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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.03.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-03-07
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990307017
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899030701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899030701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-03
- Tag1899-03-07
- Monat1899-03
- Jahr1899
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Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Posibefördernng 60.—, mit Postbeförderung 70.— . Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes «nd Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Au-gabe: BormittagS 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Dienstag den 7. März 1899. S3. Jahrgang. Das italienische Ministerium und die presse. Rom, 3. Marz. Seit Wochen rst in Italien kaum von etwas Anderem dir Rede als von dem neueingebrach^en Preßgesetz. Ms nämlich im vorigem Mai die bekannten Hungertumülte auIbrachen, war man zum Theil auch der Presse halber ge nötigt, über manche Provinzen den Belagerungszustand zu ver hängen, weil die Sprache vieler Zeitungen gegen die Regierung eine überaus aufreizende und darum unter den herrschenden Ver- b/ältnissen eine allgemclngesührliche wurde, und weil man den von dorther begangenen Ausschreitungen gesetzlich auf eine andere Art beizukommen für den Augenblick außer Stande war. Es lag daher Nahe, bei dielser Gelegenheit Vorkehrungen zu treffen, um nöthigenMs auch ohne Belagerungszustand gerüstet zu sein — zum wenigsten der umlstürzlier.schen Presse gegenüber. Nun muß man aber in einem solchen Falle stets vor Augen haben, daß jene Maiuniuhen nur die Folge einer schon seit Jahr zehnten bestehenden parlamentarischen Mißreg «rung waren und daß sehr viele der zur Zeit unterdrückten B.ätter keineswegs um stürzlerischen Ideen hukaigien, vielmehr ste.s streng monarchischer Gesinnung sind und waren. Ferner ist zu bedenken, daß ein allgemein giltiges, üdeales Preßg.setz zu schaffen, überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit ist. Man 'wird doch stets dabei zu allererst die moralischen Bedingungen un:«rsuchen müssen, unter denen ein jedes Volk lebt. So ist unter Anderem hierzulande der Mangel an strenger Rechtschaffenheit im amtlichen Leben ein Gegenstand fortwährender Klage. Der Eommendator« ist geselllschatftlich ungefähr dasselbe hier, wie in Preußen der Ge heime Regierungsrath. Run stelle man sich vor, man bekäme, wie das so oft schon hier geschehen ist, auch in Preußen beinahe joden Monat zu lesen: Dieser oder jener Geheimrath sei wegen Betrügereien, Fälschungen, Unterschlagungen u. s. w. eingesteckt worden, so winde man doch da meinen, daß der Welt Ende nahe wäre. Hier hat man sich an diese Erscheinung bereits derart ge wöhnt, Laß man „Geheimrath" und „Spitzbube", coirrmeir- ckators — lackro, als gleichbedeutend« Wörter gebraucht. Die allzu häufigen Vorkommnisse d'.rser Art haben natürlich ganz be sonders unter den einfachen, ehrlichen Leuten umsomehr böses Blut machen müssen, als die hochstehenden und zumeist sehr ein flußreichen Missrthätcr vielfach entweder ganz straffrei aus gingen, oder doch mit ganz geringen Strafen davonkamen. Da ist es nun das unleugbare Verdienst besonders der oberitalieni- fchen Presse gewesen, daß gerade und zum Theil wohl nur durch sie UabeHänide dicfer Art gerügt und aufgckdecki wurden. Andererseits