüllung zu Tage fördert, die zu weiteren Verhaftungen führt. Jetzt sind fünfzehn Personen verhaftet worden, die man alle für Italiener hält. Gestern morgen wurde noch ein Uhr macher verhaftet, der nahe der Rue Cherif Pascha, der Hauptstraße der Stadt wohnt. Der ursprüngliche Plan der Verschwörer war, in einer engen Straße in Kairo, welche der deutsche Kaiser passiren sollte, ein Zimmer zu miethen, um von dort eine mit Schießbaumwolle und Knallquecksilber gefüllte Bombe in den Wagen zu werfen. Als der Kaiser seine Reise nach Egypten aufgab, wurde, wie bereits gemeldet, der Plan geändert und beschlossen, die Bomben nach Syrien zu tranS« portiren. Auf einem Dampfer der Khedivial-Linie, der am Sonn abend von Alexandria nach Jaffa abging, ließ sich einer der Ver schworenen als Steward anstellcn. In Jaffa sollte er die Bomben nach Bestechung eines Beamten an Land schmuggeln und dann sollte ein anderer sie nach Jerusalem nehmen, wo sie im Bristol Hotel verborgen gehalten werden sollten. Hier war einer der Ver schworenen als Kellner in Dienst getreten. Die Explosion sollte bei der Einweihung der deutschen Kirche stattfinden. Tie im Casü gefundenen Bomben sind zehn Zoll lang und zwei Zoll Lick; sie haben zum Tragen wie zum Werfen eine handliche Form. Die Bomben selbst sind von Eisen, allein die innere Einfassung ist von Porzellan, damit die chemischen Stosse darin nicht das Eijen angreifen. Um die Wirkung zu verstärken, waren die Bomben von Außen dicht mit Stahldraht umwickelt. Dieselben waren in einer BiSquitschachtel sorgfältig mit Sagemehl verpackt und die Schachtel war dann mit zwei Flaschen Wein und Nahrungsmitteln in einer unschuldig aus« sehenden Tasche verpackt, die, wie gemeldet, im Casü offen auf dem Tische lag. Im Ganzen sind 19 Personen in das Complot ver wickelt. Die Verschwörer sollen mit anderen Städten, namentlich London und Madrid, in Verbindung gestanden haben. Die Tocu- mente, welche die Polizei vorfand, sollen auch zeigen, daß di« Er mordung de« König» Humbert, sowie eines jeden einzelnen Mitgliedes der italienischen Königssamilie beabsichtigt war. ES hat den Anschein, als ob noch nicht alle an dem Complot Betheiligten verhaftet seien, und so ist es immerhin möglich, daß der Versuch, den deutschen Kaiser zu ermorden, erneuert wird. Alle möglichen Anstalten für. die persönliche Sicherheit des Monarchen sind natürlich getroffen und werden noch vermehrt. So ist, um nur dies eine zu erwähnen, noch nachträglich ein besonderer Criminalcommissar beordert. Es ist dies der Commissar Wittwer' in Thann im Bezirk Ober-Elsaß, der sich schon wiederholt als ein äußerst geschickter, umsichtiger und gewiegter Beamter erwiesen hat. Die Heranziehung eines elsässischen Beamten zu dem er wähnten Posten ist gewiß bemerkenswerth und beweist, daß in dieser Hinsicht große Umschau gehalten wurde. Die Mühe, die sich der „Vorwärts" giebt, die Mel dungen über den gegen den Kaiser geplanten Mordanschlag als unglaubwürdig erscheinen zu lasse», zeigt auf das Deut lichste, welche Rückwirkung das socialdemokratische Centralvrgan von diesen Meldungen auf die Bestrebungen nach nationaler und internationaler Abwehr des Anarchismus befürchtet. In der Thal wird den Berathungen der von Italien angeregten internationalen Conferenz jetzt überall mit verdoppeltem Interesse entgegengesehen. Die römische Meldung der „Kreuzztg.", die Vorbereitungen für den Zusammentritt der Conferenz seien noch immer nicht beendet, weil es behufs Aufstellung eines genauen Verhandlungsprogrammes noch des Gedankenaustausches mit einzelnen Regierungen bedürfe und namentlich eine etwaige Abänderung des Asylrechtes der Schwer Schwierigkeiten mache, stammt augenscheinlich aus den letzten Tagen vor dem Bekanntwerden des letzten