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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.12.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-12-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981209025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898120902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898120902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-12
- Tag1898-12-09
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Neelameu unter demRebactkonSstrich (4ge- spaltea) vor den Fauülienaachrichtru (Sgespaiten) 40 «rößere Schriften laut uuserem Preis- verzeichniß. T-bellarifcher und Ziffernsatz uoch höherem Tarif. Extra-vcilagen (gefalzt), unr mit der Morgen-Ausgab«, ohur Postbeförderunx 60.—, mit Postb«förd«ruug 70.—. Anuahmeschluß siir Anzeigen' Abend-Ausgabe: Vormittazs 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eiu« halbe Stunde früher. Anzeige» sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag vou E. Pol^ in Leipzig, K24. Freitag den 9. December 1898, 92. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 9. December. „Die Abgeordneten studiren den Etat" und des halb fallen heute und morgen die Sitzungen des Reichstags auS. ES wäre unhöflich, den Grund nicht gelten ^u lassen, und auch ungerecht, denn ungefähr ein Zehntel der Herren studirt den Etat wirklich. Die Redner der ersten Eiatsberathunz werden aber nicht durchweg dieser fleißigen Minderheit cntnoinmeu, waS freilich auch unnöthig ist, denn der Reichshaushalt spielt bei dieser Erörterung gewöhnlich eine unter geordnete Rolle. Eine Besprechung der allgemeinen politischen Lage ist übrigens, da der Reichstag keine Adreßdebatte hat, bei dieser Gelegenheit am Platze. Nur Schade, daß seit Jahren dabei weniger gesagt als geredet und zwar zum Fenster hinaus geredet wird. Die bevor stehenden Debatten werden keine Ausnahme von dieser Regel der letzten zehn Jabre machen und sich höchstens durch eine Häufung von Piquanterien von ihren Vorgängerinnen unter scheiden. Die letztere Erwartung dürste es den Parlaments reportern noch drei, vier Mal ermöglichen, von einem gut besetzten Hause zu berichten. Daß der Reichstag das ihm schon jetzt von unverwöhnten Journalisten gespendete Lob ausgezeichneter Frequenz auch nach dem Weibnachtsfeste noch rechlfertigen Werve, ist sehr zu bezweifeln. DaS Eentrum hat zwar wieder den ersten Präsidenten gestellt und dadurch eine vermehrte Verantwortung für die Be schlußfähigkeit übernommen, aber der gewohnte Absentismus seiner sübveutscken Mitglieder wird doch voranSgcschen. Und die nächst den Antisemiten am meisten durch Pflichtvernach lässigung ausgezeichnete Fraction der süddeutschen Volks partei hat gar keine Veranlassung, sich so bald wieder sehen zu lassen, nachdem sie durch die unwürdige Ausführung, die ihr Mitglied Haußmann bei der Ehrung deS Andenkens Bismarcks beliebte, einen für ibre Stirn passenden Lorbeer errungen hat. Die Wähler dieses Herrn seien hiermit dazu beglückwünscht, daß ihr Vertreter eS verstanden hat, die Gefühle der großen Mehrheit des deutschen Volkes auf das Gröblichste zu verletzen und das Verhalten der Socia'.demokraten, die beim Beginn der Ge- dächlnißrede des Präsidenten daS HauS verließen, als ein verhältnißmäßig anständiges erscheinen zu lassen. Die im Präsidium vertretene Linke hat mit dem Betragen deS Herrn Haußmann herrlich debutirt, wofür nament lich auch die Freisinnige Vereinigung den Anspruch aus einen Glückwunsch erworben hat. Einige