kann nicht verschwiegen werden, daß ein anderer Theil der hiesigen Presse wiederum bei der Verfolgung eines politischen Gegners vielfach arg gesund gt hat, indem dieser, von den Feknden des Verfolgten gelaust, die intimsten Vorgänge aus dam Privatleben Les letzteren aufstöberie, solche womöglich noch entstellte und so gefälscht mit Behagen in die Oeffentlichkeit warf, obschon diese Dinge selbst mit der in Frage stehenden Schuld gar nichts mehr gemein hatten. Wer die innere Geschichte Italiens «Während der letzten 20 Jahre kennt, weiß, daß solche Vorkommnisse hier unablässig auf der Tagesordnung standen. Glaubte daher das jetzige Ministerium, daß es end lich einmal an der Zeit sein möchte, ein neues Preßgesetz zu er lassen, so war doch geboten, die Be'c-ürfnißfmge dabei durchweg und nicht blos einseitig zu erwägen. Hat die Regierung solches gethan? Die Frage muß leider verneint werden. Es ist zum Erstaunen, daß im Jahre 1899 ein neues Preß gesetz mit einer moralisch durchaus verwerflichen Einrichtung an heben soll. Moralisch verantwortlich können doch aller Welt wie auch dem Svafrichter gegenüber nur der Rcdaoeur bezw. die einzelnen Fachreldacieure sein. W ll man die Verfasser eines Ar tikels daneben noch mitverantwortlich machen, so wäre auch das nur vernünftig und lobenstverth. Der Mitarbeiter, wenn be kannt, soll nun allerdings nach dem soeben cingebrachten ita lienischen Gesetze mitverantworil ch sein, aber an Stelle des Re dakteurs hat man den altgewohnten ^oreato beliebt, d. h. einen Menschen, den man für gewöhnlich von der Straße aufliest, der meistens kaum viel mehr als seinen Namen schreiben kann und allenfalls noch als Zeitungsausträger Beschäftigung findet. Er wird monatlich dafür bezahlt, gelegentl.ch einmal für einen Andercren die Strafe absitzen zu müssen. Für jeden anständigen Publicrstrn mußte doch der beliebte Zusatz, die Verantwortlich keit mit einem solchen Menschen zu theilen, in der That eine ganz unannehmbare Zumuthung sein. Das wäre der Ein gangsartikel. Die Artikel 2 dis 4 verfügen, daß der Strafrichter einer Zeitung, wofern sie zum zweiten Male innerhalb eines Jahres für ein Vergehen öffentlicher Natur verurtheilt wird, auf Ver langen der Regierung eine Kaution von 300 bis 1000 Lire ab verlangen kann; vermag sie diese Summe nicht zu hinterlegen, so muß sie ihr Erscheinen einstellen. Bei der dritten Verurtei lung — immer innerhalb eines Jahres — für ein ähnliches Ver gehen, kann wiederum der Strafrichter auf Verlangen der Re gierung verfügen, daß die Zeitung nur zur Ausgabe gelange, nachdem sie zwei Stunden vorher die Cenfur passirt habe. Auch kann in diesem Falle die Einstellung ihres Erscheinens bis zu drei Monaten angeordnet werden — die alsdann sofort einzu- irrten habe. In diesen drei Artikeln erscheint vornehmlich an stößig, daß die Strafe zum Theil nicht gesetzlich festgrlcgt, son dern in oas Belieben des jedesmaligen Richters gestellt ist. Nun denke man sich pol.k.sch bewegte Zeiten, und aus der Gesetzlichkeit muß Willkür werden. — Hier wird der Richter das angebliche Vergehen mit Strafe belegen, dort ein anderer wieder auf Frei sprechung erkennen. Ein weiterer Uebrlstand ist, daß der Richter zufolge dieser Artikel für alle Vergehen öffentlicher Natur schon bei der dritten Verunhe.lung innerhalb eines Jahres die Censur bezw. die Unterdrückung des Blattes verfügen kann. Würde es hier heißen: Bei Vergehen gegen die öffentliche Sicherheit — so würde nichts dagegen