Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.03.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-03-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990303027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899030302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899030302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-03
- Tag1899-03-03
- Monat1899-03
- Jahr1899
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Di« Morgen-NuSgabe erscheint um '/,? Uhr. die Abend-Ausgabe Wochentags um b Uhr. Bezugs-Preis in der Hauptexpedltion oder den im Stadt bezirk und den Vororten errichteten Aus- gabestrllen ab geholt: vierteljährlich Xi 4.S0, bet zweimaliger täglicher Zustellung in» Hau» b.S0. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandienbung in- Ausland: monatlich 7.S0. Nedaclion und Erpeditio«: AohauniSgafse 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr- Filialen: ktto Klemm'» Sortim. (Alfred Hahn), Universitätsstratze 3 (Paulinum). Lonis Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und KönigSplatz 7. «3. Abend Ensgabe. Wp.rigtr Tagclilall Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, -es NatHes «nd Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile SO P'g. ?>!eclamen unter dein Redactionsslrich -lge- spalten) vor den Familicnnachrichleu (6 gespalten) 40/^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichnitz. Tabellariichec und Zisscruwtz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung SO—, mit Postbeförderung Xi 70.—. ^nnahmkschlnk für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leivzig. Freitag den 3. März 1899. 93. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 3. Marz. Wer etwa gemeint haben sollte, das Vorgehen der vati- canischen Indexcongregation gegen den Professor Schell und die Unterwerfung nicht nur dieses katholischen Vertreters der Wissenschaft, sondern auch seiner Anhänger unter den Spruch dcS vatikanischen Mundstückes der Jesuiten werde ein Ab rücken der conservativen Fraktion des Reichstag» vom Zentrum zur Folge haben, der sieht sich durch den Verlauf der gestrigen Debatte über den Antrag auf Gewährung eines Beitrags von 50 000 aus ReichSnntteln zur Errichtung eines Goethe-Denkmals in Straßburg gründlich enttäuscht. Gerade jene Unterwerfung, die den schlagendsten Beweis dafür liefert, daß nur idealistische Schwärmer in dem dem Ultra- niontaniSmuS sich beugende« KatholiciSmuS ein „Princip de» Fortschritts" erblicken, scheint der conservativen ReichStagS- fraction gewaltig imponirt und den Wunsch nahegelegt zu Haben, es ja nicht mit den deutschen Vorkämpfern der ebenso energischen wie mächtigen römischen Diktatoren zu verderben, die so gern die Werke Goethe'S aus jedem deutschen Hause verbannt und am wenigsten in Straßburg ein Goethe-Denk mal errichtet sehen möchten. Und so entwickelte sich gestern im Reichstage ein erbauliches Schauspiel, daS die „Nat.-Lib. Corr." folgendermaßen schildert: „In Straßburg soll ein Goethe-Denkmal errichtet werden; an den nat.-lib. Abg. Prinz zu Schönaich.Carolath hatte sich der Vorsitzende des Denkmal-ComiteS mit der Anregung gewandt, in Rücksicht auf die nationalen Bande, die Elsaß mit dem übrigen Reiche verknüpfen, auch von Reichswegeu beizusteuern. Auch der Straßburger Abg. Riff hatte diese Anregung lebhaft unterstützt, und so stellte Prinz Schönaich-Carolath den Antrag. Selbst Spitzen des CentrumSthurms hatten ihn ihrer Sympathie versichert. Er sollte den Tag nicht vor Lein Abend loben. Als es heute zur Debatte kam, schickten die Conservativen nicht weniger als drei Redner vor, um sich gegen die Denkmalssorderung ouszusprechen: zuerst den Grasen