national liberale Zeitungen und Politiker, die bei den preußischen LandtagSwablen im Becken des „Schutzverbandes gegen agrarische Uebergriffe" mit der Gruppe Barth-Rickert zu einer Substanz zusammengeflvssen waren und denen deshalb die Abschwenkung der Freisinnigen Vereinigung zur Socialdemokratie einerseits und zum Centrum andererseits fatal ist, suchen Zweifel daran zu erwecken oder bestreiten direct, daß die Vereinigung durchweg für Herrn Schmidt-Bingen als zweiten Vicepräsidenten gestimmt habe. Das ist aber, wie man bestimmt weiß, der Fall ge wesen, und eS konnte auch nicht anders sein. Einmal durfte diese Gruppe, die im Reichstag wahrscheinlich, im preußischen Abgeordnetenbause sicher außer Stande ist, ohne fremde Unterstützung Anträge zu stellen, in einer Angelegenheit, die Herrn Richter wichtig erschien, sich nicht gegen diesen empören. Sodann zog den Führer des Häufchens, den Abg. vr. Siemens, sein Herz nach links und nicht zu Herrn Bassermann, einem der Mitvotanten des Börsengesctzes. Die Freisinnige Vereinigung macht Anstalten, zur „Abwehrmehrbeit" im Reichstag, die nach der „Germania" neben der „positiven Mehrheit" besteht, gerechnet zu werden. Diese Gegenüberstellung des klerikalen Blatte« bestätigt unsere Auffassung, daß es dem Centruin bei der Zulassung deS Mitgliedes einer kleinen demokratischen Fraktion zum Präsidium um die Aus pflanzung eines Drobzeichens für die Negierung zu thun gewesen ist. Herr Schmidt im Vorstand des Reichstages be deutet, daß die klerikale Partei auch künftig anders kann, als sie bei der Marinevorlage gethan. „Zur Darnachachtung!" Vorläufig zeigt der Nadicalismus auch keine sonderliche Beunruhigung wegen etwaiger positiver „Excesse" deS Centrums. Haben doch sogar die Svcialdemokraten geholfen, den Grafen Ballestrem zum ersten Präsidenten zu machen. Sich durch die Wahl eines socialdemokratischcn Schrift führers zu revanchiren, war dem Centrum versagt, da die Conservativen im Falle der Aufnahme eines Socialdemokraten inö Bureau dem Präsidium fern geblieben wären. Und so unter sich zu sein, wie in den Jahren l895 bis 1898, wäre den Klerikalen doch nicht behaglich gewesen. Wenn die „Nat.-Ztg." reckt unterrichtet ist, so haben sich in der lippischen Angelegenheit die Regierungen nunmehr dahin verständigt, daß durch den Bundesrath die Be rechtigung der lippe-detmoldiscken LandeSgesetz- gebung zur Regelung der Erbfolgefrage aner kannt werden soll. Hoffentlich bestätigt sich diese Meldung recht bald, denn nur eine derartige Entscheidung des Bundes- rathcs läßt sich mit der Reicksverfassung vereinbaren, ohne ihr Gewalt anzuthun. Leider aber wird der Meldung ein Zusatz hinzugefügt, der diese Hoffnung nicht unerheblich ein- ichränkt. Nach diesem Zusatze soll nämlich dem bezeichneten BundesrathSbeschlusse eine Erklärung des Sinnes voraus» geschickt werden, daß der Bundesrath sich zwar für zu ständig halte, in der Erbsolgefrage selbst zu entscheiden, aber von dieser Zuständigkeit keinen Gebrauch machen wolle. Mit Recht bemerkt die „Nat.