einzuwenden sein. Aber in der gewählten Fassung wird d.eBest mmung in ihrcnFolgen zucinermoral sche» Ungeheuerlichkeit. Zieht man nämlich in Betracht, daß die Recht schaffenheit im öffentlichen Leben Italiens in der That viel zu Wünschen übrig läßt, daß feiner di« großen Sünder bislang zu meist nur vermittelst der Presse auf die Anklagebank gebracht wurden und daß vornehmlich die ersten Nachrichten, wie es nun einmal in der Natur der Sack)« liegt, vielfach nur Wahres mit Falschem gemischt in die LeffcnUichteit bringen können, so ist der Inhalt dieser drei Artikel ganz danach angethan, die gesammte Zeitungswclt eines Landes gegenüber dem rücksichtslosen, ein flußreichen und großmächt gen Uebesthäter im öffenilichcn Leben völlig niundio'ot zu machen. Er stellt gewissermaßen einen S'icherheitsbrief für alle nur erdenkliche Unsittlichkeit innerhalb des politischen Lebens aus. Ur/v tne Gefahr für die khrenwerthe Presse wird h erbei noch dadurch wesentlich erhöht, daß der näckst: Artikel (5) des Gesetzentwurfes un.er Androhung von Gellostrafe und Beschlagnahme eine jev: öffentliche Mittheilung aus ven Untersuchüngsacten und über die Gerichtsverhandlungen ver bietet, sobald die Klage auf Vcr eumdung laütet. Würde es hier heißen: jede Mitteilung über Dinge rein privater Natur, soweit diese nichts zur Sache selbst aussagen, ist verboten, so würde das eine sehr erfreulich« Einschränkung sein, die nur die Soan'val- presse unangenehm empfinden dürfte. Di« Oeffentlichkeit durch dir Presse aber völlig und für Alles bis auf den Gevichtssaal ausschließen wollen in einem Processc, bei dem möglicher Weis« di« größten Interessen des Gemeinwohls auf dam Spiele stehen, würde unter Umständen die Ueberführung des verbrecherischen Angeklagten nahezu unmöglich machen. Der 6. Artikel, der die Verbreitung wissentlich falscher Nach richten, geeignet, die öffentliche Ruhe zu stören, unter Strafe gestellt« wissen will, würde durchaus lobenswerth erscheinen, wenn man sich dabei nicht fragen müßte, warum denn nur eigentlich diese Art wissenil ch falscher Nachrichten und nicht auch solche dem Strafrichter verfallen sollen, die, ohne die öffentliche Ruhe zu stören, Verwirrung stiften, weite Kreise irreführen und doch nicht unter das allgemeine Strafgesetz fallen. Denn mögen auch die beiderseitigen Folgen ihrer Bedeutung nach verschieden fein, so sind doch Vie Motive der .Handlungsweise in dem einen wie anderen Falle moralisch g'cich verwerflich. Man mag die Sirafe verschieden zumessen; gestraft aber sollten Loch wahrlich alle werden. Es ist schade um den General Pelloux! Er hat sich bislang wacker genug gehalten. Jetzt droht dieser unglückliche Gesetzent wurf seinen Ruf als Staatsmann völlig zu untergraben, so wenig ist in jenem von wirklich polirischer Einsicht zu verspüren. Mer letzteres deutet ein Hebel an, unter dem die Parlamentäre birrzulonde überhaupt kranken. Alljährlich wird womöglich zu dem gleichen Gegenstand ein neues Gesetz erlassen, und keine- taugt: es ist immer nur Flickschusterei. Den Leuten, die sich hie. mit dem Staate beschäftigen, fehlt es ganz allgemein an vertief ter politischer Bildung. In der gegenwärtigen Fassung hat übrigens der Gesetzen: Wurf nicht die minideste Aussicht, angenommen zu werden. Aber man darf gespannt darauf sein, inwieweit Vie Kammer gerade "das Unpolitische und Unmoralische aus dem Entwürfe ent fernen wird. i Deutsches Reich. 