Noon, dann den Grafen Limburg- Stirum; ersten- sei es finanzpolitisch bedenklich, zweitens sei da» keine große nationale Sache, drittens habe Goethe schon in Frank furt, Weimar n. f. w. Denkmäler, und schließlich würden in Deutsch land überhaupt zu viel Denkinäler gebaut. Beide übertrumpfte der Abg. Kropatschek, der, wie die Sage geht, in uralten Zeiten in Brandenburg Bildner der Ncalgymnasialjugend gewesen: er hielt die Bewilligung für ein „gefährliches Prücedenz". Der Abg. vr.Lieber vom Eentrum hatte das Feld seinem College« Fritzen überlassen, dessen Be ziehungen zu Straßburg darin bestehen, daß sein Bruder dort Bischof ist. Er meinte, Straßburg sei reich genug, selbst ein solches Denkmal zu bezahlen, und holte sich zum Schluß ein Centrumsblatt und verlas daraus, daß in Straßburg sich bereits vier schöne Goethebüsten und Denktafeln und außerdem eine Goethestraße befinden. Man munkelt, daß in vielen Häusern in Straßburg sogar Bücher deS „großen Heiden" zu finden seien. Prinz Schönaich-Carolath bestieg zweimal die Rednertribüne; es half nichts. Vergebens redete der reichsparteiliche Abgeordnete von Tiedemann auf seine conservativen Nachbarn ein. Ja, wenn Goethe über die Maul- und Klauenseuche geschrieben hätte! So wurde denn abgestimmt; Probe und Gegenprobe. Das Er- gebniß war unsicher; so wurden die Abgeordneten hinausgeschickt, die Saalthüren verschlossen und der Hammelsprung vorgenommen. I Rechter Hand, linker Hand, Beides vrrtanscht. Die Linke kam I rechts durch die „Jathiir", durch die „Neinthür" Centrum I und Conservative fröhlich vereint. Schließlich stimmte daS hohe Präsidium ab, und Graf Balle st rem schmetterte sein „Nein" so kampfesmuthig in den Saal, als ob der Sieg schon errungen wäre. Es kam anders; er hatte auf seiner Seite nur 84; für den Antrag hatten 91 gestimmt; macht in Summa 175. Zur Beschluß fähigkeit aber fehlten noch zwei Dutzend Stimmen. So wurde die Blamage vollständig; man konnte nicht weiter berathen und vcr- tagte sich daher um eine Viertelstunde, um dann mit dem Militär- etat anzufangen." Bei der Weiterberatbung des Antrags wird man vor Allem darauf zu achten haben, ob vom Tische des BundeS- ratheS eine Aeußerung fällt, die auf die Bekehrung dieser hohen Körperschaft zu den klerikal-konservativen An schauungen hindeutet. In der Budgetcommission, die be kanntlich die Bewilligung deS Postens befürwortete, hat unseres Erinnerns der Regierungsvertreter eine dem Anträge freundliche Haltung eingenommen. In den Würzburger Universitätskreisen sucht man begreiflicher Weise die Wirkung der von der „Germania berichteten Unterwerfung des Professors Schell abzuschwächen. Man schreibt nämlich der „N. Bahr. Landesztg." aus diesen Kreisen: „Die theologische Facultätder Universität Würzburg stellt sich einhellig auf den Standpunkt, daß Schell der Fakultät und Hochschule erhalten werden müsse. Damit nun die Bischöfe den Theologen nicht den Besuch der Universität verbieten, ist es nöthig, daß Schell sein Katheder behalte. Seine Wirksamkeit als Lehrer würde aber brach gelegt, wenn der Besuch seiner Vorlesungen nur von dem Bischof von Würzburg untersagt würde. Um dies zu verhüten, muß Schell den Be schluß der Index-Congregation formell anerkennen. Schell thut, was auch unschuldig verurtheilte Redakteure schon grthan haben: er fügt sich, nimmt Las Urtheil an und murmelt wie der Soldat: „Ich danke, Herr Hauptmann, für die gnädige Straf'." Da seine Werke in Bausch und Bogen verindext sind, keine besondere Stelle genannt ist, auch kein Widerruf von ihm verlangt wurde, so vergiebt er seinen Grundsätzen sicher gar nichts, wenn er sich gegen die Index- erklärung nicht weiter zur Wehr setzt. Wenn