-Ztg." zu diesem zweiten Theile ihrer Meldung: „Der Zweck einer derartigen Einleitung — gewissen Regierungen die Rückkehr aus der Sackgasse, in die sie sich begeben haben, zu erleichtern — ist begreiflich, weniger jedoch die Logik. Die schauin- burg-lippischcn Anträge behaupten, daß ein Streit zweier Bundes staaten vorliege, und sie verlangen nach Art. 76 Abs. 1 „Er- lcdigung" dieses Streites durch den Bundesrath. Ist ein Streit zweier Bundesstaaten wirklich vorhanden, dann, jedoch nur dann, ist der Bundesrath auf Grund des Art. 76 Abs. 1 zuständig, und dann muß er den Streit erledigen. Anerkennt er, daß eine von der lippe-detmoldischen Landesgesetzgebung zu entscheidende Frage vorliegt, so stellt er dadurch fest. Laß kein Streit zweier Bundesstaaten obwaltet, und die unausweichliche logische Folgerung hieraus ist, daß er nicht zuständig auf Grund deS Art. 76 Abs. 1 ist. Irgend einen Beschluß auf die schaum- burgischen Anträge zu fasten, ist der BundeSrath selbstverständlich zuständig, denn dieselben wüsten erledigt werden; aber es ist im vorliegenden Falle nur die selbstverständliche Zuständigkeit, sich für unzuständig zu erklären. Diese ist dem Bundesrath von keiner Seite bestritten worden. Die Anerkennung, daß die streitige Angelegenheit durch die Landesgesetzgebung von Lippe- Detmold zu entscheiden fei, ist die Erklärung der sachlichen Un zuständigkeit. Will der Bundesrath ihr, wie es scheint, eine damit unvereinbare Einleitung vorausschicken, so wird diese vielleicht in Zukunft in Vorlesungen über Logik nützlich als abschreckendes Beispiel zu verwenden sein; doch an der verfassungsrechtlich und politisch richtigen Lösung würde die Aufopferung der Logik nichts ändern; der Bundesrath würde nur eben bekunden, daß er die letztere nicht zu seiner Zuständigkeit rechne." Wir können nickt glauben, daß die Mehrheit deS Bundcs- rathS zu einer Aufopferung der Logik sich entschließen werde, um „gewissen" Regierungen aus der Sackgasse herauSzubelfen. Sollte ihm ein solches Opfer ernstlich zugemuthet werden, so könnte leicht die ganze Vereinbarung in die Brüche gehen. Gestern bat der englische Colonialminister Chamberlain wieder eine hochbedeutsame Rede in Wakefield gehalten, welche sich über die zukünftige Wellpolitik des Jnselreiches ausspricht und Tentschland als Freund und BnndeSbruder den Völkern vorstcllt. Chamberlain sagte in Bezug auf Frankreich die Zu kunft sei noch immer ungewiß; sie hänge von der Frage ab, bis zu welchem Puncte es möglich sei, zu einer Ver ständigung mit Frankreich zu gelangen, und in welchem Geiste man an eine solche Verständigung herantretcn werde. Er wolle eine herzliche Freundschaft zwischen den beiden großen Ländern be gründet sehen, doch halte er cs auch für nöthig, zu erklären, daß diese Freundschaft unverträglich mit der Politik der Er bitterung und der Chicanen sei, welche seit so vielen Jahren verfolgt werde. „Wir sind nicht gesonnen", sagte der Redner, „diese Freundschaft um den Preis von Concessionen, die ohne Gegenleistung für uns sind und die nur als Ausgangspunkt für neue Forderungen dienen, zn erkaufen." Sodann sprach der Minister über China und wies die an der Regierungspolitik von Rednern der Opposition geübte Kritik zurück. Hierbei fragte er, ob Eng land Rußland den Krieg hätte aufzwingen sollen, weil es seinen weiteren, bisher nicht offenbarten Plänen mißtraue, und ob es mit Gewalt dem natürlichen Streben Rußlands, einen eisfreien Hasen zu haben, hätte Widerstand leisten sollen. Die große Mehrheit des englischen Volkes werde eine solche Politik als unmoralisch und unheilvoll verurtheilen. „Ich glaube", fuhr der Minister fort, „eine Uebereinstimmung mit Ruß land ist zu wünschen, ich kann sogar sagen, sie ist noth- wen big. Wofern nicht sehr ernste Verwickelungen eintreten sollten, stellen sich keine unübersteiglichen Hindernisse einer freundschaft lichen Regelung entgegen, welche die vernünftigen Bestrebungen Rußlands mit der entschiedenen