anarchistischen Anschlages. Dieser wird ein rascheres Tempo deS Meinungs austausches um so sicherer bewirken, je zweckmäßiger die meisten der Vorschläge sind, die nach Mittheilungen, welche die bethciligten italienischen Minister dem römischen Cor- respondenten der „Nat-Ztg." gemacht haben, von dieser Seite den übrigen Delegirten unterbreitet werden sollen. Italien verlangt an erster Stelle, man solle alle von Anarchisten begangene Verbrechen als gemeine ansehen. Wird dieser Auffassung beigepflichtet, so find anarchistische Verbrecher nicht mehr „politische" und müssen auSgeliefert werden. Der zweite Programmpunct betrifft die Beseitigung der anarchi stischen Propaganda, indem er fordert, daß jeder Staat alle Fremden auS seinem Gebiete ausweist, die als Anarchisten bekannt sind und in irgend einer Weise anarchistische Propa ganda machen. Dahin gehört die Herstellung und Ver breitung anarchistischer Zeitungen, Bücher und Flugblätter. Ein dritter Programmpunct betrifft den theilweise jetzt schon bestehenden Austausch von Nachrichten über Anarchisten und deren Reisen. Nach den Auslassungen englischer Blätter ist die Hoffnung nicht unberechtigt, daß Eng land zu einem theilweisen Verzicht auf das Asylrecht geneigt ist; wa- die Schweiz anbelangt, so wird sie dem moralischen Drucke bezüglich des genannten PuncteS am Ende wohl auch nachgeben müssen. Ein Einverständniß über den letzten Punct des italienischen Programms, der die ZeitungS- reclame für anarchistische Verbrecher verhindern will, wiro den meisten Schwierigkeiten begegnen. Es ist jedoch zu wünschen, daß die Bedürfnisse der Sensationspresse in diesem Falle so schonungslos wie möglich mißachtet werden. — Ganz unabhängig von der Conferenz aber sollten unseres Erachtens die verbündeten Negierungen ohne Zögern der in Deutschland erscheinenden anarchistischen Presse, sowie den anarchistischen Lese- und DisputirclubS zu Leibe gehen. Voll ständiges Verbot der anarchistischen Blätter und der anar chistischen Zusammenkünfte und Versammlungen jeder Art würde gerade angesichts der letzten, theilS ausgeführlen, theils geplanten anarchistischen Attentate im Reichstage auch von solchen Politikern gebilligt werden, die principielle Gegner einer „Ausnahme-Gesetzgebung" sind. Der bekannte national-sociale Führer von Gerlach rühmt es, daß den Loeialdemokraten bei ihrem Parteitage in Stuttgart der Wartesaal I. Classe für ihr Empfaugsbureau freigegeben worden sei. Er führt mit darauf den verhältnißmäßig ruhigen Ton auf dem Partei tage zurück, denn man gehe mit versöhnlicherem Geiste an Verhandlungen heran, wenn man in einem Wartesaale I. Classe empfangen worden sei, als wenn man sich von einigen preußischen Schutzleuten habe anschnauzen lassen müssen. Das „Anschnauzen" durch preußische Schutzleute soll gewiß nicht gelobt werden, aber darum ist die Ueberlassunz des Wartesaales I. Classe noch lange nicht zu billigen. Erstens einmal sind die Warteräume der Bahnhöfe für daS reisende Publicum da und nickt für Parteiempfänge, zweitens aber sollen solche Aufmerksamkeiten der Socialdemokratie am allerwenigsten erwiesen werden. Die Bevölkerung erhält dadurch ganz falsche Vorstellungen von der Stellung der Regierung gegenüber den Socialdemokraten. Ob die Auf hebung deö Socialistengcsetzes zu dem lawinenartigen An schwellen der socialistischen Partei in der ersten Hälfte des laufenden Jahrzehnts beigetragen hat, sei dahingestellt, sicherlich aber bat die wohlwollende Behandlung der Socialdemokratie durch die Regierung in dcr Caprivi'schen Zeit sehr viel zu der Ausbreitung der socialistischen Partei beigetragen. Denn wenn die Bevölkerung sieht, daß eine Regierung die Socialdemokraten als eine den anderen Parteien völlig gleichberechtigte Partei behandelt, so