er als katholischer Priester und Professor ferner wirken will, kann er eben nicht den Ausschluß riskiren oder den Austritt wählen. Das war ja bisher das Unheil, daß die tüchtigsten Katholiken aus dem Verbände der Kirche ausschiedcn und dadurch das Feld ihrer Wirksamkeit verloren. Bleiben nnd sich bescheiden — Las ist das Beste, was Schell jetzt thun kann. ES ist noch nicht aller Tage Abend." Nun, für Herrn Prof. Schell ist der Abend seines TageS bereits gekommen, denn wenn er auch innerlich bei seiner Meinung bleibt» aber nicht sie, sondern das lehrt, waö die Indexcongregation von ihm verlangt, so ist er für die Wissen schaft verloren. Und dasselbe gilt von denen, die ihn noch am Montag, als er fest bleiben zu wollen versicherte, zu jubelten und ihm bald darauf anriethen, den Beschluß der Congregation „formell" anzuerkennen. Bemerkenswerth ist übrigens, daß die klerikale „Köln. Volksztg." der politischen Tagespresse das Recht abspricht, sich mit der Maßregelung Schell'S zu beschäftigen, weil man nicht wisse, welche Sätze in den Werken Schell's von der Censur getroffen sind; eS müsse daher den theologischen Fachblättern überlasten bleiben, die in Betracht kommenden Punkte eingehender zu erörtern. Das rheinische Centrumsblatt verräth durch diese leere Aus flucht nur, in welche Verlegenheit die ultramontane Partei durch die Congregation deS Index versetzt worden ist. Wäh rend Herr vr. Lieber noch jüngst bei der Iesuitendebatte seine Eigenschaft als „Neichsregent" so herrlich offenbarte, hat die Maßregelung Schell'S daS „innere Düppel" aufgedeckt, an dem nicht nur der UltramontaniSmuS, son dern der KatbolicismuS insgesammt leidet. Ob und wie Professor Schell der Entscheidung der Congregation des Index sich unterworfen hat, ist politisch von ungleich geringerer Bedeutung, als die Thatsache seiner Maß regelung selbst. Diese Thatsache konnte nur entstehen auS dem Wesen der vom IesuitismuS beherrschten römischen Weltkirche. Aeußerlich ein Sieg der Hierarchie, bedeutet sie eine innere Niederlage deS KatholiciSmuS, deren Größe um so schmerzlicher von den Stimmführern des deutschen Katholi- ciSmus empfunden wird, je stolzer die Position der letzteren in Deutschland ist. Zu einer Zeit, da das Centrum die „regierende Partei" im Reiche ist, vor aller Welt festgestellt zu sehen, daß der KatholiciSmuS das Princip des Stillstandes ist, weil er die Wahrheit zu besitzen wähnt —, diese bittere Lehre müßte den klerikalen Hochmuth ganz gehörig dämpfen, wenn er nicht von anderer Seite angefacht würde. Der Pariser Cassationshof hat gestern die Ver handlungen in der Assaire Ptcquart begonnen. Er hat zu entscheiden, ob Picquart von der Militär- oder von der kivil- justiz abzuurtheilen ist. Der Berichterstatter Atthalin erinnert daran, wie Picquart, während er gleichzeitig mit dem Advocatcn Leblois vor dem Strafgerichte stand, durch den Beschluß des Pariser Militärgouverneurs für das Kriegsgericht reclamirt und nach dem Milnär-Gefängniß ausgeliefert wurde. Picquart appellirte dann an den Kassationshof und dieser verlangte zu nächst die Einreichung der bürgerlichen wie de: militärischen Gerichtsacten unter Suspendirung beider Verfahren. Atthalin sagte, er stelle nur di« Thatsachen zusammen, ohne der Meinung des Cassationshofes oorgreifen zu wollen. Falls sich ergebe, daß zwischen dem sachlichen Inhalt der bürgerlichen Klage und der militärischen Procedur Konnexität bestehe, so werde der Kassationshof nach der stehenden Praxis und den Grundsätzen des ewigen Rechtes die Konsequenz ziehen. Für eineu Theil der Picquart vorgeworfcnen Handlung bestehe jedenfalls von vorn herein ein ideeller Zusammenhang. Sein ganzes Vorgehen