6. H. Berlin, 6. März. Der neue Chef der zweiten Division, Kapitän zur See Fritze, ist einer der ranz ältesten Kapitäne und stcbt ziemlich nabe vor der Ernennung zum Eoutreadniiral. Herr Fritze ist bekanntlich zuletzt Ehej des Stabes des I. Geschwaders gewesen und gilt allgemein als ein außerordentlich gewandter, fein gebildeter Officier. Er war bekanntlich zuletzt Ebef des Stabes des I. Geschwaders. Herr Fritze ist am 6. August 1870 Unterleutnant zur See geworren, wurde am 2l. December 1873 zum Leutnant zur See, am 16. August 1877 Hum Kapitänleutnant, am 15». Januar 1885 zum Korvettenkapitän und an: 27. Mai 1890 zum Kapitän zur See befördert. In letzt genannter Stellung befindet er sich also bereits neun Jahre. Als junger Kapitänleutnant war er Führer einer Eompaguie der ersten Matroscndivision in Kiel; als Eorvettenkapilän finden wir ihn zunächst als Mitglied der Artillerie-Prüfungs commission, dann commandirte er den Kreuzer „Adler" aus der australischen Station; als Kapitän zur See wurde er zunächst mit dem Eommando des EadettensckmlschiffeS „Niobe" betraut, dann zum Neicbsmarine-Amt im Marinedepartement unter dem damaligen Eoutreadniiral Koester coinmandirt; kurze Zeit daraus erhielt er das Eommando des Panzers „Baden", dieses führte er einige Jahre und wurde dann Chef de- Stabes des EommandoS der Marinestalion der Ostsee in Kiel, auch hier war Admiral Koester StationSchef. In allen Stellungen bat sich Fritze vorzüglich bewährt und so darf eS als eine verdiente Auszeichnung betrachtet werden, daß ihm als Kapitän zur See daS Eommando einer Division anvertrant wird. Die hier und da verbreitete Nachricht, daß Prinz Heinri ck» mit ter Ernennung zum Gcschwadcrckef zum Viceatmiral befördert sei, ist unrichtig, Prinz Heinrich bleibt Contre- admiral und hat, wenn er nicht außer der Reihe avancirt, sicherlich noch mehrere Jahre zu warten, bis er zur zweit höchste» Charge in der Marine aufrückt. Die goldene Hochzeit. Skizze von Eduard Rod. Deutsch von K. Robolsky. NsLtrur verholen. Seit fünf bis sechs Jahren wohnten sie in der Straße Lafontaine; woher sie gekommen, wußte keiner. Ihr Name war Walter, ebner jener Zunamen, die ke^ine besonder« Nationa lität verrathen, und ihre kleinen Eigenthümluhkeiten erweckten 'die Aufmerksamkeit in dem Stadtviertel, wo das Geschwätz ebenso lebhaft wie In einem kleinen Landftädtchrn ging. Zwei mal am Tage, um 11 und um 5 Uhr, sah man Herrn Wolter das Haus verlassen, um einen Spaziergang zu machen. Er schritt steif und aufrecht, trotz seiner 75 Jahre, hatte eine Ge sichtsfarbe wie ein Winterapfel und trug einen zugeknöpften, gut sitzenden Le.brock, dessen Knopfloch ein ausländisches Ordensband schmückte. An regnerischen Tagen suchte er ein Cafe auf, wo er Zeitungen las und einige Worte mit den Stammgüsten wechselte. Aus feinem Accent konnte man nicht sein Ba.erl-'nd errcuhen; manchem dünkt«, er wäre ein Deutscher, anderen ein Engländer; oft glaubte man sich überzeugt, daß er ein Russe wäre. Wo in aller Welt kam er her? wunderte man sich, sobald er den Rücken gewendet, und alle möglichen Vermuthungen tauchten auf. Was Frau Walt«er betraf, so verließ sie nie das Haus, außer um einige Einkäufe zu machen, und es fiel ihr nie ein, sich mit oen Händlern von etwas anderem als über das Erhandelte zu sprechen. Sie war einige Jahre jünger als ihr Mann, aber gebrechlicher und hatte schon weißes Haar. In ihrem ganzen Auftreten lag etwas Leidvolles, eine Traurigkeit, welche die kennzeichnet, die in Lviden alt geworden. Im Haushalte stand ihr nur eine Aufwartefrau