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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.05.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-05-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960529019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896052901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896052901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Bemerkung
- Bindung fehlerhaft: Seiten in falscher Reihenfolge
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-05
- Tag1896-05-29
- Monat1896-05
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Reclameu unter dem Redactionsstrich (4ge- spaltrn) 50^, vor den Familiennachrichten (Sgejpatteu) 40^. Vrößere Schriften laut unserem Preis- verzrichaiß. Tabellarischer und Zissrrnsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4UHL Bet den Filialen und Annahmestellen je »in« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets au die Ex-edtttsn zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 96. Jahrgang. Frankreich unter dem Zeichen der russischen Lrönungsfeier. 6. Paris, 26. Mai. Die saure Gurkenzeit ist Heuer in Paris recht früh zeitig eingrtreten. DaS neue Ministerium hat zu er hitzten Fehden noch wenig Stoss gegeben, die Reise des Präsidenten ist nicht übermäßig interessant und gegen die schwungvollen Reden des ExininisterS Bourgeois sind die Pariser im Grunde ebenso gleichgültig wie gegen die Kämpfe im Lager der Socialisten, wo Millerand, Jaurös und Genossen jetzt eine reinliche Scheidung zwischen den echten Revolu- tionairen und den zweifelhaften compromißfreundlichen Ele menten vollziehen. Ein grauenhafter Mord kam den Blätter« recht gelegen. Man pflegt über solche Dinge auch sonst hier gern recht ausführlich zu berichten, aber daß man einen ganzen Briefwechsel des Er ¬ mordeten mit seinem Vater veröffentlicht, daß man spalten lang unter verlockenden Titeln die Vorgeschichte des Mörders erzählt, ja selbst Gedichte von ihm abdruckt, ist für Ende Mai doch recht bedentlich. Neben dem cackavro cians la cuMse sind es nur noch die KrönungSseierlichkeiten in Moskau, die die riesigen Seiten der Pariser Blätter füllen. I-s oourounsmsut äu Isar, des jungen Zaren, von dem man noch so wenig weiß und von dem man so viel er wartet! Täglich erscheinen lange Leitartikel, und täglich kommen lange Berichte der Moskauer Correspondenten, einzelne Zeitungen bringen Abbildungen im Text, andere sogar illustrirte Sondernummern. Man weiß, welche An strengungen gemacht worden sind, um die Gratulanten der Republik hinter den Fürstlichkeiten, die von anderen Ländern gesandt worden sind, nicht zurückstehen zu lassen, man kennt die Unterredung des Präsidenten mit der Kaiserin-Wittwe aus diesem Anlaß und den Jubel darüber, daß die hohe Dame gesagt haben soll (!), sie hoffe künftighin nicht mehr soweit reisen zu müssen, um die französische Grenze zu erreichen. (!) Heute ist nun endlich der große Tag angebrochen. Die Stadt ist festlich geschmückt und überall sieht man Fahnen von den öffentlichen und privaten Gebäuden herniederwehen. Er macht sich ganz hübsch, der russische Doppeladler neben der Tricolore, und läßt sich daS goldene k k auf blauem Grunde, das an den öffentlichen Gebäuden zwischen den Flaggen prangt, nicht sinnig als kussio—b'rnucs deuten? Rußland natürlich an erster Stelle, denn der bekannte Anti semit Drumont, einer der wenigen Zeitungsschreiber, die dem heutigen FesteSjubel kühl bis änS Herz gegenüberstehen, be merkt ganz richtig: „Wir haben stets die