diente, ob mit Recht oder Unrecht, der Rehabilitation des Drey- ftls; daraus ergiebt sich Uebereinstimmung zwischen der an geblichen Fälschung des „petit bleu" (des, wie behauptet wird, von dem deutschen Militär-Attache an Esterhazy gerichteten, von Picquart aufgefangenen Kartenbriefes), welche das Kriegs gericht aburtheilen soll, und der Mitthrilung der Acten über die Drcyfus- und Esterhazy-Kriegsgerichte an Leblois, worüber das Verfahren vor der Civiljustiz schwebt. Denn um Dreyfus zu rehabilitirrn, wollte Picquart die Schuld Esterhazy's be weisen. Beim Verhör vor dem Procurator der Republik erklärte Picquart, er habe die gegen Esterhazy zeugenden Schriftstücke Leblois mrtgeiheilt, um im Bedürfnißfalle für seine Vertheidigung gewappnet zu sein. Die bürgerliche Voruntersuchung hält jedoch aufrecht, daß Ptcquart sich vorgesetzt hatte, durch die Schuld Esterhazy's die Unschuld Dreyfus' zu beweisen. Die militärischen Untersuchungsacten setzen die nämliche Absicht Picquart's voraus; sic präcisiren aber seine Motive schärfer. Darnach soll Picquari von der verbrecherischen Idee besessen sein, Dreyfus zu befreien Für den Kassationshof bleibt einzig zu erwägen, ob Picquart Handlungen von einer einheitlichen Idee ausgingen und ein ein heitliches Ziel verfolgten. Atthalin kommt zu der matericllen Konnexität. Nach den militärisa>en Acten ist Picquart verdächtig das „petit bien" gefälscht oder wenigstens bei der Fälschung mitgeholfen zu haben. Ferner soll Picquart sich des gefälschten „bleu" bedient haben. Die Civilklage beschuldigt dagegen Picquart der Mittheilung des nämlichen „Kien" an Leblois. Während also das Kriegsgericht in die Lage kommen kann Picquart zu verurtheilen wegen Fälschung, könnte das Civil- gericht ihn wegen Mittheilung von Amtsgeheimnissen nur ver urtheilen, wenn das „Kleu" nicht gefälscht ist und umgekebrr. Daraus ergeben sich diametral entgegengesetzte Möglichkeiten, über die dec Kassationshof befinden muß. lieber die weiteren Ver handlungen des Gerichtshofes berichten wir an anderer Stelle. In Spanien ist die lange erwartete Ministerkrisis ein getreten. Sagasta hat mit seinem Cabinet demissionirt, da er nicht im Stande war, die schweren Anklagen der Opposition wegen der unglücklichen Kriegführung mit den Vereinigten Staaten genügend zu widerlegen. Die Regierung hatte den Krieg mit einem Gegner begonnen, von dem sie wußte, daß er Spanien weit überlegen war, einen Krieg, den sie hätte vermeiden können wenn sie der verrotteten Verwaltung Cubas ehrlich ein definitives Ende gemacht und so den Amerikanern den Vorwand zum Ein schreiten genommen hätte. Die Regierung hat, als der Krieg unvermeidlich schien, die begonnenen Schiffsbauten mit dem be bezeichnendenVorwand unterbrochen, irgcndwelcheKriegsrüstungen könnten von den Vereinigten Staaten als Herausforderung an gesehen werden. Der Krieg selbst, in welchem die Direktive von Madrid aus gegeben wurde, war ein Muster absoluter Plan losigkeit und vor Allem wurde der schwere Fehler begangen, Cuba preiszugeben, obwohl die Position der Spanier zu Lande «in Wettmachen der Niederlagen zur See erwarten ließ. Daß jetzt irgend ein General zur Verantwortung gezogen wird, änderr an der Sache nichts. Die Leitung des Feldzuges lag in den Händen der Regierung, verantwortlich ist allein sie, die wenigstens den Versuch hätte machen müssen, die Wafftnehre Spaniens zu retten. Aber wenn man auch die Berechtigung der Anklagen anerkennen muß, welche die Opposition gegen das liberale Ministerium Sagasta erhebt, so muß andererseits doch auch die Frage auf geworfen werden, ob die konservative Opposition, wenn sie am Ruder gewesen wäre, den Krieg besser