muß sie ja zu dem Glauben gelangen, daß diese Partei so gar schlimm Nichtsein könne. Es ist deshalb mit Freuden zu begrüßen, daß die preußische Regierung seit einigen Jahren von dieser Behand lung der Socialdemokraten znrückzekommen ist, und eS wäre zu wünschen, daß sich alle verbündeten Regierungen — natürlich im Rahmen der bestehenden Gesetze — in großen wie in kleine» Dingen gegen die Socialdemokratie in einer Weise verhielte», die keinen Zweifel daran aufkommen läßt, daß man die Socialdemokratie als einen gefährlichen Feind betrachtet. Auf das Verhalten der württ em bergisch en Regierung gegen die Socialdemokraten scheint es nicht ohne Einfluß geblieben zu sein, daß in diesem Lande seit dem Winter 1895 die der Socialdemokratie verwandte demokratische Partei dominirt. Dieser Auffassung ist übrigens auch beim Beginne deS Stuttgarter Parteitages ziemlich deutlich Aus druck gegeben worden. Daß man aber mit dem Wohlwollen gegen die Socialvemokratie herzlich wenig erreicht, hat sich gerade in Württemberg bei den Reichstagswahlen gezeigt. Die bisher stets von den bürgerlichen Parteien behauptete Landeshauptstadt fiel den Socialdemokraten in die Hände und in einigen anderen Orten kam cs zu reckt bedenklichen, von socialistischen Hetzern geschürten Pöbelexcesscn, lediglich weil der socialistische Bewerber nicht zum Siege gelangt war. Sind vielleicht diese Pöbelunruhen ein Zeichen des „versöhn lichen Geistes", der nach Herrn von Gerlach erweckt wird, wenn man sich den Socialdemokraten gegenüber wohlwollend und aufmerksam erweist? Nein, solche Aufmerksamkeiten bewirken nur, daß die Anhänger der bürgerlichen Parteien verwirrt werden, während die Partei gänger der Socialdemokratie nicht milder gestimmt werden, denn ihre Führer rufen ihnen zu: „Da seht ihr, wie sich schon die Bourgeoisie vor unS fürchtet." Denn dar auf kann man sich verlassen, daß die socialistischen Führer unter keinen Umständen einer Regierungömaßregel ihre An erkennung zollen. Haben sie doch auch die Arbeiterschutzgesetze so ausgelegt, als ob sie nicht dem Wohlwollen für die Arbeiter, sondern dcr Furcht vor der Socialdemokratie ent sprungen wären. Die Lage in Paris ist heute verhältnißmßig normal. Das Syndikat der Bahuarbciter hat nach den vergeblichen Anstrengungen, einen Ausstand durchzusetzen, den vernünftigsten Entschluß gefaßt, den es noch gab, es hat am vorigen Sonntag in einer öffentlichen Versammlung beschlossen, auf die Aus führung des Ausstandes „gegenwärtig" zu verzichten. Aus diese Nachricht hin wurden auch auf jenen Strecken, deren Bahnhöfe noch militairisch bewacht und besetzt wurden, die Truppen zurückgezogen; auch werden Wohl nun die nach Paris berufenen Regimeiner wieder in ihre Provinzialstäbte zurück kehren können, da auch der Streik der übrigen Arbeiterkategorien im Sande verläuft. Dir Erdarbeiter haben die Erfüllung ihrer Forderungen durchgesetzt. Prinz Victor Napoleon, den man bekanntlich von gewisser Seite in Verbindung mit dem angeblichen Gewalt st reich gebracht hatte, bat in Brüssel, wo er dieser Taz plötzlich aufgelaucht ist, die Erklärung ab gegeben, er kenne Peüieux und Dulac nicht, habe auch keine Beziehungen zu Döroulöde und habe mit einem angeblichen Militaircomplot nichts zu thun. Dagegen weiß der „Petit.,., Bleu" von dem Prinzen eine ganze Geschichte zu erzählen. « DaS Pariser Blatt versichert, der Prinz habe die französische ' Grenze am 8. October überschritten, in Lyon übernachtet und sei am 9. October Abends in Paris angekommen, wo er am 10. und 11. verblieb und viele Besucher, aber wenige Bonapartisten, empfing. Am Morgen deS 12. sei dann der Prinz im Wagen durch das Boulogner Wäldchen gefahren und nach Brüssel zurückgekehrt. Der „Figaro" bezweifelt diese Nachrichten, da der Prinz seinen Bruder nach Genf begleitet habe und über Basel und Straßburg nach Brüssel zurück gekehrt sei. Inzwischen ist nun auch der Herzog von Orleans am Sonnabend Abend in Brüssel, und zwar mit Familie, erschienen; als Reiseziel giebt er Oesterreich an. Von General Mercier haben die Pariser Scandaldlätter ebenfalls entdeckt, daß rr geheimer Weise sich in Paris aufgehalten habe. Mercier, so heißt es, habe am 6. und 7. October von dcr Vollmacht Gebrauch gemacht, die dem Commandanten eines ArmeecorPS zusteht, c sich 48 Stunden von seinem Posten zu entfernen. Er hübe beide Tage in Paris verbracht, wo er mit Döroulvde eine Begegnung gehabt habe, mit dem er seit Jahren in persönlichen Beziehungen stehe. Die Blätter geben aber selbst zu, daß es sich Wohl dabei um Unterredungen in der Dreyfussacke werde gehandelt haben, welche in der nächsten Zeit einen Ruck nach vorwärts thun wird. Wenigstens hat der Anwalt der Frau Dreyfus, Mornard, der, wie schon erwähnt, im Besitze eines TheileS des Dossiers Dreyfus ist, bereits mit dessen Studium be gonnen. Die Sitzung der Strafkammer des CafsationShofes soll nicht vor zwei Wochen stattfinden. Nach der „Petite Republique" wäre sicher, daß der CafsationShof »ine sachliche Feuilleton. Die kleine Lulu. 14j Seeroman von Clark Russell. Nachdruck verbotrn. „Das war seine Entschuldigung und man kann ihn nicht gerade tadeln. Am Lande gebrauchen die Menschen Chloro form als Betäubungsmittel für Schmerzen, und so denke ich, hat der Seemann das Recht, seine Empfindung zu ertödten, ehe er ertrinkt, wenn er Zeit dazu hat. Es ist doch ein häßlicher, grauenvoller Tod, das Ertrinken, und Gebete sprechen kann man nicht, wenn das Salzwasser im Halse brennt." Er hielt an, um zu hören, ob ich etwas sagen würde, ich sagte aber nichts, denn ich war ungeduldig, sein Geheimniß end lich zu erfahren; ein Wortstreit hätte die Sache nur verzögert. So fuhr er fort: „Am Abend des vierten Tage« legte sich der Wind und eS blies nur noch eine schwache Brise. Das Schiff schien kaum von ihr bewegt zu werden. Der Horizont hatte sich weit zurückgezogen und lag ganz klar. Ich sagte zu Tommy: „Ist das ein Nebelstreif auf unserem Backbordbug?" Er meinte, cs wäre eine Wolke. Aber in der Hoffnung, es möchte etwas Anderes sein, nahm ich das Teleskop, stieg ins Takekwerk und sah richtig Land. Es lag ganz deutlich da. Ich stieß einen Freudenschrei aus, stieg Hals über Kopf wieder herunter, eilte ans Ruder, nahm die Richtung auf, ehe es ganz dunkel wurde, und steuerte darauf zu. Drei Stunden blieb ich am Rade, dann löste Tommy mich ab; zu schlafen vermochte ich aber nicht, ob gleich ich mich auf das Gitter am Stern niedergelegt hatte; ich war in steter Angst, Tommy könnte am Lande vorbeisegeln. Ms der Morgen anbrach, lag dasselbe dicht vor un«, kaum zwei Meilen fern. Ich berathschlagte nun mit meinem Maar, wie wir handeln wollten. Der Bug-Anker war vertäut und zu schwer für unS; daß der kleine Strom-Anker das Schiff halten würde, konnten wir nicht hoffen, wenn überhaupt eS uns ge lang, ihn aus den Fockrüsten herauszuholen. Nach vielem Hin- und Her-Uebrrlegen beschlossen wir also endlich, das Schiff an dem Gestade vor uns auslaufen zu lassen. Das Glück begünstigt« uns, denn die von hinten kommende Brise frischte mit der höher steigenden Sonne auf, und um uns noch mehr Anlauf zu geben, setzten wir das Focksegel. Darauf trat Tommy an die Spitze de» Schiffe« und blickte in da» klar« Wasser, um» mir als Lootse zu dienen und uns vor dem Auf fahren aus Felsen zu wahren. So liefen wir nach einer Weile mit gutem Anlauf und, unterstützt von den langen Wogen mit aller Kraft das Brustholz tief in den Sand eingrabend, in dem schönen Ankergrund auf. Wir lagen fest und waren ge rettet." „Wer tum