Haltung eines jungen Mädchens gehabt, daS entzückt ist, sich vor der Welt in Gesellschaft einer großen Dame zeigen zu können, und das vor Entzücken roth wird, wenn man «hm sagt: Kind setze dich: ich erlaube es dir." Außer dem Schmuck der Straßen ist nicht allzu viel von dem „Nationalfeste", wie es die Zeitungen nennen, zu bemerken. Allerdings sind heute früh auf Befehl des Kriegsministers sämmtlichen russischen Gesandten und Consuln Ständchen gebracht worden, allerdings hat irgendwo lü-das, ich glaube in Besancon, ein Bischof die Glocken läuten lassen, wie denn auch der Armee und der Schule ein Pfingstfeiertag zugegeben worden ist, und gewiß wird heute Abend in der Oper, wenn 1» 58te russs gegeben wird, ein frenetischer Jubel loSbrechen, und das Publicum wird stehend der russischen Hymne andächtig — lauschen (denn in der Kenntniß der Sprache ihrer Brüder im Osten haben es die meisten Franzosen noch nicht über das Lors 2arju oluaui hinauSgebracht) und dann die Marseillaise um so kräftiger mitsingen. Aber sonst geht Alles seinen gewohnten Gang. Die Läden sind offen und auf der Börse, deren Schließung in Aussicht genommen worden war, herrscht ein ebenso wüster Lärm wie sonst. Vielleicht hat man dort in Russen heute riesige Geschäfte gemacht. Die Begeisterung des so ganz unbeiligen Frankreich für das heilige Rußland — man denke sich Faure, den Repräsen tanten der atheistischen Republik, mit seinem Stabe in der Eapelle der russischen Gesandtschaft für daS Heil Rußlands und des Zaren beten! — hat so viel Komisches an sich, daß man nicht anders kann, als sich darüber lustig zu machen, wenn man sie auch nicht gar zu sehr unterschätzen darf. Es ist ja bekanntlich nicht zu fürchten, daß Rußland sich in einen Krieg hineinstürzen wird, um für die Freunde Elsaß und Lothringen wiederzugewinnen. Aber wenn cs einmal, wozu allerdings kein Anlaß vorliegt, in abseh barer Zeit zu einem Conflicte zwischen ihm und Deutsch land kommen sollte, wird es sicherlich in Frank reich einen schnell bereiten und thatkräftigen Bundesgenossen finden. Und dieser Conflict ist es, den man hier erhofft und auf den von gewisser Seite eifrig hingearbeitet wird. Man greift nicht jo oft und tief für einen Freund in den Geldbeutel, wenn man nicht sicher auf einstige Belohnung rechnet. Interessant ist es, die besseren Zeitungen über diesen Gegenstand zu studiren. Da ist nirgends die Rede von Krieg oder Revanche oder direct vom Elsaß. Da spricht man nur vom „Schutze des Weltfriedens", der ewig vom Dreibünde bedroht sei. Aber man muß verstehen zwischen den Zeilen zu lesen, wenn der officiöse „TempS" in einem Artikel über das russische Krönungsfest schreibt: „Es wird keinem Wider spruche begegnen, wenn man behauptet, daß Frankreich mit den aufrichtigsten Glückwünschen für den Kaiser und die kaiserliche Familie nicht minder aufrichtige Wünsche für den Fortbestand deS Weltfriedens verbmdet, dessen zuver lässiges Unterpfand unbegrenzte Entwickelung des Gedeihens und der Wohlfahrt für Frankreichs Verbündeten und für Frankreich selbst ist. Indcß der Friede, den Frankreich im Einverständniß mit Rußland wünscht, ist kein unthätiger Friede, nicht nur Abdankung und Verzicht. ES ist ein thätiger Friede, ein Friede, der unentwegt daran arbeitet, das Werk des Krieges zu zerstören durch den Fortschritt der Idee der Gerechtigkeit wie durch die Entfaltung einer materiellen Macht, die, um sich fürchten zu machen, sich nur sehen zu lassen braucht. Die Stärke unserer Armee ist ein Element dieses wiederberstellenden Friedens; aber die sittliche Cultur und die unermüdliche An strengung, die „Achtung vor dem Rechte" zu erweitern, ist ein anderes noch wichtigeres Element. Wenn wir dieser doppelten Ausgabe getreu bleiben, kann unS „der Lohn in der Zukunft" nicht anSbleiben." *) Man rechnet darauf, daß diese Sprache in Petersburg verstanden wird, und giebt sich trotz mancher *) Wie uns der Telegraph aus Berlin meldet, hebt auch die „Nordd. Allg. Ztg." diesen Passus au- dem „Temps"-Artikel als besonders bemerkenswerth heraus. D. Red. d. „Lpz. Tgbl." Enttäuschung heute um so größeren Hoffnungen hin, als der Zar erst kürzlich französische Soldaten seine Kameraden ge nannt bat, Frankreich heute die russische Krönungsfeier als ein Nationalfest begebt und der Hobe „Verbündete" an der Newa besonders darüber entzückt sein soll, daß Prä sident Fanre dem französischen Heere durch Freigabe des 26. Mai Gelegenheit gegeben bat, sich bei verdreifachter Weinration mit dem russischen im Geiste zu vereinen. Aber dabei ist man völlig blind dafür, daß die französische Ueberschwänglichkeit von Rußland wohl mit bestem Dank acceptirt wird, daß aber trotz alledem, wie neulich die „Hamb. Nachr." sagten, keine einzige russische Patrone eher verschossen wird, als dies durch russische Interessen geboten erscheint. Derselbe Drumont schreibt: „Der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, warum alle diese Republikaner, die Nachfolger der Königs-Tödter und Tyrannen - Aus- rotter von 1793, Fahnen auSstecken aus Anlaß der Krönung eines Selbstherrschers, der niemals mit uns einen Bündniß-Vertrag bat schließen wollen. Trotzalledem fühlt man, daß der Enthusiasmus für Rußland sich ein wenig abgekllhtt und daß das Volk manche von seinen Illusionen verloren bat . . . Rußland hat uns benutzt für Alles, was seinen Plänen dienen konnte, und es hat uns keinerlei Gegenleistung geboten. Es hat damit angefangen, von uns sieben Milliarden zu leihen. Es hat sich unser bedient, um Japan einzuscküchtcrn, und hat im äußersten Orient alle nur erdenklichen Vortheile erlangt. Es hat uns verboten, unseren seit Jahrhunderten hergebrachten Schutz über die Ebristen im Orient auszuübcn, und Frankreich hat ohne Widerspruch Tausende von Armeniern erwürgen lassen . . . . Vielleicht, wenn wir etwas verlangt hätten, so hätte Rußland uns eine Gegenleistung gewähren müssen. In Wirklichkeit haben wir niemals etwas zu fordern gewagt." Nun, heute ist von „Abkühlung deS Enthusiasmus" für Rußland und alles Russische allerdings wenig zu merken, und wenn es der russischen Diplomatie gelingt, den fränkischen Thatendrang von dem „elsaß-lothringischen Problem" ab- und gemeinsamen großen Aufgaben auf colonisatorisckem Gebiete zuzulenken — und solches ist ja offenbar im Werke —, so braucht man in Deutschland, was man wohl ohnehin kaum thut, über den Pariser Russenjubel nicht scheel zu sehen. Deutsches Reich. Berlin, 28. Mai. Der Präsident des preußischen Kammergerichts, Herr Drenk mann, hat sich nicht nur für den sogenannten Assessorenparagraphcn, sondern auch für eine Beschränkung der Zulassung zur Advocatur aus gesprochen. Darin liegt ein Widerspruch in sich selbst. Denn durch die Annahme des Assessorcnparagraphen würde der Andrang zur Arvocatur noch gesteigert werden. Gleichzeitig die Zulassung zum Richterslande und zur Advocatur erschweren, heißt aber nichts Anderes, als Hunderte von Fachjuristen, die durch die Einseitigkeit ihrer Vorbildung — diese Vorbildung sollte freilich eine praktische und vielseitige sein, aber wir müssen die Dinge