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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.10.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981021020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898102102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898102102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-10
- Tag1898-10-21
- Monat1898-10
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Die Morgen-AuSgabe erscheint um '/,7 Uhr. di« Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Bezugs-PrelS I» d« tzauptexpeditiou oder den im stadt- deeirk und den Bororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich^ 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins hauS 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland nnd Oesterreich: vierteljährlich ^l 6.—. Dirrcte tägliche tkreuzbandsendung Au-laud: monaUich 7.50. LeLaction »n- Erpe-ition: JohanneSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abend» 7 Uhr. Filialen: ktt» Nlcmm's Sortim. (Alsred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinuw), Louis Lösche, Katharinenstr. 14, part. und Königsplatz 7. 536. Abend-Ausgabe. MpMer TlMblalt AnzeigenPreiS die 6gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclamen unter demRedactionSstrich (»2«» spalten) 50^z, vor den Familiennachrichlea (6gespalten) 40/^. Größere Schriften laut unserem Preis verzeichnis. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Shtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbrsörderun? 60.—, mit Postbrförderung 70.—. Anzeiger. Amtsblatt -es Königkichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Ratkjes an- Natizei-Ämtes -er Lta-t Leipzig. Freitag den 21. October 1898. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag» 70 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von L. Dolz in Leipzig, 92. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 2l. October. Die „Berk. Polit. Nachr.", die bekanntlich vielfach von den großen industriellen Verbänden zu Kund gebungen benutzt werden, veröffentlichen eine jedenfalls von einem dieser Verbände ausgehende Auslassung, die angeblich dem Zwecke dienen soll, deni mit der Oehnhauser Kaiserrede getriebenen Mißbrauche steuern, in Wirklichkeit aber Wohl den durch die bekannte Kundgebung einiger namhaften Industriellen hervorgerufenen Verdacht zerstreuen soll, weitere industrielle Kreise seien Gegner des hkoalttionSrcchtcs der Arbeiter und würden jeden Gesetzentwurf begrüßen, der eine Beschränkung ober gar Beseitigung dieses Rechtes bezwecke. Die Auslassung lautet: „Die Industriellen stehen durchaus auf dem Boden Les 8 152 der Gewerbeordnung. Wie sie selbst den vollen Werth der durch diese Gesetzesstelle gewährleisteten Coalitionssreiheit zu schätzen wissen, so gönnen sie nicht nur den Arbeitern die freie Vereinigung behufs Besserung ihres Lohnes nnd ihrer sonstigen Arbeitsbedingungen, sondern sie erkennen in der gesetzlichen Sicherung dieses Bereinigungsrechtes auch einen überaus wichtigen nnd niemals zu beseitigenden culturellen Fortschritt. Was die In dustriellen auf diesem Gebiete erstreben, ist vielmehr nur zweierlei: Sie verlangen, daß dem Coalitionsrecht gegenüber das Vertragsrecht gewahrt bleibt, und daß dem zu folge die strenge Innehaltung vertraglicher Ver- pflichtungcn, wie sie sich die Arbeitgeber auch bei wirthschaftlichen Kämpfen angelegen sein lassen, auch seitens der Arbeiter gesichert wird. Schutz gegen Rechts- und Contractbruch bei unter Anwendung LeS Coalitionsrechts ausbrechcnden wirthschaftlichen Kämpfen ist eine Forderung, deren volle Berechtigung und volle Vereinbarkeit mit der Coalitionssreiheit Niemand ernstlich wird bestreiten können. Die zweite Forderung ist der volle und wirksame Schutz der Arbeiter bei der Wahl, ob, wann nnd wo sie arbeiten wollen. Ter Physische oder moralische Streikzmang ist weder mit der persönlichen Freiheit der Arbeiter noch mit der Rücksicht au, die Erhaltung des wirthschaftlich-n Friedens vereinbar. Vor diesem Zwange muß das Gesetz daher den arbeitswilligen Arbeiter in seinem eigenen wie im Interesse des Gemeinwohls wirksam schützen. Wie daS Coalitionsrecht nicht zum Rechtsbruch ansarten darf, wenn cS nicht selbst die Axt an seine Wurzel legen soll, so ist die nothwendige Voraussetzung für die ungeschmälerte Aufrechterhaltung der Coalitionssreiheit die Bewahrung derselben vor dem Mißbrauch zur Beschränkung der Freiheit der Arbeiter, zu arbeiten, wann und wo sie wollen. Weit davon entfernt, das Coalitionsrecht derArbeiter zu bedrohen, sind die Forderungen der Arbeitgeber daher vielmehr geeignet, die volle Aufrechterhaltung der LoalitionS- freihcit gemäß 8 152 der Gewerbeordnung zu sichern." Solchen Forderungen wird auch die fortschrittliche Presse nichts Stichhaltiges entgegensetzen können. Es läßt sich nicht bestreiten, daß in Bezug auf den Bruck der Kündigungsfrist der Arbeitgeber ungünstiger gestellt ist, als der Arbeitnehmer. Entläßt ein Arbeitgeber seinen Arbeiter vor Ablauf der ver tragsmäßig festgesetzten Frist, so klagt der Arbeiter den Lohn ein, den er erhalten hätte, wenn er bis zum Ende ver Frist in Arbeit geblieben wäre, und es ist selbstverständlich, daß ihm dieser Lohnanspruch vom Gerichte zuzebilligt wird. Ver läßt aber der Arbeiter seinerseits vor Ablauf der Frist seine Stellung, so kann der Arbeitgeber zwar den ihm dadurch erwachsenden Schaden einklagen und er wird den Prvceß auch gewinnen, aber da der Gegner nur zu oft nicht zahlungsfähig ist, so erwachsen dem Kläger noch Kosten obendrein. Der Arbeitnehmer hat eben einer Entschädigungs klage gegenüber, wie sich die Juristen scherzend ans- drücken, die exceptio caesarea, d. h. den Einwand, daß cS sich um einen Streit um Kaisers Bart handelt, da er als Beklagter zwar einen Proceß verlieren kann, aber doch nicht in der Lage ist, die daraus erwachsenden Nachtheile zu tragen, weil er eben vermögenslos ist. Dadurch also, daß dem Arbeiter auS dem Contractbrnche kein faktischer VermögenS- nachtheil entstellt — den Nachtheil natürlich ausgenommen, daß er außer Stellung ist nnd nichts verdient —, läßt er sich leicht zum Streik verleiten. Eine Rechtsgleichheit kann nur herzestellt werden, wenn für den Fall, daß der Arbeiter beim Contractbrucke einer Enlscvädigungsklage nicht genügen kann, eine angemessene Freiheitsstrafe festgesetzt wird. Wohl bietet diese Strafe dem geschädigten Arbeitgeber keinen un mittelbaren Ersatz, aber einen mittelbaren doch dadurch, daß die Neigung zum Aufheben der Arbeit ohne rechtzeitige Kündigung gemindert wird. Von der Kaiscrrcisc »ach Vcm Orient versprechen wir unS nickt bloS, wie wir schon hervorhoben, eine Mehrung der Autorität Deutschlands in jenen Ländern, sondern vor Allem die Erschließung neuer Absatzgnellen für die deutsche Industrie und den deutschen Handel, die, energisch und erfolgreich arbeitend, imme^ mehr Raum zur Bethätigung brauchen. Bereits ist deutsches Capital in Kleinasien bei dem Bau der Bahnlinie Haidar-Pascha-Angora an der Arbeit, dem Sucz-Eanal auf dem Wege nach Indien eine Concurrenz zu schaffen, und als Zeichen der „gegenseitigen Förderung" ist auch, wie gemeldet, der deutschen Verwaltung dieser Bahnlinie schon die Bewilligung zur Errichtung eines Handelshafens in Haidar-Pascha bei Scutari crtbeilt worden. Es ist eine ungeheure Perspective, die sich eröffnet, wenn man sich vorstellt, daß einst der Land weg von der levantinischen Küste bis zum persischen Golf in deutschen Händen sein soll. Man begreift unter solchen Umständen, daß von russischer Seite Anstrengungen gemacht werden, um bei der Pforte die Bewerbungen des deutschen Capitals durch russische aus dem Felde zu schlagen. Man versteht auch, warum man in Paris nicht so sehr für das inhaltsleere Protectorat über die orientalischen Katholiken, als für die syrische Handels sphäre Frankreichs gezittert wird. Mit dem deutschen Kaufmann und Ingenieur geht auch die deutsche Macht in die überseeischen Weiten. Aber zunächst ist eS doch der Weg der friedlichen Concurrenz, auf dem sie wandelt, nicht der Weg der diplomatischen Nebenbuhlerschaft mit ihren gefährlichen Eventualitäten und Krisen. Auf dem letzteren sucht Deutschland offenbar keine Erfolge: dies zeigt am deutlichsten sein Verhalten in der kretischen Angelegen heit. Während Wilhelm II. als Gast des Sultans im Merassim-Kiosk weilt, beginnt die Pforte, der Forderung der vier Mächte nachgebend, ihre Truppen von Kreta zurückzuziehen. Ein einzige» Wort der Ermuthigung von deutscher Seite hätte sie vermuthlich zum Widerstande be stimmen können; da» Wort ist nicht gesprochen worden. Damit ist doch Wohl dargethan, daß die „gegenseitige För derung" auf einem anderen Gebiete gesucht und gefunden wird, als auf dem der Orient-Politik in ikrem engeren, durch die widerstreitenden Interessen der europäischen Mächte umgrenzten Bereiche. Die Förderung, welche der Türkei von Deutschland zu Theil wird, besteht in der fortgesetzten Be mühung der deutschen Politik, durch Erhaltung des Ltutim guo im Orient den Frieden zu sichern. Diesen Dienst vergilt die Türkei, indem sie deutschem Capital, deutschem Handel und deutscher Industrie bevorzugten Znlaß einränmt. Das soll und daö muß uns genügen. In dem Verdrusse darüber, daß durch die glänzende Auf nahme des dcntschcn Kaiser» in Konstantinopel die Stellung Deutschlands im europäischen Orient cinc weitere Befestigung erlangt, geht ein englisches Blatt so weit, dem deutsche» Kaiser Vorhaltungen darüber zu machen, daß er als christ licher Monarch dem „Mörder auf dem Throne" (diese Be zeichnung hat der Sultan seit dem Armcniergcmetzel im August 1896 von den Engländern erhalten) die Hand schüttle. Das Armeniergemetzel soll nicht gelobt werden, aber vielleicht erinnern sich ältere Leute in England noch daran, daß während deS Krimkriegs die dock gewiß sehr christlich gesinnte Königin Victoria den Kaiser Napoleon besuchte und ihm sehr herzlich die Hand schüttelte. Nun, diesen selben Kaiser Napoleon konnte man vielleicht mit mehr Recht einen Mörder auf dem Throne nennen, denn er war einige Jahre vor dem Besuche der englische» Königin nur dadurch auf den Thron gelangt, daß er Hunderte von Parisern batte nieder knallen lassen und andere Hunderte in christlicher Milde und Gnade nach den Fiebergegenden von Cayenne batte deportiren lassen, wo die Mehrzahl von ibnen elend zu Grunde ging. Das Verbrechen dieser Leute hatte darin bestanden, daß sie den bestehenden Staat, nämlich die Republik, gegen den Staatsstrcichlcr hatten unterstützen wollen, während die Armenier gegen den bestehenden Staat revoltirt batten. Napoleon also ermordete Männer der Ordnung, Glaubensgenossen und Landsleute, der Sultan ließ cs zu, daß Revolutionaire und Leute fremder Nasse und Religion getödtet wurden. Es ist also wohl nicht zweifelhaft, daß die Thal Napoleons harter beurthcilt werden muß. Und wenn die englischen Zeitungen begeisterte Artikel schrieben, als ihre Könicsin den Mörder Napoieon begrüßte, so sollen sie hübsch ruhig bleiben, wenn der Monarch eines fremden Staates dem Sultan die Hand schüktelt. Aber die Auslassung deS englischen Blattes, die wir nur andenten konnten, weil ihre vollständige Wiedergabe eine Beleidigung deS deutschen Kaisers involviren würde, zeugt nicht bloS von dem absoluten Mangel an Selbsterkenntniß bei unseren „Freunden und Gönnern" jen seits des Canals, sie belehrt uns auch über die wahre Stimmung, die in England trotz der „deutsch-englischen Entente" uns gegenüber fortgesetzt herrscht. Wenn, wie es fast anssieht, die Ungezogenheit des Londoner Blattes die Antwort auf den Brief sein soll, den Kaiser Wilhelm vor der Abreise nach Jerusalem an seine Großmutter zu schreiben sich gedrungen gefühlt bat, so wäre eS höchste Zeit, sich darauf zu besinnen, daß nicht wir es sind, die England brauchen, sondern Laß England uns braucht. Wir haben keinen Anlaß, irgend Jemandem uachzulanfen, am allerwenigsten England, das auf der Suche nach einem Bundesgenossen bis jetzt überall verschlossene Thüren gefunden hat. Die Hoffnung, daß durch den anarchistischen Anschlag auf Kaiser Wilhelm II. der Zusammentritt und die Be ratungen der Eonferenz zur Bekämpf»»- des Anarchismus wesentlich würden beschleunigt werden, wird leider wesentlich getrübt durch die folgenden Mittheilungen, die der „Kreuzztg." ans Rom zugehcn: „Mit der anerkannten Notwendigkeit, daß, wenn die Anarchisten unschädlich gemacht und wirksame Mittel ergriffen werden sollen, uni drohenden Gefahren Vorbeugen zu können, in einzelnen Staaten Abänderungen bestehender Gesetze getroffen oder Ausnahme- gcsetze geschaffen werden muffen, hängt es zusammen, daß man mit jenen Staaten, aus die es, damit die Conferenz zn einem bezüglichen Beschlüsse gelange» könne, vor Allem ankommt, noch immer nicht völlig iuS Reine gekommen ist. Die italienische Regierung wünscht, daß diese Angelegenheit vor Zu- samiuentritt der Conferenz klargestellt und hierüber nicht erst auf der Conferenz selbst verhandelt werde. Auf der Conferenz sollen vielmehr nur die Modalitäten für das Zusammenwirken sämmtlicher Staaten beschlossen und Vereinbarungen hierüber getroffen werden, wofür aber die Voraussetzung erforderlich ist, daß auch jene Staaten, bei denen sich wegen ihrer heimischen Gesetz gebung Hindernisse ergeben würden, diese vorher beseitigen werden. Daß es auch bet diesen Staaten an gutem Willen nicht fehlt, konnte man schon daraus entnehmen, daß dem Vorschläge Canevaro's sämmtliche Staaten zugestimmt haben. Es handelt sich aber jetzt um die formellen Antworten auf seinen Conserenz- vorschlag und diese liegen noch nicht vollzählig vor. Dies gilt nicht nur von der Schweiz »nd Belgien, sondern auch von England. Wie man hier glaubt, steht zn erwarten, daß von den anderen Regierungen in Brüssel, Bern und London dahin gewirkt werde, daß man auch dort die erforderlichen Ent schlüsse fasse, nm jenes gemeinfaine Vorgehen zu ermöglichen, dessen Herbeiführung eben den Zweck der Conferenz bildet. Die Action wird auch auf den Orient auszudehnen sein. Soweit es sich um die Pforte handelt, ist man der Mitwirkung derselben bereits sicher, wobei es allerdings dem Sultan darum zu thun ist, daß nicht nur dem anarchistischen Treiben, sondern auch dem von Armeniern und Jungtnrken im Nuslande ausgehenden, das man in den türkischen Kreisen auf gleiche Linie mit Sem anar chistischen stellt, gesteuert werde." Ist das richtig, so wird — wie wir von vornherein be sorgten — nickt einmal an den Zusammentritt der Conferenz im Laufe dieses Jahre« zu denken sein. Sind noch nicht einmal die formellen Antworten der Schweiz, Belgien« und Englands auf das italienische Einladungsschreiben erfolgt, wie lange wird und muß e« dann dauern, bi» man mit diesen Staaten völlig inS Reine darüber gekommen ist, was sie zu thun haben, um die in ihrer heimischen Gesetzgebung liegenden Hindernisse eine» Zusammenwirkens der Machte zu beseitigen! Und besteht nun gar derSultan darauf, daß nicht nur dem anarchistische», sondern auch dem von Armeniern und Iungtürken im AuSlande ausgehenden Treiben durch internationale Maßnahmen gesteuert werde, so kann die Zahl der anarchistischen Verbrechen riesengroß werden, bevor auck nur über die vor dem Zusammentritte der Conferenz nach dem Wunsche Italiens zu lösenden Vorfragen eine Einigung erzielt ist. Für die deutsche Reichsregierung liegt darin die dringende Mahnung, an den Reichstag so bald als möglich mit dem Entwürfe eines Gesetzes heranzntreten, der im Reiche eine schärfere Ueberwachuug der Anarchisten Feuilleton. Die kleine Lulu. I7j Seeroman von Clark Russell. Nachdruck »«rboUn. Ich legle den Sextanten eilig nieder und zog den Rock ab. „Wenn Sie bis auf eine Elle herankommen, so schlage ich Sie kurz und klein", sagte ich. Die Leute hatten inzwischen sowohl das Segel als ihre Arbeit auf dem Vorderdeck verlassen und sammelten sich hinten. „Capitain Franklin", kreischte der Maat, schäumend vor Wn'th, „befehlen Sie, daß er in Eisen gelegt wird, sehen Sie nicht, was seine Absicht ist? Wenn Sie das durchgehen lassen, wird die Brigg genommen werden. Dieser verfluchte Hund ist der Rädelsführer!" Ich hatte mich fest auf meine Beine gestellt, ihn zu empfangen, und meine Faust war bereit, auf sein Gesicht nieder zuschmettern, aber der Schurke, welcher «inen Knaben schlagen konnte, hatte nicht den Muth, mit mir anzubinden. „Ziehen Sie Ihren .Rock an und nehmen Sie Ihren Sextanten auf", sagte der Capitain barsch zu mir, zu Mr. Sloe aber: „Ich wünsch« Ruhe, alles Uebrige wird sich finden", und zu den Leuten: „Was wollt Ihr hier? Fort an Eure Arbeit! Tragt den Jungen in seine Hängematte, ein Scheuerbesen hierher!" Ich gehorchte den Befehlen H>es Capitains und der Maat ging sogleich nach hinten. Kaum'war der noch immer bewußt lose Knabe nach vorn gebracht, als Miß Franklin auf Deck kam. Als sie das Blut erblickte, stutzte sie, sah mit entsetzten, weit auf gerissenen Augen darauf hin, dann nach mir, dann rückwärts nach dem Maat, und lief dann zu ihrem Bruder. Nach kurzem Geflüster mit diesem kehrte sie in die Cajiite zurück. Ich hatte das Gefühl, daß daS Drängen der Leute nach hinten und di« Erinnerung an di« Scene, wo der Maat von ihnen niedergeschlagen worden war, mich gerettet hatte. Vielleicht war es auch ein plötzlicher Widerwille gegen die viehische Rohheit des Maats und Furcht vor den Folgen des dem Knaben ertheilten Schlages, was den Schiffer zur Unthätigkeit veranlaßt hatte. Gewiß ist, daß, wenn der eben berichtete Vorfall vor der ersten Auflehnung der Mannschaft stattgefunden hätte, sich Capitain und Maat einmüthig auf mich gestürzt haben würden; ich würde mit Eisen an den Beinen bei Wasser und Zwieback ein gesperrt und schließlich in Sydney unter Anklage der Meuterei vor Gericht gestellt worden fein. Der schwerste Schlag für den Maat war, daß der Capitain stillschweigend meine Partei genommen hatte. Er sagte später nichts zu mir über meine Einmischung; aber die finsteren, haß erfüllten Blicke, die «r mir zuwarf, verricthen mir, daß er auf Rache sann. Sein Benehmen veranlaßten mich zur Wachsamkeit gegen einen hinterlistigen Angriff seinerseits. Ich hatte an diesem Tage während der ersten Hundswache den Dienst auf Deck und nach der ersten Viertelstunde bemerkte ich gerade vor unS Rauch am Horizont. Ein frischer Seiten wind jagte diesen den Klüsen gegenüber die See entlang. Ich dachte, daß es ein heimfahrender Dampfer sei und daß wir ein ander bald begegnen würden. Unter dieser Annahme ging ich nach hinten, um zu sehen, ob auch die Signal-Leinen klar und die Signale im Flaggen-Kasten zur Hand wären. Einem nach der Heimath steuernden Schiff zu begegnen, ist auf See immer ein bemerkenswerthes Ereigniß für ein nach aus wärts segelndes Fahrzeug. Man denkt daran, daß der Fremde unseren Lieben in der Heimath Nachricht von unserem Wohl befinden bringen wird. Ich lächelte traurig über meine Eile, nach hinten zu laufen, um AlleS klar zum Signalisiren zu machen. Niemand wartete daheim auf Kunde von mir. E» gab auch kein einziges Augenpaar in ganz England, das um meinetwillen freudig aufgeleuchtet hätte bei der Nachricht, daß die „kleine Lulu" in dem und dem Breitengrad gesehen worden und an Bord Alles wohl war. Ich hielt daS Gla» unausgesetzt auf die Stelle gerichtet, wo der Rauch seinen Herd hatte, vermochte aber weder Schornstein noch Spieren zu entdecken; ich begann deshalb zu glauben, daß e» ein denselbin Cur» mit uns steuernde» Dampfschiff von sehr geringer Fahrt sei, dem wir uns allmählich näherten. Nach einer Weile brachte mich die zunehmende Dicke der horizontalen Rauchsäule auf einen neuen Gedanken. „ES sieht wie ein brennendes Schiff aus, Sir", sagte ich zu dem Capitain, welcher auf Deck gekommen war und, sich über die Verschanzung lehnend, den Rauch ebenfalls betrachtete. „Was sollte eS denn anders sein?" erwiderte er schroff, ohne nach mir hinzuseben. Dies war so dann und wann sein Be nehmen gegen mich seit dem Streit mit dem Maat. Et ging eine ganze Stunde hin, ehe der Rumpf des brennenden Schiffes in da» Gesichtrfeld des Glase» trat. So gut ich zu erkennen vermochte, war e», nach dem Schnitt seiner Backen zu urtheilen, ein große» nordamerikanischr» Schiff. ES sah auS wie eine kleine vulkanische Insel. Der Rauch stieg schwarz wie Tinte in dichten Massen empor und zog am Horizont ent lang wie der Schatten einer Küste. Ich ließ mein Auge über daS Wasser schweifen, um zu sehen, wo seine Boote wären; aber nicht da» kleinste Fleckchen war sichtbar. Einerseits um den Rauch zu vermeiden, andererseits um einen deutlicheren Anblick der Schif fes zu erhalten, brachten wir dasselbe durch eine Drehung des Rades um einen oder zwei Speichen auf unfern Lee-Bug. Alle Leute kamen an die Schanzlleidung, um es zu betrachten; sie bildeten mit ihrer bewegungslosen Haltung ihren ernst drein schauenden, bärtigen Gesichtern und ihrem leisen Geflüster die passendst«» Zuschauer für das ebenso erhabene wie furchtbare Schauspiel. Die Sonne lag schon fast auf dem Spiegel der See, als wir das Schiff längsseit bekamen; wir braßten in den Wind und drehten bei. Miß Franklin kam herauf, trat zu mir und fragte mich ängstlich, ob ich glaubte, daß noch Jemand an Bord de» Schiffes sei. Ich antwortete ihr, daß ich daS für un möglich hielte; denn kein lebendes Wesen könne in solchem Rauch existiren. Die Boote wären fort, aller Wahrscheinlichkeit nach wäre also die gesammte Bemannung schon lange abgesegelt. Die untergehende Sonne warf ihre letzten Strahlen auf den dichten Rauch und färbte ihn mit einem schmutzigen Roth. Ich dachte, der Pfuhl der Hölle könne keinen erstickenderen, entsetz licheren Qualm ausspeien. Obgleich wir uns noch eine gute Meile leewärts vom Schiffe befanden, war daS Krachen seiner Spieren, daS Zischen der glühenden S«g«l, der Raaen und deS Tauwerks beim Niederfallen ins Wasser unserm Ohr deutlich vernehmbar. Manchmal wurde der Rauch dünner und die Flammen züngelten zum Himmel empor. Wenn diese zusammen sanken, quoll der Rauch wieder mit neuer Gewalt hervor, nicht in Säulengestalt, sondern in einer Reihenfolge wolkenförmiger Massen. Es war ein tief ergreifender Anblick; denn für das Auge eines Seemanns liegt etwas Menschliches in der Hilflosig keit eines Schiffes, welches langsam von der mörderischen, rasen den Bestie — Feuer — verzehrt wird. Die Sonne ging unter und die Dunkelheit brach schnell herein; aber meilenweit war das Meer erleuchtet durch die ungeheure Fackel, welche infolge der Spiegelung im Wasser doppelt groß erschien. Der Capitain war jedenfalls von dem Anblick ebenso benommen wie wir Anderen; denn kein Ton entschlüpfte ihm. Bis neun Uhr wütheten die Flammen, dann fingen sie an in sich zusammenzufallen, und wir glaubten das Schiff würde nun sinken, als es plötzlich in die Luft flog. Es sah aus, als würde e» emporgehoben nnd da» Meer speie bi« ganz« Feuermasse auf einmal in die Höhe; mittägliche Helle herrschte weit und breit; hoch in die Luft wirbelten die Funken und leuchteten die Bruch stücke des Wracks wie riesige Kerzen in den Händen wild durch einander tanzender Geister. Dann, rasch zurückfallend aus den Lüften, versank es im Wasser und wie «ine Vision war das glänzende Schauspiel verschwunden. Finster und leer lag wieder um die weit« Ser, nur im Zenith flackerten die Sterne. „Alle Wetter! muß da ein Haufen Schießpulver drin gewesen sein!" hörte ich den Maat zum Capitain sagen. Darauf wurden dir Raaen umgebraht und die Brigg steuert« wieder ihren Curs. Miß Franklin blieb noch auf dem Deck, nachdem der Capitain und der Maat nach unten gegangen wann, d«r Erst«re zu seinem Grog und der Letztere, um zu schlafen, ehe er mich um Mitternacht abzulösen hatte. Sie starrte lange in das schwarze Wasser, als ob sie noch nicht bi« traurige Groß« und das malerisch« Schreckniß der eben geschauten Scene los werden könnte. Dann sah sie um her, bemerkte, daß ihr Bruder nicht mehr da war, und wollte ihm folgen, als ihr Auge auf mich fiel. „Ich hätte nie gedacht", sprach sie mit leiser Stimme und er schüttertem Ausdruck, „wenn ich Erzählungen von brennenden Schiffen las, daß ich einmal die Wirklichkeit sehen würde. Wie furchtbar ist der Gedanke, daß noch vor wenigen Stunden das Schiff mit starken Masten über den Ocean segelte, daß Menschen darauf lebten, die vielleicht leichten Herzens zu ihrer Arbeit sangen und an die Heimath dachten, welche sie verlassen hatten oder -:ach der sie zuriickkehrten. Wo ist es jetzt? O, solch plötzliche Vernich tung ist doch schrecklich! Sind Sie überzeugt davon, daß Nie mand an Bord zurückgeblieben ist?" Ihre Stimme klang hierbei so rührend wie die eines vor Furcht zitternden Kindes. „Wie ich schon sagte, cs läßt sich nichts Anderes annehmen, da die Boote fort sind." „Wohin mögen sie gesegelt sein?" „Wahrscheinlich auf gut Glück mit dem Winde." „Wann, denken Sie, könnten sie wohl Land erreichen?" Ich starrte sie an. „DaS nächste Land ist di« Küste von Südamerika, viele Hun dert Meilen von hier. Land zu erreichen, daran werden sie nickt denken. Ihr Plan wird sein, in einen gut befahrenen Seeweg zu gelangen uns von irgend einem Schiff ausgenommen zu werden." Sie blickte wieder träumerisch auf das schwarze, bewegte Wasser und hüllte sich schaudernd fest in ihren Shawl. Mit einem motten „Gute Nacht!" ging sie darauf in die Cajüte. Kaum war sie fort, als Pendel-Banyard, welcher noch immer seine Hängematte im Deckhaus hatte, in seiner langsamen Weise das Deck entlang kam und sagte: „De lütt Joey schient mi jo woll gor nich mir bi sik, de
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