geführt, einen besseren Frieden zu Stande gebracht hätte. Diese Frage muß jeder Kenner der heutigen Zustände in Spanien verneinen. Denn da Uebel oder die Rettung liegt nicht darin, daß diese oder jene Partei regiert oder nicht regiert, sondern liegt in dec Krankheit des spanischen Volkes. Ob konservativ oder liberal, das ist gleichgiltig, beide Parteien regierten gleich schlecht, beide haben gleichmäßig sich bemüht, das Land immer tiefer in das Unglück zu stoßen. Nicht die von dem conservativen Marschall Campos, der anscheinend der kommende Mann ist, sowie von den Generalen Weylrr und Polaviaja als unumgänglich nothwendig bezeichnete Reorganisation von Heer und Flotte, sondern nur eine Regenera tion von innen heraus, eine gänzliche Umgestaltung der Ver waltung und Ausrottung der jahrhundertlangen Mißwirtschaft kann das Volk wieder emporheben. Darum ist es auch ganz ! gleichgiltig, welcher Parteimann jetzt Sagasta in der Herrschaft I ablösen wird, nur darauf kommt es an, daß er entschlossen ist, I reinen Tisch zu machen. Gräfin Marie. 20j Roman von Woldem ar Urban. Nachdruck verboten. XVII. Monate waren seit dem Proceß gegen Anunziata Ccsarini vergangen, die Aufregung, die damit verbunden gewesen, hatte sich gelegt und über Neapel war wieder di« Sommergluth hereingebrochen, die den Wein an der Traube kocht und die Pfir siche reift. Don Antonio wohnte mit seiner jungen Frau während der Flitterwochen in dem kühlen schattigen Sorrento; theilS um der staubigen Sommerluft von Neapel zu entfliehen, iheils aber auch, um mit Anunziata endlich einmal ganz ungestört allein zu sein, hatte er eine hübsche kleine Villa am Meer gemiethet und pflegte nun dort der Ruhe nach seinem aufregenden Winter. Der alte Cesarini, ein scheuer, gebrochener Mann, der nicht gern Jemand offen in'» Gesicht sah, hatte seine Wohnung an der Riviera di Chiaia aufgegeben, oder eigentlich aufgeben müssen, und wohnte jetzt still unk bescheiden im Hause Don Antonio's, am Korso Garibaldi. Als Hauptleidtragender ging aus dem Proceß der Direktor de Mattia hervor. Er mußte seine Stel lung an der Bank aufgeben und hatte sich durch die Enthüllungen, die der Proceß über sein Privatleben zu Tage gefördert hatte, in Neapel unmöglich gemacht. Er zog nach Salerno. Kein Mensch hörte wieder etwas von ihm. Gräfin Marie war schon seit Mai nach Berlin zurückgekehrt und setzte nun von dort auS ihrcnEhescheidungSproceß gegen Graf Starace mit allen Mitteln, die ihr zu Gcvoie Nanoen, fort. Nach allen Richtungen hin hatte der energisch« Stoß Anunziata'» aus haltend und klärend gewirkt. Starace war schlimmer dran wie je und wieder Stammgast bei Don Gaetano in der Via Santa Anna dei Lombardi, wo er mit den kastagnaro darüber zankte, ob er neun oder zehn Kastanien für einen Soldo verkaufen sollte. Er hatte dazu mehr als je Ursache, denn al» einzige» Gut hatte er au» seinem Schiff bruch einen Appetit gerettet, der mit seinen Saldi in schreiendem Mißverhältnis stand, so daß er in seinen stillen Stunden, von denen er jetzt vierundzwanzig pro Tag hatte, darüber studirte, ob ein gesunder Magen in Neapel eine Gunst de» Himmel» oder ein Fluch der Höll« fei. Er neigt« d«r letzteren Ansicht zu. Aber da» waren nicht seine schlimmsten Nöthen, obgleich st« ihm in rabiatester Weise zu schaffen machten. E» waren da außerdem noch ein fauler Handel, den er mit der Polizei auszufechten hatte. Don Antonio hatte eine Diebstahlsanklage gegen ihn anhängig gemacht. Er sollte ein Portemonnaie, das seiner Frau gehörte und angeblich circa dreihundert Lire enthalten hatte — in Wahr heit waren es blos zweihunderlstebenunddreißig und einige Saldi gewesen, wie Starace ganz genau wußte — gestohlen haben. Das war natürlich ein Unsinn. Denn was seiner Frau gehörte — so raifonnirte Starace in seiner Nienschenfreundlichkeit — daS ge hörte auch ihm. Wie konnte er also etwas stehlen, was ihm ge hörte? Aber er wußte schon aus Erfahrung, daß die Gerichte über solch« Sachen die vertracktesten Ansichten hatten und ver spürte keine Lust, sich mit ihnen darüber auseinander zu setzen. Er wohnte natürlich noch immer „posts restant«". Er mußte sich unter solchen Umständen in Acht nehmen, denn wenn ihn Don Antonio fand, ließ er ihn einstecken. Das war's, was wie ein Damoklesschwert über ihm hing. Denn wenn rin Neapolitaner auch nichts, nichts als das Leben und einen gesunden Magen besitzt, so schätzt er seine Freiheit doch wie ein Gut, mit dessen Verlust Alles aus sei. Er hungerte sich also durch, so schlecht und recht eS ging, er hatte ja darin Uebung, nur um Gottes willen nicht ins Loch. Er kannte das. Es gab nicht» Ab scheulicheres. Mit seiner Frau stand Starace noch immer in lebhafter Korrespondenz, nur war diese etwas einseitig. Er schrieb nämlich sehr oft, so oft er einige Saldi für die Briefmarke übrig hatte, aber sie antwortete nie. Der rothe Faden dieser Korre spondenz war natürlich: Geld, Geld, Geld! Er setzte seiner Frau auseinander, daß eS nicht anginge, ihn ohne Geld zu lassen. Ein Graf Starace di Montesanto e Boscoreale konnte und durfte nicht ohne Geld sein, wenn nicht sein und ihr Ansehen darunter leiden sollten. Die Neapolitaner, denen ein verkrachter Adel eine alltägliche Erscheinung ist, haben darüber so bedauer liche Ansichten. Starace hatte darin die trübsten Erfahrungen machen müssen. Seit einiger Zeit schlief er Nachts immer in der Werkstelle eine» Tischlers in Vicolo freddo, nicht weit von der Piazza dei martyri. Aber er war mit dem Manne in Kollision gekommen, weil dieser behauptete, er müsse für das elende Nacht lager auf den Hobelspänen etwa» bezahlen. „Graf, wa» Graf!" hatte der Mann gesagt, „was thue ich mit einem Grafen, wenn er kein Geld hat? Kann ich für einen Grafentitel Hobel kaufen? Oder Bretter? Oder Miethe be zahlen? Ein Graf, der kein Geld hat, ist ein Gespenst von Leuten, die schon längst im Grabe liegen, ein Schatten aus der anderen Welt. So 'wa» kann ich in meiner Werkstelle nicht brauchen. Rau» damit!" Und damit hatte der Mann Starace an die Luft gesetzt. Die Leute waren so empörend ungebildet und wußten nicht, daß ein italienischer Graf so unermeßliche Verdienste um sein Vaterland hat, daß füglich von solchen profanen Nebensachen wie Geld und Bezahlen keine Rede sein konnte. Kurz, Starace war kummerschwer und tiefsinnig über die Entartung der Welt und hatte außerdem Hunger, trotzdem er soeben seinen letzten Soldo für einige große schöne Kastanien in der Via Santa Anna dei Lombardi geopfert hatte. Nun saß er traurig da, starrt« in das leere Weinglas und fragte sich: „Wo bekomme ich wieder neue Soldi her? Denn sicher werde ich morgen wieder Hunger haben!" Draußen spielte ein Leier kasten die Oavalleria rusticana und neben ihm saß ein alter "Äa-'.ihmacher aus dem Vicolo dei spagnuoli, welcher in aller Gemüthsruhe Salami und Brod verzehrte und dazu einen halben Liter zu sechs Soldi trank. Welche beneidenswerthe Leistung! Warum war Starace kein Schuster? Plötzlich überzog tiefe Blässe da» Gesicht Starace's und hastig sah er sich um, ob er nicht etwa rasch durch eine Hinter pforte oder durch rin Fenster entwischen konnte. Er hatte am Eingang den Rechtsanwalt seiner Frau mit einem Mann ge sehen, der auf ein Haar wie ein Geheimpolizist aussah. «War er verloren? Vor dem Fenster war ein dicker Holzladen und «in NebenauSgang war nicht da. < „Da ist er!" hörte er