Politik dieses Landes versöhnen würde, die folgende ist: Aufrechterhaltung gleicher Gelegenheiten für den Handel aller anderen Nationen. — Am Schlüsse seiner Ausführungen, betreffend die Aufrecht erhaltung freien Handels in China, sagte der Minister: „Ich glaube, daß meine Hoffnungen in dieser Richtung wohlgegründete sind, denn unsere Interessen werden von Japan, Deutschland und Amerika getheilt; Alle haben sie die gleichen Interessen." Chamberlain führte eine Stelle der letzten Botschaft des Präsidenten Mac Kinley an und sagt«, er glaube, in Zukunft werden die Engländer nicht die einzigen Wächter der „offenen Thür" sein. — Chamberlain wandte sich sodann der Frage der Allianzen zn nnd sagte: „Wir sind bereit, unsere eigenen Be sitzungen und unsere ausschließlichen Interessen allein zu Ver theidigen; dafür verlangen wir keine Beihilfe, dafür haben wir keine Allianz nöthig. Aber es giebt andere Interessen, welche wir mit Anderen »heilen. Ist es nicht vernünftig, daran zu denken, daß es ein gewisses Zusammenwirken gäbe, um diese Interessen zu fördern? Ich gestatte mir, gewissen unserer deutschen Freunde zu sagen, daß eS müßig ist, von einer Allianz zu sprechen, wo der Vortheil gänzlich auf einer Seite ist. Wir verlangen nicht, daß sie unsere Kastanien aus dem Feuer holen, nnd wollen ihre Kastanien nicht aus dem Feuer holen. Aber was hat sich, was Deutschland betrifft, ereignet? Wir haben mittels eines freundschaftlichen und redlichen Ge dankenaustausches festgestellt, daß es sehr wichtige Fragen giebt, welche die deutschen Interessen ebenso wie die englischen Interessen berühren. Wir können uns verständigen, uns helfen und können unterlassen, in diesen Fragen einer die Politik des anderen zu behindern. Und rin Augenblick der Ueberlegung wird beweisen, daß die englischen unddie deutschen Interessen in keinemTheile der Erde in ernstlichem Widerstreit sind. Ich glaube da- her, wir können hoffen, daß in Zukunft die beiden Nationen, die größte Flottenmacht der Welt und die größte militai- rische Macht, sich häufiger einander nähern können und daß unser gemeinsamer Einfluß im Interesse des Friedens und des freien Handels angewandt werden könne. Er wird in diesem Falle mächtiger sein, als der Einfluß der einen oder der anderen Macht allein. Inzwischen ist angesichts der jetzigen Weltlage die Freundschaft Englands nicht zu verachten. Ich kann unseren deutschen Freunden die Versicherung geben, daß, wenn jemals unsere Interessen nicht die gleichen sind, wenn je unsere Ziele nicht von ihnen gebilligt werden, wir ihre Mitwirkung nicht von ihnen verlangen und sie nicht wollen werden. Aber einstweilen behaupte ich, daß diese Entente mit Deutschland ein Erfolg ist und nicht der geringste derjenigen, die die Regierung erreicht hat. Wenn ich Sie, meine Herren, zu der Entwickelung der guten Gesinnungen zwischen uns und der großen Festlandsmacht beglück wünsche, so freue ich mich noch mehr über die Entwickelung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen uns und unseren Colonien, sowie zwischen uns und den Vereinigten Staaten. Wenn wir die Freundschaft der angelsächsischen Rasse besitzen, giebt es keine andere Combination, welche uns Furcht einflößen könnte. UnS in Deutschland interessirt fast ausschließlich an dieser Rede, daß sie feststellt: 1) es hat zwischen dem Auswärtigen Amte in Berlin und dem in London ein freundschaftlicher Gedankenaustausch staltgefunden; 2) als Erfolg dieses Gedankenaustausches ist der Abschluß einer deutsch-engli schen Entente zu betrachten. Daß Verhandlungen zwischen den Leitern der deutschen und der englischen Politik im Gange waren, wußte Jedermann, aber während man bisher noch nicht behaupten konnte, daß die getroffene Vereinbarung über ein Abkommen acl üoc, nämlich in Bezug auf die Dela- goabai und Südafrika, binauSginge, scheint die gestrige Rede Chamberlain'S keinen Zweifel darüber zu lassen, daß die „größte Flottenmacht und die größte militairische Macht" übereingekommen sind, in allen den Fällen, in welchen ihre Interessen identisch sind, sich „zu nähern" und ihren „gemein samen Einfluß" aufzubieten. So unklar an einzelnen Stellen die Rede Chamberlain'S oder der Bericht über dieselbe auch ist, so viel scheint klar, daß ein auch auf die Zukunft sich erstreckendes Einvernehmen Deutschlands und Englands perfect geworden ist. Fragt man aber, worauf dieses sich im Einzelnen erstrecken soll, so versagt die Rede des englischen FrnrHeton» Die Lettelmaid. 25j Roman von Fitzgerald Molloy. Nachdruck verboten. Während er mit zu Boden gesenktem Haupt sinnend vor sich hinstarrte, öffnete sich wie damals leise eine kleine Tapetenthüre und Mrs. Stonex trat ein. Diesmal trug sie einen dunkelrothen Plüschmorgenrock. Sie reichte dem Künstler freundlich die Hand und eröffnete die Conversation mit einer Bemerkung über das herrliche Herbstwetter. Marcus fand, daß sie heute weit blühender aussah als sonst und daß ihre grauen Augen ihn ängstlich fragend anblickten. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn, denn er sagte sich, daß der Zweck seines heutigen Besuches eigentlich sehr peinlicher Natur sei. Unter welchem Vorwande sollte er das Bild zurückverlangen? Die Wahrheit wollte und konnte er nicht gestehen, ebenso wenig Capri's Namen nennen. Mrs. Stonex mußte ja früher oder später von der Verlobung Lord Harrick's mit dem Original der „Bettelmaid" hören, — mochte sie dann selbst ihre Schlüffe ziehen aus der Thatsache, daß er um jeden Preis das Bild wieder sein eigen nennen wolle. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, was die Hausfrau ihm von dem Atelier Roffeti's und dessen neuem Kunstwerk erzählte. Sie hinwiederum fragte sich, während sie plauderte, was Marc ver anlaßt haben mochte, zu so ungewohnter Stunde bei ihr vor zusprechen. „Sie waren so liebenswürdig, sich für mein Bild zu ver wenden", begann er stotternd, nachdem sie ihre Schilderung be endet, „und Sie werden es vielleicht sehr anmaßend finden, daß ich Ihre Güte noch einmal in Anspruch nehmen und Sie bitten muß, Lord Harrick den Check wieder einzuhändigen." Mrs. Stonex blickte erstaunt zu ihm auf und konnte gar nicht begreifen, weshalb er das Geld zuriickgeben wolle. Da sie jedoch seine wachsende Verlegenheit bemerkte, entgegnete sie: „Es war mir eine große Freude, zwischen Ihnen nnd dem Lord die Vermittlerin zu spielen." „Sie werden es vielleicht als eine Laune und Undankbarkeit auffaffen, wenn ich Ihnen versichere, daß ich da» Bild um jeden Preis zurückhaben möchte!" Nun war's heraus und eine Centnerlast von ihm gewichen. „Habe ich recht verstanden? Sie wünschen „die Bettelmaid" don Lord Harrick zurückzuhaben?" „Ja, denn ich möchte es lieber in jeder anderen Hand als in der seinigen wissen", entgegnete er erregt. Mrs. Stonex ließ ihren Blick forschend auf seinem Gesicht ruhen, was ihm das Blut heiß in die Wangen trieb. In seiner Verwirrung wünschte er sich weit weg von ihr. Eine peinliche Pause entstand; wie ein Blitz durchzuckte sie plötzlich ein