bei, Mariann«, die des Morgens kam, und Mittags, wmn Herr Walter von seiner Promenade zu dem fertigen Äinch zurückkehrte, zu Hause ging. Mariann: verrichtete nur die groben Arbeiten; das Essen bereitete Frau Walter selbst. Es war bürgerliche Küche, aber große Sogfalt wurde bei der Zubereitung verwendet und es kamen russische und italienische Gerichte auf den Tisch, die ebensowenig wie alle- andere die Heimath des alten Paares verriethen. Marianne sah wenig öder fast gor nichts von ihrem Leben. Eines Tages, als sie zurückkam, um etwas zu holen, was sie der- geflrn hott«, hörte sie Herrn «Walter mit erhobener Stimme im Esszimmer sprechen. Zwei oder drei Tage später wiederholte sie das Experiment und hörte ihn wieder schelten. Aber am nächsten Dige sagte ihr Frau Walter, daß, wenn sie noch ein- mal zur ungewohnten Zeit zurückkäm«, si« entlassen würde, und so wurde ihre Neugier abgeschnitten. Aus d«m Wenigen, was sie vernommen, erriech sie, daß Herr Walter ein Gourmand war und daß seine Gattin beim Essen allein mit ihm sein wollte, nxnn er über die Gerichte schalt. Sie verwunderte sich daher sehr, als Frau Walter eine- Tage- sagte: „Können sie morgen den ganzen Tag bleiben, Marianne? Ich wollte ein Diner bereiten und brauch« Sie." Marianne wuß'e, daß ihre Fragen gewöhnlich unbeantwortet blieben, aber sie konnte nicht unterlassen zu bemerken: „Haben Sie morgen Gäste, Frau Walirr?" „Nein, aber es ist unser goldener Hochzeitstag, und wir wollen ihn mit einem kleinen Fest feiern; auch wollte ich einmal ungestört Mittag essen, ohne bei jedem Gang vom Tische auf stehen zu müssen. Se verstehen?" Marianne verstand. Sie war neugierig, wie diese goldene Hochzeit ablaufen würde. Der Gedanke an die goldene Hochzeit war ganz plötzlich bei Herrn Walter oufgetaucht. Eines Tages, nach einer unangenehmen Bemerkung über ein Goulasch, das nach seinem Geschmack nicht genug gewürzt war, sagte er zu seiner Gattin: prvpos — Du w«ißt, ddß wir bald den 14. Oktober haben?" Seit vielen Jahr«n war kein Jahrestag irgend welcher Art bei ihnen gefeiert worden; selbst die großen Feste, Weihnachten, Neujahr und Ostern, waren so einförmig wie die anderen Tage vergangen. „So?" sagte sie, ohne zu verstehen, was er meinte. „So? Erweckt das Datum keine Erinnerung in Dir? So wenig H«rz wie Kopf. Der 14. October ist der Jahrestag unserer Hochzeit, der fünfzigste, meine Liebe — unser goldener Hochzeitstag. Wir müßten ihn auf irgeno eine Weise feiern—? Ein kleines gutes Diner und eine Flasche Champagner zum Dessert — ah! Das wird uns vergnügen." Ein gutes kleines Diner und eine Flasche Champagner! — Das war alles, was Herr Walter in dem Datum sah, das sein EpikurAismus ihm ins Grdächtniß gerufen hatte. Wie er nie mals seine Frau beachtete, bemerke er auch nicht, daß sie bleich «wurde und nichts mehr aß. Mit leichtem «Sinn erwartete er den großen Tag. Frau Walter war überwältigt. Fünfzig Jahre! Barm herziger Gott, war es möglich? Seit fünfzig Jahren — einem halben Jahrhundert — während zweier Generationen hatte sie ihr Leben so verbracht. Fünfzig Jahre, in welchen si« Tag für Tag sich nach einem Strahl des Glückes gesehnt hatte, das ihr niemals leuchtete; fiinfz g Jahre, in welchen der unbestimmte Gedanke des Aufruhrs in ihrer Seele lag und zehrte! Fünfzig Jahre war es her, seitdem si- jung, hübsch, froh, freimüthig uno vertrauensvoll ihre Hand in die ihres Mannes gelegt hatte. Weit fort war es gewesen, das machte ihr nichts, in einem süd lichen