Hageldunnerwedder knurrt denn hier immertau as en Hund? Wat soll denn dat verdammte grugliche Ge murmel? Wer is denn dat olle Gespenst, wat nich Rauh Hollen kann? Büst Du 't etwa, Snigger'S?" „Schon Hut, schon gut", antwortete Deacon. Er rückte mir noch etwas näher und seine Stimme noch mehr dämpfend, fuhr er fort: „Wir hatten den ganzen Tag vor uns, zu überlegen, was Wir nun zunächst thun sollten. Vor allen Dingen nahmen wir ein gutes Frühstück ein und dann suchten wir nach Waffen. In der Cajllte des Capitains fanden wir ein paar Revolver. Darauf stieg ich aus die groß« Oberbram-Raa und rittlings daraus sitzend, mit dem Rücken an den Mast gelehnt, blickte ich lange durch das Glas. Am Hinteren Ende der Insel erhob sich ein mäßig hoher, bewaldeter Hügel, von uns bis zu ihm war das Land aber flach. Eine reiche Vegetation bot sich dem Auge und durch da« Grün schimmerte stahlblau ein kleiner Fluß oder vielmehr eine Buchtung der See, die wie ein Fluß gestaltet war. Die ganze Insel mochte nach meiner Schätzung ungefähr eine Meile breit und drei Meilen lang sein. Von der Mastspitze au« konnte ich den sie umgebenden Ocean ringsum erkennen. Meder auf Deck zuriickgekehrt, erzählte ich Tommy, daß der Ort «ine Einöde zu sein schiene, und daß kein anderes Land weit und breit zu sehen wäre. Von der Oberbram-Raa aus hätte ich solches auf dreißig Meilen erkennen müssen. Wir kamen dann überein, so viel Lebensmittel und Wasser an Land zu bringen, al« wir tonnten, für den Fall, daß oas Schiff in Stücke gehen sollte, ebenso beschlossen wir, da« Lang boot auSzuräumen und mit Allem, wa« dazu gehörte, flott zu machen. Tommy sprach zu mir von dem Geld». Ich hatte ja selbst schon an dasselbe recht viel gedacht, dennoch aber rieth ich ihm, keine Unklugheit zu begehen, denn wir wären doch reine Narren gewesen, wenn wir kostbare Zeit damit verloren hätten, etwas zu landen, was nicht Körper und Geist zusammenhictt, falls da« Schiff zertrümmerte. Zuerst, sagte ich, laß uns zu- sammenhäufen, wa» zur Erhaltung unsere» Lebens unentbehrlich ,st, und damit das Langboot zu Wasser bringen. Wie wollen wir sonst daran denken, noch einmal von hier fortzukommen, um entweder bewohnte» Land, oder irgend ein Schiff zu finden, welches uns aufnimmt? — Nein, nicht eher, als bis das Alles geschehen, dürfen wir das Geld bergen. Wir brachten also den ganzen Tag damit zu, Dorräthe zu landen. Am nächsten Tage räumten wir das Boot aus, ließen es zu Wasser und takelten es auf. Dann steuerten wir cs nach der Buchtung, die ich entdeckt hatte, und ankerten es dort fest. Darauf gingen wir zum Schiff zurück und fuhren fort, Alles an Land zu schaffen, von dem wir glaubten, daß es uns von Nutzen sein könnte. Dies kostete uns eine ganze Woche schwerer Arbeit. Wir begannen stets mit Tagesanbruch und hörten nicht auf, bis es dunkel war. Aber das Klima war herrlich. Ich konnte dort fünfmal so viel Arbeit verrichten als irgend wo anders, und dazu kam, daß wir für unser Leben arbeiteten. Die ganze Zeit über war das Wetter schön, bei schwachem oder gar keinem Winde. Wir fanden das Gold in Kisten, welche mit eisernen Platten und ebensolchen Bändern versehen waren. Es waren zwei davon vorhanden. Aus der ersten Kiste, deren Oeffnen einen ganzen Vormittag in Anspruch nahm, hoben wir die Sovereigns in Leinwandbeuteln, jeder derselben enthielt tausend Stück. Es war daher ein leichtes, sie aufs Vorderdeck und von dort ans Ufer zu schaffen. Zwanzig Beutel trugen wir hinüber. In der anderen Kiste befanden sich Goldbarren, einer über den anderen gepackt, wie Seifenstangen. Sie sahen aus wie Kupfer, waren schmutzig und ohne Glanz, ihr Gewicht aber verrieth ihren Werth. Wir trugen einen nach dem andern ans Land, bis sic alle in einem Haufen aus dem Sande