Gedanke. Gestern Abend war ein dunkles Gerücht von Lord Harrick's Ver lobung mit einem Mädchen aus dem Volke zu ihr gedrungen, das konnte nur Capri sein, und was sie bis jetzt nur vermuthet, ward ihr zur Gewißheit — der junge Maler liebte das Original der „Bettelmaid"! Wie grausam war doch das Schicksal! Sie brachte ihm den reichen Schatz ihrer Liebe entgegen und er ging achtlos daran vorüber, ohne ihn zu heben, während das Mädchen seiner Wahl einem Anderen die Hand zum ewigen Bunde reichte. Sie seufzte tief auf, dann sagte sie sanft und weich: „Ich glaube nicht, daß der Lord unter den jetzigen Umständen das Bild zuriickgeben wird." Er fühlte aus ihren Worten, daß sie seine Lage erkannt hatte und erwiderte mit zu Boden gesenktem Haupte: „Es thut mir leid, Sie belästigt zu haben; wenn Sie ge statten, will ich selbst dem Lord schreiben." Sie überlegte einen Augenblick. Er blickte verstohlen zu ihr auf und mußte sich gestehen, daß sie in diesem Augenblick schön und anmuthig war wie die Göttin der Barmherzigkeit. „Wenn Sie es für weise halten, das Bild zu besitzen, wird eS schon am besten sein. Sie selbst schreiben dem Lord." „Weise mag es vielleicht nicht sein, aber es ist mtr Bedürfniß, dasselbe wieder zu besitzen . . ." „Glauben Sie ja nicht, daß ich die Mühe scheue . . ., Ihnen einen Dienst zu erweisen, wär« mir kein Opfer zu groß", ent schlüpfte e» ihren Lippen, ohne daß sie es wollte. „Daran zweifle ich nicht, haben Sie mir ja schon so diel Güte entgegengrbracht", stammelte er, sich erhebend. „Müssen Sie schon gehen?" fragte sie leise. „Ich bin zu einer ungewöhnlichen Stunde gekommen und fürchte, Sie zu stören." „Ich hatte und habe nichts vor", entgegnete sie rasch. Er glaubte darin eine Einladung zum Bleiben zu hören und nahm wieder Platz. Und das wollte sie auch, denn sie konnte es nicht über sich bringen, ihn ohne Trostworte gehen zu lassen und doch vermochte sie in ihrer weiblichen Schüchternheit nicht gleich zu sprechen. Sie bedauerte ihn von ganzem Herzen, denn ihre Liebe für ihn war so rein, so selbstlos und wahr, daß sie gerne ihre eigenen Hoffnungen und Wünsche ertödtet hätte, um ibn glücklich zu sehen. Die Sonne schien hell und freundlich ins Gemach, der Blumenduft aus dem anstoßenden Wintergarten erfüllte die Luft. „Gedenken Sie London zu verlassen?" fragte sie leise, nachdem sie sich ein wenig gefaßt. „Ja, ich habe mich entschlossen, aufs Land zu gehen und dort fleißig zu arbeiten." z „Das wollte ich Ihnen eben rathen", sagte sie, „eine voll ständige Veränderung der Lebensweise wird Ihnen sehr wohl thun." „Ich selbst fühle, daß ich meinen Geist beschäftigen muß. — Die Stadtluft ist auch so heiß und drückend, daß sie mich zu ersticken droht." „Kennen Sie die Bretagne? Im Herbst ist sie wunderbar und es giebt entlegene Theile, die von den Touristen nicht heimgesucht werden." „Nein; ich habe sie noch nie besucht!" „Dann sollten Sie dahin gehen; d'- friedliche Ruhe Ivird Ihre Nerven stärken." Ihre grauen Augen ruhten voll Mitgefühl auf seinem betrübten Antlitz. Sie hätte, ohne sich eine Minute zu bedenken, ihr ganzes Vermögen geopfert, wenn sie damit wieder Sonnenschein auf dasselbe hätte zaubern können. Der schmerz liche Ausdruck in seinen sonst so freundlichen, muntern Augen that ihr unendlich weh'; sie hatte das Bedürfniß, ihm auf irgend eine Weise zu zeigen, wie tief sie mit ihm fühlte. Aber wie es so oft der Fall, daß uns, wenn wir es am meisten wünschen, die richtigen Worte fehlen, um die Gedanken, die unser