nehmen, wie sie leider nun einmal liegen — in anderen Berufen eine nützliche Verwerthung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten nicht finden können, dem Elende l Preisgeben. Will man die unleugbare Ueberfüllung der Advocatur und die daraus erwachsenden Schäden beseitigen, so muß man von unten her vorgehen, d. b. das juristische Studium erschweren. Die Wirkung einer solchen Maßregel würde sich freilich erst nach einer Reihe von Jahren zeigen. In der Zwischenzeit aber könnte man den vorhandenen Uebel- ständcn dadurch abzuhelfen suchen, daß man den Anwalts kammern bezw. den Ehrengerichten möglichst oft in Erinnerung brächte, von ihren diSciplinaren Befugnissen gegen Mitglieder, die sich des Standes nicht würdig benehmen, einen schärferen und häufigeren Gebrauch zu machen, als es leider geschieht. Tenn daS darf allerdings nicht geleugnet werden, daß die Freizügigkeit der Advocatur in den großen Städten eine über große Anhäufung von Anwälten hervorgcrufen hat. Dadurch ist, da insbesondere die Vertheilung der Praxis auf die ein zelnen Anwälte eine sehr ungleichmäßige ist, mancher Anwalt kaum in der Lage, die Kosten der Unterhaltung seines Bureaus zu decken, geschweige denn seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In solch übler Lage hat nicht jeder Anwalt die Charakterfestigkeit, sich lieber durchzuquälen oder nach einer kleinen Stadt über zusiedeln, als sich eine Praxis mit Mitteln zu schaffen, die das Ansehen des ganzen Standes herabzudrücken geeignet sind. Uns sind Fälle genug bekannt, in denen Anwälte ihren College« eine sehr unwürdige Concurrenz gemacht haben und machen, und diese Fälle sind auch vielen College» sehr Wohl bekannt, aber ein jeder fürchtet sich, derartige Dinge zur officiellen Kenntniß des Ehrengerichts zu bringen, einerseits aus einem übel angebrachten Mitleid mit dem betreffenden College«, andererseits in der Besorgniß, den Eindruck zu er wecken, als ob er einen lästigen Concurrenten den Garaus machen wolle. Diese übermäßige Feinfühligkeit des ehren haften Theiles der Anwälte — und das ist glücklicherweise die weit überwiegende Mehrheit — erschwert die Tbätigkeil der Ehrengerichte außerordentlich. So tragen die Anwälte selbst die Schuld daran, daß Angriffe auf die Freiheit der Advocatur unternommen werden und daß diesen Angriffen eine gewiße Berechtigung nicht abgesprochen werden kann. Deshalb liegt cS im wohlverstandenen Interesse der Anwälte, sich von den Elementen, die dem Stande keine Ehre bereiten, frei zu machen. Dazu bieten die bestehenden Institutionen eine völlig ausreichende Gelegenheit, und es ist darum nicht erforderlich, zu einer so tief eingreifenden, so viele Existenzen bedrohenden Maßregel zu greifen, wie sie Herr Drenkmann vorschlägt. Hier wie in vielen anderen Fällen ist es viel politischer, vorhandene Gesetze auszubauen, als die vor kaum zwei Jahrzehnten geschaffenen Einrichtungen wieder um- zustürzen. ts Berlin, 28. Mai. Unter den Beschlüssen, welche die Commission zur Vorberatbung des Bürgerlichen Gesetz buchs abweichend von der Vorlage gefaßt hat, begegnen die jenigen über den Ersatz von Wildschaden nicht uner heblichen Bedenken. Es ist bei der ungemeinen Verschieden heit der einschlagenden Verhältnisse an sich zweifelhaft, ob die Frage des Wildschadens sich zur reichsgesetzlichen Regelung eignet und nickt besser der landcsgesetzlicken Regelung über lassen bleibt. Soll aber dieRegelung von Reichswegen einheitlich erfolgen, so wird jedenfalls der Ersatz des durch Hasen herbeige führten