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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.07.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-07-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960717014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896071701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896071701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-07
- Tag1896-07-17
- Monat1896-07
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Die Morgeu-AuSgab« erscheint um '/,? Uhr, Li« Abeud-Au-gab« Wochentag» um 5 Uhr. VaU« 0.0O. Durch Vie Post bejvaei, für Deutschland und Oesterreich: viertenährltch 8.—. Directe tägliche Kreu-baadsenduug Nr-actio« «n- Lrpeditioa: Aohanne««astr 8. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geüffuet von früh 8 bi« Abend» 7 Uhr. Filiale«: vtt« «lemm's Sortim. (Alfred Hahn). Universttät-straßr 8 (Paulinum), LouiS Lösch«, Katharinenstr. 14, Part, und Königsvlatz 7. Bezugs-Preis hi h« tzauptexpedition oder den im Stadt. U»trl und den Vororten errichteten Au«, aaoestellen abgeholt: vierteljährlich^lL.LO, bei zwetmaltaer täglicher Zustellung in» Hau« ^l 5.L0. Durch die Post b«joa«n für Deutschland und Oesterreich: viertelMrltch tu« Ausland: monatlich ^l 7.SO. Morgen-Ausgabe. KiMger TagMM Anzeigen Preis die 6 gespaltene Petitzeile Li) Psg. Reklamen unter dem RedactionSstrich (4ge- spalten) LO^j, vor den Familiennachrichten (6gespalten) 40^. Größere Schristen laut unserem Preis« verjeichniß. Tabellarischer und ZissernsaA nach höherem Taris. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen»Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderung >ll 70.—. Anzeiger. Ämtsvlatt des Hönigüchen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Ratkjes und Notizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Freitag den 17. Juli 1896. Annahmtschlnß für Anzeigen: Abrnd-Au-gabr: vormittags 10 Uhr. Morgen«Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde srnher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leivziz SV. Jahrgang. Die Lekampfung von Settel, Landstreicherei und Arbeitsscheu. 11. Die Verwendung zu gemeinnützigen Arbeiten, welche bei Bettlern und Landstreichern im Strafgesetzbuch vorgesehen ist, hat nach den Untersuchungen von Hippcl's praktisch in Deutschland gar keine Bedeutung. Die Ausweisung von Aus ländern wird überaus verschieden und willkürlich gehandhabt. Das sind Mängel, die eine nachdrückliche Wirkung der Arbeitshausstrafe ausschließen, so sehr auch von den Delin quenten versucht wird, sich um dieselbe herumzudrücken. „Wirklich große, durchgreifende Erfolge im Kampfe gegen Bettel, Landstreicherei und Müßiggang", sagt von Hippel, „lassen sich allein durch das organische Zusammenwirken einer ganzen Reihe von Maßregeln erreichen. Dahin rechne ich eine verbesserte Jugenderziehung, eine energische Be kämpfung der Trunksucht durch den Staat; dahin gehören weiter die sachgemäße Ausgestaltung der Armengesetzgebung und Armenpflege, sowie überhaupt alle Maßnahmen, welche ans eine Hebung der socialen und wirthschafllichen Lage der unteren Bevölkerungsschichten abzielen." Hinsichtlich des Arbeitshauses macht von Hippel folgende Reformvorschläge: 1) Nichtanwendung der Arbeits hausstrafe gegenüber den beschränkt arbeitsfähigen Elementen, bei denen von einer Erziehung zur wirthschaftlichen Selbst ständigkeit durch Arbeit nicht die Rede sein kann. 2) Un bedingte Anwendung des Arbeitshauses bei gewerbsmäßigem Bettel oder Bettel aus Arbeitsscheu im Rückfall, wenn diese Delicte von arbeitsfähigen Personen begangen werden. Darunter ist der Bettel im Umherziehen, die Landstreicherei, mit begriffen. 3) Abschaffung der kurzen, wertblosen Haft strafe vor der Einsperrung im Arbeitspause. 4) Entscheidung des Gerichts über Aufnahme in das Arbeitshaus und feste, gesetzliche Bestimmungen der Fälle, in welchen Arbeitshausslrafe einzutreten hat. Damit würde das Arbeitshaus zu einer gericht lichen Hauptstrafe. 5) Verbüßung der Arbeitshausstrafe bei Aus ländern wie bei Inländern und dann erst Ausweisung. 6) Wegfall der Arbeitshausstrafe gegenüber jugendlichen Personen unter 18 Jahren. 7) Mindestdauer der Arbeitsstrafe sind 0 Monate, Höchstdauer 2 Jahre, allenfalls 3 Jahre, und ist dem Richter die Strafzumessung Vorbehalten. 8) Verkürzung um ein Viertheil bei guter, Verlängerung um ein Viertheil bei schlechter Führung des Corrigenden. 9) Nack verbüßter Strafe regelmäßig nicht Entlassung, sondern zunächst Beurlaubung nach sächsischem Muster. 10) Verschaffung von Arbeits gelegenheit an arbeitswillige, definitiv entlassene oder be urlaubte Personen, welche dieselbe ihrerseits wünschen 11) Die Vollstreckung der ArbeitShanSstrafe hat innerhalb ganz Deutschlands nach den gleichen sachlichen Grundsätzen zu erfolgen, denn erst im einheitlichen Strafvollzüge findet das einheitliche Recht seinen nothwendigen Abschluß. 12) Die zur Verbüßung der correctionellen Nachhaft dienenden Anstalten sind ausschließlich als Arbeitshäuser im Sinne des 8 362 des Strafgesetzbuchs zu verwerthen und durchgehends getrennte Arbeitshäuser für männliche und weibliche Corrigenden zu schaffen. Insbesondere ist die Aufnahme land- und orts armer Personen in dieselben zu vermeiden. 13) Uebernahme sämmtlicher Anstalten durch den Staat. Die preußischen Anstalten sind bekanntlich noch immer Communalinstitute, was die einheitliche Organisation außerordentlich erschwert. 14) Innerhalb der Arbeitshäuser ist für die Schaffung eine- kleineren Procentsatzes von Jjolirzellen Sorge zu tragen, auch erscheint eine nächtliche Trennung sämmtlicher Insassen Wünschenswerth. Als herrschendes Haftsystem ist im klebrigen die Gemeinschaft beizubehalten. Eine energische Classification innerhalb derselben wird von Nutzen sein. 15) Die Be schäftigung, jedenfalls der männlichen Sträflinge, mit landwirthschaftlicheu Arbeiten ist dringend zu empfehlen und weiter auszugestalten. Beim sonstigen Arbeits betriebe ist thunlichst auf eine erziehliche, das spätere Fortkommen des Entlassenen fördernde Wirkung Rück sicht zu nehmen. 16) Zur Aufrechterhaltung der Zucht und Ordnung im ArbeitShause sind scharfe Disciplinarmittel durchaus am Platze, die heute in einigen Staaten zulässige Anwendung der körperlichen Züchtigung aber ist nicht zu billigen, soweit nicht jugendliche Personen in Frage kommen. 17) Der harten Bestrafung in den schwersten Fällen des Bettels ist die Straflosigkeit des Bettels im Nothstande gegen überzustellen. Straflosigkeit hat auch dann einzutrelen, wenn die Nothlage eine selbstverschuldete war. Im klebrigen ist der Bettel mit Haft nicht unter einer Woche, welche geeigneten falls durch hartes Lager und Verbüßung bei Wasser und Brod verschärft werden kann, zu bestrafen. Der heute zu lässige ArbeitSzwang während der Haftstrafen ist beizubehalten. 18) Die Aburtheiluug des Bettels im Wege der polizeilichen Strafverfügung ist zu verbieten. DaS abgekürzte Verfahren des 8 211 der Strafproceßordnung (sofortige Entscheidung des Schöffengerichts, oder des Amtsrichters ohne Schöffen) muß im Falle seiner weiteren Zulassung von dem Geständniß des Angeklagten unabhängig gemacht werden. 19) Das Dulden des Bettelns von Kindern und Hausgenossen ist nach Analogie des 8 361 Nr. 9 des Strafgesetzbuches lediglich mit Haftstrafe zu bedrohen. 20) Die Nummern 5 und 8 des 8 361 des Strafgesetzbuches (HilfSbedürstigkeit in Folge von Spiel, Trunk und Müßiggang, Obdachlosigkeit) sind zu be seitigen. Die Nummer 7 desselben Paragraphen (Arbeitsscheu) ist heute praktisch wcrthlos. An ihrer Stelle wird sich die Ausstattung der Armenverbände mit weitergehenden Macht befugnissen gegenüber arbeitsscheuen Hilfsbedürftigen em pfehlen ES ist eine lange Reihe von Thesen, welche der Verfasser aufstellt. Er wird bei Manchen Widerspruch, bei Vielen Zustimmung finden. Jedenfalls ist seine Arbeit eine über aus verdienstvolle, denn daß Etwas zur Bekämpfung von Bettel, Landstreicherei und Arbeitsscheu gethan werden muß, darüber ist man sich einig. Das Werk von Hippel'S bringt auf 281 Seiten werthvolles Material und interessante statistische Aufstellungen. Abgesehen von den liederlichen Dirnen, befinden sich im Jahre an 12 000 Bettler und Landstreicher in deutschen Arbeitshäusern, darunter zwei Drittel nicht zum ersten Mal, sondern im wiederholten Rückfalle. „Im Ganzen", schrieb die „Kölnische Zeitung" bei einer Betrachtung der An gelegenheit, „gilt die übrigens naheliegende Erfahrung, je strenger die Verwerthung der ArbeitShauSstrase, desto weniger häufig sind im Bezirke Bettel und Land streicherei. Aber das Arbeitshaus schreckt nicht nur ab, es bessert auch, denn fast die Hälfte der zum ersten Mal Eingebrachten wird nicht rückfällig, in der Thal ein sehr gutes Ergebniß. Und wenn man nun bedenkt, daß im Durchschnitt die tägliche Unterhaltung jedes ArbeitShäuSlers nur 40 ^f, in Preußen sogar nur 30 Zuschuß zu den eigenen Einnahmen der Anstalten erfordert, wenn man andererseits erwägt, daß Wohl jeder von den 12 000 Strolchen täglich das Vielfache davon vom Volke erbetteln und ergattern würde, wenn er nur könnte, so ergiebt sich neben den hohen sittlichen und erziehlichen Ausgaben des Arbeitshauses ein nach Millionen zu veranschlagender Betrag, der durch ihr gedeihliches Bestehen dem Lande in jedem Jahr erspart wird und als baarer Gewinn erhalten bleibt." Eben darum sollte auf eine baldige rationelle und vor Allem einheitliche Regelung dieser zweckmäßigen Arbeitshaus organisation gedrungen werden. Deutsches Reich. * Leipzig, 16. Juli. In einem „Epilog zur Be rätst u uz des Bürgerlichen Gesetzbuches", den NeichS- gerichtsrath Di. Stenglein in der „Deutschen Juristen zeitung" veröffentlicht, nimmt der Verfasser den von ver schiedenen Seiten wegen seiner „überhasteten" Berathung des Werkes so herb getadelten Reichstag energisch in Schutz. Er beglückwünscht das deutsche Volk dazu, daß die vielköpfige Reichstagscommission wenigstens nicht mehr Mängel in den Entwurf gebracht batte, als Verbesserungen, und fäbrt dann fort: „Nun kommt die Berathung vor den Reichstag. Derselbe trotzt der sommerlichen Hitze und ist sogar, merkwürdiger Weise!, stets beschlußfähig, verdirbt allen ObstructionSversuchen das Spiel und übt, ohne Terrorismus, eine Enthaltsamkeit, die ihm gestattet, Tausende von Paragraphen in wenigen Tagen anzunebmen. Die Einsichtigen zollen ihm Beifall, und selbst solche können ihm ein gutes Zeugniß nickt versagen, welche von seinen sonstigen Leistungen nicht besonders erbaut sind. Nun kommt aber ein ChoruS von kleinen Kläffern und fährt dem armen Reichstag wüthend an die Beine. Wozu diese unwürdige Hast'? welche Farce einer Berathung! Das Werk ist noch lange nicht gereift! Welche Verbesserungen hätte man bei ruhiger Berathung im Herbst noch an bringen können! so schreit das wilde Heer der Oppo nenten um jeden Preis. Eine unwürdige Hast nach 25jähriger Arbeit und drei Commissionen! Sie begreifen nicht, diese Leute, daß der Reichstag sich gerade durch das Nichlberathen ein Verdienst erworben hat; daß überhaupt eine Versammlung, in welcher politische Motive überwiegen müssen, selbst wenn Parteirücksichten keine so große Rolle spielen, wie in dieser, nicht befähigt ist, ein Gesetzbuch zu berathen und nicht befähigt, es zu verbessern; daß 99 Proc. Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß, wenn es im Herbst zu einer Berathung gekommen wäre, da« Gesetzbuch schlechter aus derselben bervorgegangen sein würde, als es jetzt ist. Welche Garantie ist aber dafür gegeben, daß das Gesetzbuch im Herbst überhaupt noch zu Stande gekommen sein würde? Welche Garantie dafür, daßder Reichstag die eingehendeBerathung, wie bei einem kleinen Gesetze, überhaupt leisten könnte? Bei 2359 Para graphen zu 25 Paragraphen täglich wäre eine BeratlmngS- dauer von mehr als vier Monaten in winiwo erforderlich. Aber freilich die deutsche That, welche in der Annahme des Bürgerlichen Gesetzbuches liegt, begreifen diese Herren nickt. Das einigende Band desselben kennen sie nicht oder sie ver wünschen es. Der Ruf nach dem nie erreichbaren Besten, welcher stets der Feind deö Guten ist, gilt nicht dem Besseren, sondern der Verneinung; der Verneinung wenigstens deshalb, weil man den am Ruder Befindlichen im kleinlichen Ingrimm den Erfolg nicht gönnt. Aber Alle, denen daS Her; ui deutschem Patriotismus ohne kleinliche Nebenrücksichten sckläg:, werden mit uns rufen: Dank dem Reichstag!" A Berlin, 16. Juli. Die socialdemokratische Partei leitung sieht sich veranlaßt, den Vorwurf derUnfruchtbarkcit ihres Treibens zurückzuweisen. In einer langen, schwülstigen Auseinandersetzung kann der „Vorwärts" zwar nicht leugnen, daß die Socialdemokratie in der Gesetzgebung als eine Partei der Verneinung erscheint, aber sonst „bat die Socialdemokratie Unermeßliches an befruchtender Arbeit geleistet." Nämlich: „sie hat Aufklärung über ibre Lage in die weiten Schichten des Volkes getragen." Ju Wahrheit bat die Socialdemokratie in einem Theile des Volkes Jrrthümer anSgestrcut, und Jrrthümer können aller dingS auch Früchte tragen, aber nur giftige. Bei Nr. 2 der Entschuldigungen kommt — ein Zeichen des hoben Grade) der Verlegenheit — der lange in der Tasche gehaltene „Zukunftsstaat" wieder einmal zum Vorschein. Die Social demokratie „bat dem Ringen und Drängen aller Unterdrückten ein festes und unverrückbares Ziel gesteckt". Wo daS Ziel aber ist und wie cs auSsieht, darüber verrätb Herr Liebknecht auch heute nichts. Dann Hal die Socialdemokratie die „Volke biltung" gefördert. Hier gilt das zu Nr. 1 Gesagte. Zum Vierten und Letzten bringt der „Vorwärts" dem Augenblicks bedürfniß sogar das Opfer, sich der gewerkschaftlichen Be wegung zu rühmen und sie der Parteileitung zuzuschreiben. Wie die Führer dieser Bewegung, obwohl sic Socialdemo- kraten sind, nur zu oft erzählt haben, hat die Parteileitung die Gewerkschaften immer mit scheelen Blicken angesehen und insoweit diese gedeihen, geschieht es nickt infolge, sondern trotz der im „Vorwärts" maßgebenden Herren. Ihren Höhepunct erreicht die Orgie des Schwindels im Central vrgan in folgendem Satze: „Sie (die Socialdemokratie) will nicht eine Classenherrschaft durch eine andere ersetzen, sondern durch Abschaffung aller Classenberr- schafl einen höheren Grad menschlichen GesellsckastS lebens herbeisühren." So, und die angekündigto „Diktatur des Proletariats"? Gegen wen die Parteileitung sich vertheidigt, wissen wir nicht, aber jedenfalls ist die Aus lassung ihres Organs ein Plaidoyer auf Lossprechung von einer Anklage auf „Verneinung". Vielleicht, daß man für den Londoner internationalen Socialistencongreß vorbaucn will. Dort werden die, bekanntlich neuerdings das Genossen schaftswesen ernstlich empfehlenden Anarchisten kaum un- vertrelen sein, obwohl der „Vorwärts" Tag für Tag durch Schimpfereien, die seine Angst vor dem feind lichen Zwillingsbrnder nicht verbergen können, auf dessen Fernhaltung dringt. Das Blatt meint, der Congreß werte nicht viel Zeit mit der Beantwortung der Frage, ob die Anarchisten zuzulassen seien oder nicht, zu verbringen brauchen, denn die Frage sei für jeden mit der Geschickte und dem Wesen der Partei Vertrauten seit Jahrzehnten „erledigt". Diese Zuversicht ist aber nur geheuchelt. Der „Vorwärts" selbst verräth, daß die englischen Socialistenführer Keir Hardie und Tom Mann nicht zu den „Kennern" gerechnet sein wollen. Er theilt nämlich mit, daß die Beiden in einer Versammlung von Anarchisten anwesend sein werden, die während des Socialistencongresses in London stattfinden wird, ohne daß deswegen die Anarchisten auf ihre Vertretung auf diesem Congreß verzichten werden. Feirilleton. Die Frau im Spiegel der Frau*). Culturbilder aus aller Herren Länder. I. Tie französische Frau. Von vr. Kaethe Schirmacher (Paris). Nachdruck verboten. Das Leben der französischen Frau, ibre Erziehung und Stellung ist von dem der deutschen in vielen Puncten sehr verschieden. Vergessen wir in erster Hinsicht nie, daß Frankreich ein vorwiegend katholisches und fast ausschließlich romanisches Land ist. Beides trägt dazu bei, daß die jungen Mädchen in Frankreich sehr viel weniger frei auf wachsen und erzogen werden als bei uns. Die Mädchen werden daher in Frankreich auch heute noch vorwiegend in Klöster, Klosterschulen oder Klosterpensionate geschickt, so daß sie vor ihrer Verheirathung mit der Welt möglichst wenig in Berührung kommen. Behalten aber auch die Eltern die Mädchen im Hause und in der Familie, so werden sie nichtsdestoweniger auch hier strenger ge halten als dies in den Familien de» deutschen Bürger standes der Fall ist. Vor Allem läßt man sie nie allein ausgehen, sondern schickt ihnen auf Schritt und Tritt das Dienstmädchen, die Gouvernante oder einen männlichen Tugendwächter mit. In den breiten Schichten der fran zösischen Bourgeoisie hat sich sogar die öffentliche Mädchen schule noch nicht den Platz erobert, den sie in Deutschland seit lange behauptet: die kirchlichen und religiösen Lehranstalten machen den französischen Staatsmädchenschulen — zeuno llllvs — sehr erfolgreiche Concurrenz. Die Staats mädchenschulen bestehen ja auch erst seit 1871, und «S ist in erster Linie der protestantische Tbeil der französischen Be völkerung — d. h. höchstens 2 Millionen Einwohner — gewesen, der gern und freudig diese öffentliche Erziehung für seine Töchter in Anspruch genommen hat. Die Mädchen des Volkes gehen theil» in die Communalschulen, theilS in religiöse *) Wir beginnen heut« mit einer Reihe von Artikeln, welche die Frauen betreffen. Die Artikel stammen alle au» der Feder von Frauen selbst und da» ist der Grund, daß in ihnen eine andere Saite anklingt, al» wir sie anschlagen wurden. Wenn wir daher auch nicht mit der weniger oder mehr sich aufdrängenden Tendenz einverstanden sind, so werden doch dieje Artikel al» Stimmung-bilder viel« Freund« sind«n. D. Ned. Anstalten. Für sie wie für die Mädchen des Kleinbürger standes gelten übrigens oie engen Schicklichkeitsregeln der Bourgeoisie nicht; diese Mädchen spielen auf der Straße wie bei uns und gehen, wenn sie halb oder auch ganz erwachsen sind, auch allein aus; schon einfach deshalb, weil sie Niemand bezahlen können, der ihnen überall daS Geleit giebt. Für das erwachsene französische Mädchen stellt sich nun, wie für das deutsche, die HeirathSfrage. Sie stellt sich aber in ganz anderer Form als wie bei uns. Erstens ist in Frankreich kein solcher Männermangel wie in Deutschland, wo wir wenigstens eine Million Frauen mehr haben als Männer. In Frankreich — wie in allen romanischen Ländern — ist eher ein Männerüberschuß vorbanden, daher sind die HeirathSauSsichtcn des französischen Mädchens auch von vornherein bessere. Außerdem bedeutet Heiratben für die Französin ziemlich das Gegentheil von dem, was es für die Deutsche bedeutet: nämlich Freiheit, Auf treten in der Gesellschaft und Gefeiertsein. Das bezieht sich allerdings nur auf die oberen Zehntausend, die ein Leben der Geselligkeit und Zerstreuung führen. In diesen Kreisen aber — und sie sind heute noch immer die tonangebenden — herrscht die französische Frau mit einer Unumschränktheit, wie sie nur ein Land mit so hoch entwickeltem Gesellschaftsleben kennen kann. Hier hat sie seit Jahrhunderten ihre glänzendsten Triumphe gefeiert, die Mode beherrscht, geschaffen und tyrannistrt, von hier auS sich in alle Geschäfte des öffentlichen Lebens eingemischt, ihren Einstuß aus allen Gebieten geltend m machen gewußt; sie hat es verstanden, mächtiger als der Minister, wichtiger al» der Cabinetsvorsteher, einflußreicher al» der Bureauchef zu sein. Für sie wurden Kriege geführt, Minister ernannt und weggeschickt, Orden verliehen, Akademiesefsel vergeben, Staatsaufträge verschenkt u. s. w. In diesen Kreisen thnl man recht, stets zu fragen: ob est la fomnur? denn dort kommt ohne sie kein Mann zu irgend Etwas. Dieser Einfluß aber im Dunklen, ohne Verantwortlichkeit auSgeübt, ist ein unheilvoller und unsittlicher, der da« Land und die Frauen selbst schwer schädigt. Einen sehr viel gesunderen Einfluß übt dagegen die der- heirathete Fra» der arbeitenden Bourgeoisie au«. Man weiß im Auslande sehr wenig von ihr, weil sie in der fran- zösischen Literatur fast gar nicht vorkommt, sondern dort dinter der glänzenden Gesellschaftsdame völlig znrücktritt. Die Frauen der französischen Beamten, Lehrer, Pastoren und mittleren Kaufleute sind eS aber gerade, die die größte Aebn- lickkcit mit unseren deutschen Hausfrauen haben. Sie sind cs, die nmimer rastend, nimmer müde den HauSbalt versehen, die Kinder ausziehen, Pensionaire ins HauS nehmen, nähen, flicken und kochen und sich im Kamps ums Dasein völlig an die Seite ihres Mannes stellen. Sie werden dafür aber auch als gleichgestellte und gleichberechtigte Persönlichkeiten anerkannt. Besonders bei den Gewerbetreibenden dieser Stände. Dort ist die Frau nämlich seit Jahrhunderten der unentbehr liche Bestandtbeil des Geschäfts: sie bringt ja meist ein kleines Vermögen mit, welches in das Geschäft gesteckt wird, ist also Partner der Firma und ganz direct an dem Wohlstand de« Hause« betheiligt. Nicht aoer genug daran, sitzt sie auch noch an der Casse, ja, wenn Noth am Mann ist, springt sie auf und bedient selbst die Kunden. Häufig ist sogar diese Rolle der Verkäuferin, die mit dem Publicum umzugeben weiß, die es artig und zuvorkommend behandelt, die mit ihrer Liebens würdigkeit die Kunden anzieht, ihre Hauptrolle und sie damit zugleich eine Stütze de« Geschäfts. Die Frauen diese« mittleren Bürgerstandes, der etwa 15 Proc. der französischen Bevölkerung ausmachen dürste, leben entschieden in den gesundesten materiellen und socialen Verhältnissen, die wir heute besitzen. Ihr Dasein ist, wie ich bereit« erwähnte, ein wenig geräuschvolles, aber nichtSdesto weniger sind sie ganz unentbehrlich, und ohne diese still- geschaftigen, arbeitsamen Classen könnte Frankreich auf die Dauer nicht bestehen. Für die Frauen deS Arbeiterstandes liegen in Frankreich die Dinge nicht viel ander« als wie in Deutschland. Für sie, die etwa 75 Proc. der ganzen weiblichen Bevölkerung bilden, bedeutet Leben: einen harten Kamps um das tägliche Brod führen. Sie füllen seit Jahrhunderten alle erdenklichen weiblichen Berufe au«; gegen daS Dienen in Häusern und Familien zeigen sie eine steigende Abneigung, weswegen denn, in Pari« wenigstens, die Hausfrauen ihrerseits eine steigende Zuneiaung für deutsche Dienstmädchen und Köchinnen und für englische Kammerjungfern und Kinderwärterinnen an den Tag legt». Die Ersteren sollen geduldiger und ansprückSloser, die Letzteren — bei höheren Ansprüchen — doch wenigsten« zu verlässiger und bester geschult sein. So sind eS denn andere Berufe, die da« Mädchen au» dem französischen Volk vorzicbt: Wäscherin und Plätterin, Blumen- und Putzmacherin, Schneiderin und Corsetmackerin, Verkäuferin, da« wird sie mit Vorliebe. Daneben kann man sie in den verschiedenen Zweigen deS „ärilcle cks ?ariz" finden, al« Polirerin, Schleiferin, Hefterin, in der Galanterie- waarenbranche, den Cartonfabriken rc. In all diesen Berufen bleibt sie die zierliche „Grisrtte", so genannt, weil sie früher sich hauptsächlich in Grau kleidete; in all diesen Berufen sucht sie ihre Arbeit mit Koketterie zu verbinden und giebt viel darauf, ihre Hände fein und ihre Erscheinung hübsck zu halten. Tiefer als sie, steht dann schon die eigentliche Fabrik arbeiterin, die in größeren Betrieben rohere, stumpfsinnigere Arbeit thut und sich nicht rühmen kann, wie die Grisetle schon im 18. Jahrhundert die Augen der Romanschriftsteller auf sich gezogen zu haben. Eine Heirath ist Wohl immer das Ziel der Mädchen aus dem französischen Volk, die Heirath mit einem Manne, der ordentlich verdient, nicht trinkt, die Frau nicht schlägt und sich in einem sauberen Heim, wo womöglich cm Mahagonischrank mit einem Spiegelglas stebt, zwischen Frau und Kind gefällt. Wie viele die« Ideal nickt cr reichen, davon geben die Nachrichten jeder größeren fran zösischen Zeitung Kunde, die alltäglich von den rbelickeii Zwistigkeiten und blutigen Fehden in den Arbeiterfamilien erzählen. Viele, die eine solche Heirath als Endziel vor Augen haben, wollen sich vorher aber noch erst auf eigene Haut etwas amüsiren und sich die Welt ansehen. Da« bat sein guten und hat seine sehr schlimmen Seiten. Denn »irgen: auf der ganzen Welt sind die Versuchungen, denen cin armc. und hüb;cheS Mädchen ausgesetzt ist, so groß wie in Pans. ES giebt auch keine Stadt der Welt, wo das Mädchen auo dem Volke kraft seiner Schönheit noch so anerkannte Vorrechte bat wie hier in Paris, wo zu Fastnacht eine „Königin ter Wäscherinnen" gewählt, dem Präsidenten vorgestellt, von il in mit einem Goldarmband beschenkt und dann in feierlichem Zuge über die Boulevards gefahren wird. Um allen Vn suchungen dauernd zu widerstehen, wenn man zu Hause magere Kost, häßliche Umgebung, im Geschäft Zank und Aerger, und in den Adern junges Blut hat, dazu würde eine schier übermenschliche Tugend oder ein tiesreligiöser Smu gehören, lieber diese seltenen Dinge verfügt das Kind des Pariser Straßenpflasters nur sehr selten. Wie eine Frau aber auf ehrliche Weise und ohne sich zu verheirathen zu Einfluß, Ansehen, Reichthum und Stellung gelangt, da« Problem ist in Frankreich noch nicht gelöst, ja kaum überhaupt al« Problem gestellt worden. Heimlichen Einfluß durch Männer auf Männer, Einfluß ohne Verant wortlichkeit hat die Frau genug; ihn als Weib auSzuüben, daraufhin wird sie erzogen. Ihn durch ihre selbstständige Persönlichkeit, durch ihr Wissen und Können zu gewinnen, ter Gedanke wird erst von einer ganz kleinen Gruppe vertreten. Den Masten liegt er deshalb besonders fern, weil die Ver sorgung der Fran durch die Ebe in Frankreich eine leichtere ist als bei uns, und weil die französische Frau in ter Gesell schaft eine weit betentenkere Nolle spielt al« bei uns
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