Hirn kreuzen und die Gefühle, die unser Herz beseelen, auszudrücken, so erging es auch Mrs. Stonex; ihre Zunge versagte ihr den Dienst und sie blickte verwirrt und hilflos zu Boden. Marcus Phillips saß da, als ob auch ihn ein Zauber gebannt hielt. Nur um die peinliche Pause zu brechen, bemerkte die Hausfrau: „Die Landschaft in der Bretagne ist wundervoll — Sie werden der allgewaltigen Mutter Natur Manches ablauschen — sie lehrt uns in ihrer Güte so viele nützliche Dinge, wenn wir nur die Geduld hätten, unS ihre Lehren zu Nutze zu machen. In ihrem Schooße ruht sich's sanft und weich." Auf den jungen Künstler wirkte ihre vor Verlegenheit und Erregung zitternde Stimme wie lindernder Balsam. Er wunderte sich selbst über die Ruhe, die ihn plötzlich überkam, denn noch vor einer Stunde hatte er geglaubt, daß ei Monate, nein, Jahre dauern würde, ehe der Sturm sich in seinem Innern legen würde. „Mr. Phillips, ich will und kann nicht leugnen, daß ich von dem tiefen Schmerz, der Sie betreffs, Kenntniß habe", kam es plötzlich von ihren Lippen. Marcus rührte und bewegte sich nicht. „Ich weiß, daß Sie vom Schicksal einen Schlag empfangen haben, der Ihnen vielleicht jeden Glauben an das weibliche Ge schlecht raubt." Er sprach noch immer nicht, aber heiße Blutwellen stiegen ihm ins Gesicht. „Ein solcher Schmerz", fuhr sie tapfer fort, „stählt das Herz. Dulden macht stark. — Vergessen Sie nicht, daß auch Andere vor Ihnen solchen Kummer geduldig und ohne Klage, vor der Welt verborgen, tragen mußten." „Das mag sein", entgegnete er endlich. Aber ich glaube. Jeder, den ein solcher Schmerz trifft, bildet sich ein, daß noch Niemand vor ihm so schwer gelitten wie er. Seelen- und Körper leiden lassen sich nicht messen und wiegen, Jeder glaubt, unter den seinigen zusammenbrechen zu müssen." „Ich weiß, was Seelenleid heißt", flüsterte sie, „und weiß auch, wie einsam und verlassen man sich in einem solchen Falle, wie der Ihrige, fühlt. — Es drängte mich, Ihnen mein Mit gefühl auszusprechen." — „Ich dank» Ihnen von ganzem Herzen! Sie ahnen gar nicht, welche Wohlthat Sie mir erwiesen. — Ich werde Ihre freund lichen Worte nie, nie vergessen!" rief er gerührt. Ein glückliches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und verklärte ihr liebliches Gesicht. Marcus bemerkte jetzt zum ersten Mal voller Er staunen, wie schön diese Frau war. „Es giebt Naturen", fuhr sie lebhaft fort, „die sich von herben Schicksalschlägen niederdrücken lassen und dann hartherzig werden, andere wieder, die das Leid besser und edler macht. — Lassen Sie sich durch Ihre Enttäuschungen nicht den Glauben an die Menschheit rauben, und seien Sie versichert, daß es auf Erden auch treue Frauenherzcn giebt!" „Ich war nahe daran, meinen Glauben an dieselbe zu ver lieren und in einen Skepticismus zu verfallen, der mein ganzes Leben verbittert haben würde, aber Ihre freundlichen Mah nungen haben mich davor bewahrt. — Was auch kommen mag, diese Stunde wird mir unvergeßlich bleiben", stieß er rasch her vor, wie Jemand, dem die Worte aus warmem Herzen strömen. Etwas, wie eine Thräne, schimmerte in seinen ehrlichen, blauen Augen. Wenn sie ihm nur hätte sagen können, wie innig und leiden« schriftlich sie ihn liebte, wie sie sich darnach sehnte, ibm ihre Zärt lichkeit zu beweisen, und ihm zu gestehen, daß er der einzige Mann sei, dem sie gerne ihr Herz und ihre Ehre anvertrauen würde, um den dornigen Pfad de» Leben» mit ihm zusammen
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