Schadens zu streichen sein, weil da, wo solcher Schaden wirklich in nennenswerthem Umfange vorkommt, wie bei Gärten und Baumpflanzungen, Zeder sich selbst durch billige Zäune, Anstriche u. s. w. leicht schützen kann, andererseits Feuilleton. Dichterftimmen aus dem Volke. Nachdruck «»roten. I. Unter diesem Titel beginnt der Preßburger Literarhistoriker Professor K. Weiß-Schrattenthal die Herausgabe der dichte rischen Erzeugnisse einer Reihe von Männern und Frauen aus den mittleren und unteren Schichten des deutschen Volkes, die ohne Das, waS man gemeinhin unter höherer Bildung versteht, auS sich selbst heraus, aus dem Quell natürlicher Begabung eS zu brachtenswerthen, zum Theil hervorragenden Leistungen auf dem Gebiete der Poesie, hauptsächlich der Lyrik und der lyrischen Epik, gebracht haben. Der Name Schrattenthal ist mit dieser neuesten SpecieS der Volksdichter von GotteS Gnaden auf das Engste verknüpft, und eS wird ihm ein dauernder Platz in der deutschen Literargeschichte nicht vor enthalten bleiben können, wenn eS ihm gelingt, durch seine Ver öffentlichungen thatsächlich den Beweis zu führen, daß wir uns mitten in einer Epoche moderner Meistersänger befinden, die mit der bekannten Zunft deS Mittelalters Das gemein haben, daß sie aus dem Volke hervorgegangen find, sich von ihnen aber da durch unterschieden, daß sie, statt in der dichterischen Form Meister zu sein, worauf m jener Periode unserer heimischen Literatur der Hauptwerth gelegt wurde, an dichterischer An schauung, tiefer Empfindung und hohem Schwung der Phan tasie, WaS wir, die gebildete Form als selbstverständlich voraussetzend, von einem Dichter in erster Linie verlangen, als berufene Vertreter einer Richtung sich erweisen, die auS der modernen Culturentwickelung resultirend, als charakte ristischer und unentbehrlicher Zug in dem GeisteSbilde unserer Zeit in Anspruch genommen werden und als vollberechtigte Interpretation der Volksseele schlechterdings nicht übergangen werden darf. WaS Schrattenthal auf diesem noch wenig angebauten, aber deS Ausbaues harrenden Terrain bereit- geleistet hat, läßt die Hoffnung berechtigt erscheinen, daß er unS nichts Unreife-, nicht Dutzendwaare und dilettantenhafte Anläufe sogenannter „Localdichter" von ephemerer oder überhaupt keiner Bedeutung vorführen, sondern unS mit Dichtern und Dichterinnen bekannt machen wird, die thatsächlich typisch für die bezeichnete Strömung sind und, wenn auch nicht an unsere Heroen der Dichtkunst deranreichrn, so doch neben zahlreichen Namen von Bedeutung sich sehr wohl sehen laßen können. Wir erinnern nur an die unseren Lesern bekannten Au-gabea der Poesien der bayerischen Naturdichterin Katharina Koch, die namentlich für da- moderne Kirchenlied Hervor ragendes und Vorbildliches geschaffen, aber auch sonst, neben Unbedeutendem, ergreifende lyrische und machtvolle patriotische Accorde angeschlagen hat, sowie an die Einführung der ost preußischen Bäuerin Iobanna Ambrosius in die Literatur. Was die Letztere anbelangt, so ist Schrattenthal bekannt lich vor Kurzem aus der Reihe unserer zunftmäßigen Literar historiker ein heftiger Gegner erstanden, der mit schwerem wissenschaftlichen Rüstzeug gegen die schriftstellernden und dichtenden Frauen der Gegenwart einen guerra rr tonäo unternommen hat und neben vielem Unhaltbaren und von völliger Verkennung des Naturgemäßen in der modernen Culturentwickelung zeugenden unleugbar sich das Verdienst erworben hat, auf die Auswüchse dieser an sich erfreulichen Erscheinung hingewiesen, auf die Gefahren derselben aufmerk sam gemacht und das in unerträglicher Weise sich vor drängende weibliche Dilettantenthum gebührend gegeißelt und in die Schranken gewiesen zu haben, mit seiner überscharfen Polemik gegen Johanna Ambrosius und ihren Herold Schrattenthal, wie Rudolf v. Gottschall den bescheidenen und doch hochverdienten Preßburger Realschulprofessor genannt hat, aber weit über das Ziel binausgesckossen ist. Er hat es bemängelt, daß Schrattenthal die ostpreußische Dichterin als eine in bitterer Armuth ringende, von höherer Bildung so aut wie abgeschnittene Bäuerin hingestellt hat, er hat ihre Leistungen als tbeilweise reckt beachlcnswertb, aber im Ganzen über das DurchschnittSmaß der Blaustrumpf lyrik nicht hinauSgehend bezeichnet und sogar die Uneigen nützigkeit ihres getreuen Mentors in Zweifel gezogen. In letzterer Beziehung wird er nach den bündigen Berichtigungen Schrattenthal'«, ver auf das Bestimmteste erklärt hat, mit der geschäftlichen Seite der Herausgabe der Gedichte von Iobanna Ambrosius nichts zu thun zu haben, wohl sein Urtheil corrigiren. Ueber die Verhältnisse der Familie Ambrosius bat die Schwester der Dichterin wahrheitsgemäße Angaben ge macht, die zwar erkennen lassen, daß daS väter liche HauS nicht zu den allerärmsten in der ostpreußischen Gemeinde gehört, daß aber ein überreicher Kindersegen, böse Gewohnbeilen deS Familienhauptes, sowie ewige Krankheits fälle Zustände geschaffen hatten, welche für eine nach Höherem ringende Seele als unerträglick bezeichnet werden müßen und WaS die dichterischen Productionrn der Ambrosius betrifft, so wird keine Kritik die Thatsache aus der Welt schaffen, daß dieselben in kaum zwei Jahren sechsundzwanzig Auslagen erlebt haben, daß die gesammte Preße in höchst anerkennender Weise, ja zum Tbeil mit wahrhaftem Enthusiasmus den neuen Stern am deutschen Dickterbimmel begrüßt hat, daß zahlreiche lyrische Gedichte der Ambrosius in Musik gesetzt sind und viel gesungen werden, daß sie in Berlin mit Jubel empfangen worden, daß unser Kaiserhaus der schwer leidenden Dichterin werkthätige Liebe erwiesen hat und daß der Name Johanna Ambrosius heute zu den populärsten auf dem literarischen Gebiete in Deutschland zählt. Es mag zugegeben werden, daß, als die Berliner Reclame sich der Dichterin bemächtigt batte, manche Ueberschwenglich- keit mit untergelaufen ist und daß die Verhimmelung der „modernen Sappho" die Grenzen des Zulässigen hier und da überschritten bat, allein der Ruhm der Dichterin war bereits fest begründet, ehe sie Berlin flüchtig berührte, und wenn auch dereinst eine rückblickende Kritik manches Wort übertriebenen Lobes einschränken wird, so bürgt doch der geradezu beispiel lose Erfolg, den die Anbrosius errungen, dafür, daß sie wenigstens Einiges von unvergänglicher Schönheit und bleiben der Bedeutung geschaffen hat, mag man sie nun unter die Naturdichterinnen oder, weil sie eine „den städtischen An stalten nichts nachgebende ländliche Volksschule besucht hat", unter die Kunstdichterinnen rubriciren, das ist gleichviel! Doch wir kommen auf Schrattenthal's neuesten literarischen Versuch zurück. Er beginnt die Herausgabe der „Dichter stimmen ans dem Volk" mit einem hübschen Bande „Er lebtes und Erträumtes". Gedichte von Franz Bechert.*) Der Dichter ist ein pommerscher Kürschner meister, geboren 1846 in Cöslin. Aus CöSlin stammte auch der Vater, der Sohn eines Fleischers, die Mutter aus einem Bauernhöfe in der Nähe der Stadt. Bis zu seinem vier zehnten Iabre besuchte Bechert die Stadtschule, hatte damals schon Gelegenheit, die Werke der bedeutendsten Dichter zu lesen und kam vann bei seinem Vater in die Lehre, um sich ebenfalls dem Kürschnerbandwerke zu widmen. Auf Schusters Rappen machte er dann die Wanderschaft durch Deutschland, die Schweiz und Oesterreich, um, in seine Vaterstadt zurückgekehrt, sich zu verheirathen und ansässig zu machen. Er ist jetzt in zweiter Ehe vermählt; sein Leben hat sich im großen Ganzen sorgenlos und ruhig entrollt, weshalb auch eine frohe, heitere Stimmung in seinen Liedern vorherrschend ist. Seine ersten Erzeugnisse fanden den Beifall von Elise Polko, Karl Gerok, Schack, Paul Heyse, Jensen und Spielhaaen, welch' Letzterer ihm 1892 u. A. schrieb: „Nun, lieber Meister, ich glaube genug von der poetischen Kunst zu verstehen, um bereits aus den wenigen Proben, die sie mir mitgetheilt haben, den Schluß ziehen zu dürfen, daß sie ein Dichter sind." Er bezeugt ihm unumwunden, daß auS seinen Versen „ein Dichter spricht, dem Gott gab zu sagen, was er leidet und was ihn über der Erde Leid hinauSbebt in Regionen, wo selbst daS bitterste Weh harmonisch verklingt" und daß er nicht „Dutzendwaare" *) Verlag von Thoma» L Oppermann in Königsberg i. Pr. 18SS. oder gar „heillose Stümperei" geschaffen, wie sie fast jede Tag auf den Markt bringt." Wir wollen, um Mißdeutungen zu begegnen, gleich von vorn herein feststellen, daß Beckert nicht nach dem Ruhme geizt, den Großen im Reiche Apoll's zugezäblt zu werden; manches seiner Gedichte erhebt sich nicht über ein achtbares Mittel maß, aber die folgenden Proben werden beweisen, daß wir es in dem schlichten Kürschnermeister mit einem hervor ragenden Talent, nicht in dem Sinn von angebildetem, son dern von natürlichem Können zu thun haben, wie er denn selber gesteht, daß es ibm nicht gelungen sei, „ein schmetternd Lied'^ oder „ein brausend Schlachtlied, machtvoll und ge waltig, ein Heldenepos reich und vielgestaltig" zu singen, aber mit vollem Recht die Bitte ausspricht: „So laßt mir immer denn mein kleine- Lied; Laßt gleich dem klaren Quell eS ruhig gleiten, Der plaudernd hin durch Busch und Anger zieht." Bechert charakterisirt mit diesen wenigen Zeilen seine Dichtweise aufs Treffendste: Was er sagt und singt, ist ein völlig ungezwungenes, sich durchaus natürlich gebendes Ent hüllen seiner seelischen Empfindungen, eine leichte, rwanglose, ganz von selbst in künstlerische Form sich ergießende Emanation Dessen, was sein rein, schlicht und wahr die Außenwelt in sich ausnehmendes Dichterherz erfüllt. Und dabei ist es in erster Linie die kindliche Freude an der Natur, die, seine Harfe meist auf heitere Accorde stimmend, ihn überall hin begleitet, und deren poetischer Ausdruck ibm am besten, mitunter in einer an klassische Muster erinnernden Vollendung gelingt. Der Kreis Dessen, waS ihn mit tieferem Interesse erfüllt, was ihn bewegt, erregt, begeistert und erhebt, ist ein beschränkter, aber in dieser Beschränkung hat er es zu manchem Meistersang gebracht. So singt er in dem natur srischen „Sei mir gegrüßt" von seinem Liebling, dem Frühling, u. A.: Der Frühling ist'», der süße Jung« —, Er nabt voll kecker Jugendlust Und wirft mit einem Freudensprung« Laut jauchzend sich an meine Brust. Au- tausend Blumenaugen blickt er, Der Langersehnte, lieb mich an. Mit tausend grünen Händchen drückt er Und zieht er mich zu sich heran; Au» tausend kleinen Sängerkehlen Sein Jauchzen mir entgegenklinat, Und jede- Bächlein will'» erzählen, Wa« Hold«» all' er mit mir bringt,
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