lagen. Wa» sollten wir nun mit unserem Schatz beginnen? Darüber hatte ich schon einen Entschluß gefaßt, noch ehe ich die Kisten gesehen hatte, die ihn enthielten. Ich sagte drthalb zu Tommy: wir wollen da» Gold vergraben und wenn wir mit dem Leben davonkommen, müssen wir fest Zusammenhalten, immer auf demselben Schiffe segeln und eine Gelegenheit ab warten, es abzuholen und zu theilrn. Ich holte eine Bibel aus der Cajllte des Capitains und wir schworen auf diese unS gegen- seWg zu, das Geheimniß de« Schatzes zu hüten, immer zu sammenzuhalten, einander niemals untreu zu werden, einen günstigen Moment abzuwarten, wo wir aus einem kleinen Schiffe davon gehen könnten und das Geld unter dem Deckmantel irgend welcher Fracht, die wir einnehmen könnten, nach England zu bringen. Am nächsten Morgen gingen wir aus, einen passenden Platz zur Bergung unsere« Schatze» zu suchen. Wir wählten Vas Ende der Buchtung, welche» so ziemlich in der Mitte der Insel lag; dort gruben wir «in weites Loch an einem hervorragend großen Cocosnußbaum, welcher, wie ich rechnete, dort noch hundert Jahre stehen konnte. Mit Korallenstücken, Steinen und Felsstücken mauerten wir das Loch aus, so gut wir konnten. Hiermit wollten wir einerseits ein Senken des Goldes ver hindern, falls einmal ein« längere Zeit der Nässe kommen sollte, andererseits ein Einstürzen der Seitenwänd« verhüte». Darauf stauten wir die Barren, legten die Beutel oben darauf und füllten die Grube wieder aus. Den Baum betrachteten wir als unser Merkzeichen. Einige Tage, nachdem wir diese Arbeit ausgeführt hatten, blies ein starker Wind gerade aufs Ufer zu und die dadurch erzeugte schwere See schlug das wie eingervmmt im Sande liegende Schiff in Stücke. Die hierbei ans Ufer geschwemmten Wollballen bildeten an demselben einen förmlichen Wall, aber die meisten Vorräthe, welche wir noch an Bord hatten, waren weggespült worden. Dies veranlaßte uns, da es auf der Insel nichts anderes als Cocosnüsse zu essen gab, nunmehr in See zu stechen, ehe unsere Lebensmittel zu Ende gingen. Wir be luden daher das Boot, rüsteten es mit Mast und Segel aus, stießen ab und steuerten nach dem Compaß, den wir mitge nommen, direct nach Nordost. Dieser Curs, rechneten w- , würde uns nach der Küste von Südamerika bringen, etwas nörd lich von Patagonien. Am Abend verloren wir die Insel aus Sicht und wurden von einem Sturm nach Norden verschlagen Wenn ich das Steuer geführt hätte, würden wir wohl hierbei unseren Untergang gefunden Haben, aber Tommy war ein Mann aus Deal, verstand die Sache mrv brachte uns glücklich durch „So", ries Deacon und that einen langen Athemzug, wobei er mit dem Rücken seiner Hand über seine Stirn fuhr, „nun ist das Geheimniß heraus. Wie es uns im Boote erging, ist für die Sache von keiner Bedeutung, doch will ich Dirs noch kurz erzählen. — Wir wurden ganze vierzehn Tage umhrrgeworsen, ohne jemals etwa« zu erblicken, wa» einem Segel ähnlich gewesen wäre; da« Wasser fing an knapp zu werden und Tommy würbe krank. Er lag auf dem Boden des Bootet und stöhnte eine ganze Nacht hindurch. Gott weiß, wa» ihm fehlte, aber am nächsten Morgen war er todt. Ich behielt sein« Leiche der Ge sellschaft halber, bi» sie so häßlich wurde, daß sie mich entsetzte, da warf ich sie über Bord. Nun trieb ich umher, «in Spiel der Wogen, bis ich schwächer und schwächer wurde und e« mir kaum mehr gelang, bi» zu Dem klrinrn Wass«rfäßchen zu kriechen. Ick glaubte zu sterben und legte mich nieder, um den Tod wie -in Mann zu erwarten. Da» war da» Letzte, dessen ich mich erinnere, bi» ich erwachte und mich an Bord eine» Walfischfänger» fand' der nach Boston segelte." Jetzt hielt er inne und beugt« sich vor, um mir in» Gesicht
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