Land«, an einem warmen und sonnigen Tage, da die ganze Natur strahlte und — log. Sie war jung und liebte ihn und vertraute ihm; die Zukunft lag leuchtend vor ihr. Das Erwachen nahm schon am Tag« nach der Hochzeit sein«» Anfang, als sie in seinem Herzen nur kalten Egoismus fand. Und dieses Erwachen war Tag für Tag stärker geworden; Monat auf Monat, Jahr auf Jahr wuchs die Erkenntniß in ollen d«n Leiden, die ein sich selbst überschätzender Mann, der nur an sich selbst dachte, über sie brachte, unter all' den er müdenden Irrfahrten in der Welt, unter den Sorgen, die sie hätten zusammen tragen müssen, aber welche er durch sein Ver mögen, sich nie durch etwas stören zu lassen, nicht mit ihr theilte; und nun, da sie am Ruin ihres Lebens stand und hoff nungslos aus die Trümmer blickte, schlug er vor, den Tag, da ihre Leiden begannen, mit einem „guten Diner und einer Flasche Champagne" zu feiern. Ah! das Diner! Wenn rS einmal werden könnt«! Wenn sie ihm all' die Bitterkeit serviren könnte, die er ihr Tropfen für Tropfen in die Seele geträufelt hatte. Wenn es das letzte Mittag sein könnte, das sie zusammen aßen! Wenn sie den Plan verwirklichen könnte, über den sie so lange schon nachgegrübelt: ihre Ketten abzuschütteln, ihn zu verlassen und ihre letzten Tage weit fort von ihm verbringen könnte! Herr Walter war an seinem goldenen Hochzeitstage, in Er wartung des lukullischen Mahles, das seine Äartin ihn Her richten würde, in rosiger Laune. Das heißt, um die Wahrheit zu sagen, war sein Humor nicht viel anders als an gewöhn lichen Tugen,"was sich in allerlei beißenden Redensarten zeigte, die seine Gattin mehr verwundeten, als w«nn er ihr grobe Be leidigungen gc'sagt hätte. Nach ihrer Gewohnheit antwortete sie nicht darauf, nur hin und wieder warf sie einen schmerzerfüllten Bl ck, dessen Vorwurf er niemals ahnte, auf ihren Mann. So verging die Zeit. Schließlich schlug die alte Empire-Uhr, die sie auf allen ihren Reisen begleitet hatte, sechs, und Herr Walter kehr!« von seiner Promenade zurück mit der Pllnctl chk.it eines Gourmands, d«r schon den Braten auf der Zunge fühlt. Er öffnete die Thür zum Eßzimmer; der Tisch war nicht gedeckt. Er stürzte in die Küche, stutzte aber, als er nur Mariannen sah. „Wo ist meine Frau?" „Frau Walter ist ausgeganqen." „Mui-gcgdngen? W.h n? Was sagte sie?" „Fr'cru Walter sagt«, daß «rst um 7 Uhr gegessen würde." Eme Stunde warten! Und weshalb? Die Zeit wurde ihm sehr lang. Weshalb in aller Welt war seine Frau gerade heute ausgegangen? Noch dazu, da si« wußte, wie sehr er auf pünktliches Essen hielt. Er grübelte nach, indem er auf und ab schritt, und die Vorstellung, daß seine Gattin plötzlich gar den Verstand verloren haben konnte, tauchte immer deutlicher in ihm auf; schon sah er alle die be schwerlichen Folgen einer solchen Eventualität vor sich. Als es sieben schlug, wurde ihm das Zimmer zu eng, er rannte durch alle Stuben, zuletzt stürzte er in die Küche. „Nun, sie kommt ja noch nicht zurück?" „Ach, ich vergaß zu sagen, der Herr möchte nicht ungeduldig werden, wenn es etwas später würde." Etwas später! un-d fein Diner, ihr goldenes Hochzeitsmahl, überließ sie einer Frau, von deren Kochkunst er nichts wußte! Gereizt fragt« er: „Was giebt es denn zu Mittag?" „Frau Walter sagt«, ich sollte nichts verrathen, es wäre eine Ueberraschung." Eine Ueberraschüng! Nun ging ihm rin Licht auf. Ohne Zweifel war seine Gattin auSgegangen, um irgend etwas Be sonderes für ihn zu beisorgen, was sie nicht früher erhalten konnte. Sie war doch eine gute Frau, trotz Allem. Tritt« ließen sich auf der Treppe hören, die Thür wurde geöffnet und Frau Walter trat ein, ein wenig bleich und etwas erschöpft vom Treppensteigen. Ihre Hände waren le«r; keine Ueberraschung, wie es schien. „Da bist Du ja endlich. Die Uhr ist acht; waS bedeutet das?" „Nichts. Ich wollt« heute später essen. Marianne, Sir können onrichten." Er hatte sein« despotischste Miene angenommen; aber die Ruhe der unerwarteten Antwort brachte ihn vollständig aus der Fassung. Schweigend nahmen sie ihre Plätze ein. Marianne brachte die dampfende Suppe. — „Kürbissuppe! Kürbis! Und Du weißt, daß ich ihn verabscheue." „Ich dachte daran, daß es mehr als dreißig Jahre her ist, seitdem ich die Suppe nichi gegessen." Der Fisch kam in holländischer Sauce, die ebenfalls nicht nach seinem Geschmack war, doch mußte er Mariannr's wegen schweigen. «Aber sprachlos, mit offenem Mund«, saß er da, und bemerkte doch nicht, daß seine Ga:tin keinen Bissen von dem, was sie auf dem Teller hatte, anrührte. Sie starrte ins Leere. Ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre Liebe, Alles verschwamm vor ihren Bl-icken. Sie fah die Verzweiflung der Sklaverei in diesen fünfzig Jahren, und als ihr Blick auf den Mann fiel, der ihr gegenüber saß, gcdemüthigt, fast eingeschüchtert, trium- phirte sie über ihre kindliche Kriegslist, die ihre ganze Rache enthielt. „Das geht ja fröhlich her bei der goldenen Hochzeit", dachte Marianne, als sie den geschmorten Hasen hereinbrachte. Da sagte Herr Walter: „Also aus Trotz hast Du dieses an gerichtet, was ich nicht mag?" „Aber ich mag es." „Und Du thatest es absichtlich?" „Id, begreifst Du es endl ch? Ganz absichtlich." Er fprang auf, zitternd vor Zorn. „Erkläre es mir. Hast Du plötzlich Deinen Verstand verloren? Ist e- nicht mein goldener Hochzeitstag?" „Und der meinige auch! Ich bin ganz bei Verstände. Uno wenn Du es wissen willst, warum ich es that, so will ich es Dir sagen. Seit fünfzig Jahren hast Du mich unter Deinen Willen gebeugt, nie kam es Dir in drn Sinn, zu fragen, ob auch ich einen Wunsch hatte. Seit fünfzig Jahren bin ich Deine Sklavin. Nun wollte ich, daß Du auch mir mal eine Stunde Dich mir beugtest. Nachher erhöbst Du Deine Freiheit wieve. — ich meine Fesseln. Ich hatte sie abschütteln wollen und Dich verlassen; aber ich bin zu alt, ich wäre verlvren. Verstehst Du es nun?" Sie zitterte an allen Gliedern, während in ihren Augen ein Blick wie um Verzeihung für ihre Kühnheit lag. Während si« sprach, hatte sich Herrn Walter's Gesicht er hellt. Weiter war es nichts! Eine Krisis, die oorüberginz. Nun würd« der Sturm kommen, die Thränenfluih, und di: Gattin winde ihn um Verzeihung bitten. Zum ersten Male in seinem Leben fühlte er sich edrlminhig gestimmt. Er lächelte fast freundlich, indem er achseizuckend murmelte: „Frauen sind und bleiben Frauen!" Einige Thränen fielen auf Frau Walter's Teller. Sie trocknete die Augen und sagte sanft: „Soll ich das nächste Gericht bringen lassen? Es ist etwa- für Dich — eine Pastete von W ldemen." Die Augen d«s Herrn Walter strahlten. „Aus Amiens?" fragte er, und da sie bejahte, sagte er: „Du hättest mir den Appetit zerstört; aber er kommt wieder; glaube ich. Und der Champagner?" „Der liegt in EiS." „In EiS", stieß er entzückt aus. „Nun erkenne ich Dich wieder. Ich will nichts mehr über die Sache sagen. Tietz', ich verzeihr Dir."
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