Don Antonio zu dem Manne sagen, welcher sich draußen vor der Thüre postirte, während der Advocat rasch eintrat und auf Starace zuging. Dieser stand auf »nd wollte fort. „Bitte, Herr Graf", sprach ihn Don Antonio an, „behalten Sie Platz und gestatten Sie mir, daß ich mich einen Augen blick zu Ihnen setze. Ich habe mit Ihnen zu reden." „Herr Rechtsanwalt, ich — ich bin pressirt." „Das thut mir leid, Herr Graf", erwiderte Don Antonio leise, „denn sowie Sie hinaustreten, werden Sie arretirt." Starace setzt« sich wieder nieder. Ihm war gar nicht wohl. „Was wünschen Sie von mir?" Don Antonio setzte sich zu ihm, so wenig einladend das auch für ihn war, und bestellte sogar einen halben Liter Wein, um dem Zusammentreffen einen unschuldigen Anschein zu geben. „Herr Graf, ich bin extra von Sorrent nach Neapel gekom men, um Ihnen Grüße Ihrer Frau Gemahlin, der Gräfin Marie zu überbringen und mit Ihnen in ihrem Auftrage zu unterhan deln", sagte Don Antonio, indem er für sich und für den Grafen von dem Wein eingoß, den der kleine bucklige Peppin gebracht hatte. Starace richtete sich in voller Würde auf. Er ahnte, wa» kommen würde, und war bestrebt, seine ganze Bedeutung al« Mann seiner Frau zur Geltung zu bringen. Man wollte etwas von ihm, und cr wünschte dagegen so viel wie möglich für sich herauszuschlagen. Das war ja sein einziger Hoffnungsstern in dieser öden Nacht, daß man eines Tages doch zu ihm kommen mußte, ihm etwas anbieten mußte, damit er in der Ehescheidung-- fache, die man doch nicht ohne ihn zur Entscheidung bringen konnte, gefügig würde. „Sie wissen, Herr Rechtsanwalt, daß ich es zu jeder Zeit und auch heute noch ablehne, Sie als Vertreter meiner Gemahlin an zuerkennen", erwiderte er stolz. „Ich wünsche nicht durch Mit telspersonen irgend welcher Art, sondern direct mit meiner Ge mahlin zu verkehren." „Ich glaube Ihnen das sehr gern, nur ist dazu vorläufig keinerlei Aussich:, und es empfiehlt sich um so mehr für Sie, m-: mir zu verhandeln, als Ihre Gemahlin jedweden Verkehr mit Ihnen ablehnt." „Das ist meine Sache." „Gewiß. Nur haben wir keine Ursache mehr, uns auf Jh - Spitzfindigkeiten weiterhin einzulassen. Und nun wollen w.- offen und deutlich miteinander reden. Sie haben in Ihren Briefen die Kleinigkeit von hunderttausend Mark Abstandssumme verlangt. Hinterher sind Sie etwas heruntergegangen. Ich habe Ihnen aber mitzutheilen, daß Sie nicht» haben werden, sondern daß ich Sie auf der Stelle verhaften lasse, wenn Sie nicht diesen Schein, den ich mitgebracht habe, unterschreiben." Starace nahm lächelnd den Schein, den ihm Don Antonio präsentirte. Er enthielt die Erklärung, daß er gegen die Schei dung der Ehe mit seiner Frau nichts einzuwenden habe. „Und Sie glauben, daß ich mich von Ihnen einschüchtern lasse?" fragte er höhnisch. „Das ist Ihre Sache. Sie können thun, was Ihnen beliebt. Wenn Sie nicht unterschreiben, so lasse ich Sie wegen der gegen Sie schwebenden Untersuchungssach« verhaften, und zwar sofort, auf der Stelle, damit wir nicht mehr nöthig haben, Sie zu suchen, wenn der Verhandlungstag angesrtzt ist. Der Verhaft befehl ist schon ausgefertigt. Sie können ihn sofort sehen. Wenn Sie unterschreiben, so bin ich beauftragt, die Klage gegen S' fallen zu lassen und Ihnen zu Ihrer Sicherheit ein bezüglich'.' Document auszufertigen. Vielleicht, wenn Sie sich willfährig zeigen, kann ich Ihnen auch noch eine kleine monatliche Unter stützung von Seiten der Gräfin Maria auswirken. Die Ge währung derselben hängt aber von Ihrem Verhalten in der Sache ab." „Wie hoch ist diese — Unterstützung?" „Vielleicht dreißig bt» fünfzig Lire monatlich.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite