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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.10.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-10-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961002016
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896100201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896100201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-10
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Extra-Beilagen (gesalzt), nur «1t de, Morgen-AuSaabe, ohne Postbeförbrruag >l SV.—, mit Postbesürderang VV-—. Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Molizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Ännlthmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittag« 10 Uhr. Morge»»Au-gabe: Nachmittag« «Uhr. Lei den Filialen und Annahmestelle» je eine halb» Stunde srnher. Anzeigen sind stets au di« Expedition zu richten. —— Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig Freitag den 2. October 1896. so. Jahrgang. Die Revue von Chalons. Eine ganz eigenartige Borgeschichte hat die Revue von Chalons. Generale und Politiker haben sie erdacht, und Generale und Politiker sehen ihr jetzt mit gleich banger Sorge entgegen. Man hätte dem Zaren gern so recht etwas noch nie Dagewesenes in der Nähe von Paris gezeigt. Aber man hat schließlich die Grenzcorps gewählt unter anderen noch zu erörternden Gründen, deshalb weil die in der Nähe der Haupt stadt, wie alle im Innern Frankreichs garnisonirenden Truppen um diese Jahreszeit so schwache Cadres haben, daß sie einfach nicht präsentabel sind. Bei den der deutschen Grenze zunächst gelegenen Corps kann man wenigstens „Parade"-Coinpagnien nnd „Parade"-Schwadronen zusammenstellen, aber man hat nun doch trotzdem das Gefühl, dem Zaren etwas ungewöhn lich Incompletes zu zeigen, und man ist trotz aller unüber trefflichen Selbstzufriedenheit doch besorgt, daß gerade der Parademarsch französischer Truppen russische Augen unbefriedigt lassen könnte, und nun noch obendrein russische Augen, die vor wenigen Wochen die deutschen Regimenter in Breslau und Görlitz gesehen haben. Man hat in der Beurtbeilung der französischen Paradeleistungen in den letzten Jahren mit russischen Generalen schlechte Erfahrungen gemacht. Die Besorgniß mangelhafter Paradequalität hat dann dazu geführt, das Fehlende durch Massenanhäufung zu ersetzen. Aber da fürchtet man nun wieder diese großen Massen nicht schnell und sicher genug an dem Zaren, den nicht allzusehr zu ermüden die russische Botschaft fortgesetzt bittet, vorbei- dirigiren zu können. Um jedoch auf die Entstehungsgeschichte der Revue von Chalons zurückzukommen, so ist, wie dein „Hamb. Corr." aus Paris geschrieben wird, von hoher militai- rischer Seite ursprünglich der Versuch gemacht worden, dem Zaren statt einer großen Parade irgend ein kleineres, aber für französische Truppen vortheilhafteres Schauspiel zu zeigen. Man hatte an ein combinirtes Küstenmanöver bei Cherbourg gedacht oder an eine recht pittoreske Festungsübung zwischen den Pariser Forts; aber man hat alles das schließlich mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die nun einmal eine militairische Monstreschaustellung haben wollte, wieder auf gegeben. Außerdem haben, wie so oft in Paris, so auch diesmal Diejenigen wieder die Oberhand behalten, die aus chauvinistischen Motiven für die Revue bei Chalons ein getreten sind. Man hat dabei für Chalons nicht nur geltend gemacht, daß eö besonders patriotisch, besonders schmeichelhaft für Frankreich, gleichzeitig für Deutschland besonders empfindlich und für den Charakter des franco - russischen Bündnisses, sowie sich dieses in den Köpfen der Chauvinisten darstellt, eine besonders wirkungsvolle Demonstration sei, dem Zaren gerade die gegen Deutschland auf Vor posten liegenden Grenzcorps vorzuführen, sondern man bat auch noch den gar nicht verschleierten Hinter gedanken gehabt, daß sich mit einer Revue bei Chalons, d. h. in großer Nähe der deutschen Grenze, am leichtesten eine patriotisch-chauvinistische Radau - Kundgebung verbinden ließe, eine von den Kundgebungen, durch die im Stillen in Paris noch immer eine Menge Leute hoffen, den Zaren und die russische Politik im Sinne des franzö sischen Chauvinismus compromittiren und Rußland mit Deutschland brouilliren zu können. Solche Kund gebungen sind nun für Chalons geplant, sind bereits in das Stadium der Vorbereitungen eingetreten und werden wahrscheinlich auch in Scene gesetzt werden. Die Patrioten als Bannerträger des Chauvinismus und des Revanchethums haben für Cherbourg und Paris den Wink erhalten, sich dort ruhig und gesittet zu betragen. Die Folge ist gewesen, daß die Herren Dsroulede und Genossen an die Mitglieder ihres Bundes die Parole auSgegeben haben, sich in der Haupt stadt, wie auch in Cherbourg darauf zu beschränken, den Enthusiasmus des Volkes überall zu beleben, aber nirgends geschlossen als Patriotenliga auszutreten. Eben so energisch sind die elsaß-lothringischen Vereine ermahnt worden, sich von allen eventuell für die französische Negierung compromittirenden Kundgebungen fern zu halten. Der Plan, dem Zaren Geschenke darzubringcn nnd eine Audienz von ihm zu erbitten, mußte fallen gelassen werden, und auch als besondere Gruppen dürfen die elsaß- lothringischen Vereine in Paris nicht siguriren. Dafür haben sie nun beschlossen, und die Negierung hat dagegen scheinbar nichts einzuwenden, sich in letzter Stunde in Chalons für die ihnen auferlegte Abstinenz schadlos zu halten und dort dem Zaren mit einer möglichst lärmenden elsaß-lothringischen deutschfeindlichen Kundgebung aufzuwarten. Man agitirt augenblicklich in Paris und in den fran zösischen Grenzdepartements für diese Idee, und das Gleiche wird unzweifelhaft auch in den deutschen Reichs landen geschehen. Die Ostbahn-Gesellsckaft ist bereits um Gestellung von Extrazügen zu ermäßigten Preisen von der Grenze nach Chalons ersucht worden. Bis jetzt ist die Ostbahn solchen Anforderungen immer nach gekommen ; sie wird eS also auch Wohl diesmal thun. Und was die französische Regierung anlangt, so wird sie eben wieder ihr bekanntes Doppelspiel spielen. Für Cherbourg und Paris hat sie, theilö aus eigenem Antriebe und im eigenen Interesse, theils aber auch erst auf directe Aufforderung der russischen Negierung hin, alle chauvinistischen oder gar auf den Revanchekrieg gegen Deutschland anspielenden Kundgebungen untersagt, selbst die Straßburg-Statue auf der Place de la Concorde und die Ieanne d'Arc-Statue in der Rue Rivoli sollen endlich einmal ihres unverschämten provocirenden Trauerfahnen- und In- schristenschmuckcs entkleidet werden. Man will den Zaren, von dem man weiß, daß er sich nicht zum Popanz der gallischen Revanche schreier machen lassen will, so lange er in Paris bleibt, bei guter Laune erhalten; aber eine recht deutliche deutschfeindliche, ja selbst kriegerische Demonstration in Chalons, durch die dem russischen Kaiser zu Gemülh geführt würde, was eigent lich das französische Volk — und hier darf man kaum zwischen den lärmenden Chauvinisten und dem Rest der Nation unter scheiden — was ergo auch die französische Regierung, die ihre Sache erfahrungSmäßiz von der des Volkes weder trennen kann noch zu trennen geneigt ist, von ihm und dem russischen Bündniß erwarten, würde Herrn Faure und seinen Minister» ganz genehm sein. Der Besuch ist ja dann zu Ende; man hat den Pflichten der Gastfreundschaft genügt und würde den abziehenden Russen nun zum Schluß sehr gern die Rechnung präsentiren. Deutsches Reich. Berlin, t. October. An die Anwesenheit des Afrika reisenden Gustav Den Hardt in Deutschland sind in der Presse Erörterungen über Vorgänge in dem früheren deutschen Schutzgebiet Witu, mit welchen der Name der Gebrüder Denhardt in Verbindung stand, sowie über die staatsrecht liche Stellung des Witu-Gebietes geknüpft worden, welche ver schiedene Unrichtigkeiten enthalten. Unter Anderm wird behauptet, daß „bis zu dieser Stunde" weder eine Sühne für die am 16. Sep tember 1890 erfolgte Niedermetzelung der Expedition Küntzel durch die Eingeborenen in Witu geleistet, noch auch den durch den damaligen Aufstand in Witu schwer geschädigten Deutschen, speciell den Gebrüdern Denhardt, eine Entschädigung von Seiten Englands, an das Witu durch den Vertrag vom 1. Juli 1890 abgetreten war, gezahlt worden sei. Das Erstere ist nicht richtig, das Zweite nur zum Theil zu treffend. Wie der Director der Colonialabtheilung, vr. Kayser, noch am 13. März dieses Jahres im Reichs tage mittheilte, ist eine Bestrafung der Mörder Küntzel'S erfolgt. Betreffs einer Entschädigung der Gebrüder Denhardt ist die NeichSregierung mit England in Ver bindung getreten und die englische Negierung hat sich bereit erklärt, sich betreffs eines gewissen Theils der von den Ge brüdern Denhardt geforderten Entschädigungssumme dem Spruche eines Schiedsgerichts zu unterwerfen. Nach den Ausführungen des Herrn Or. Kayser stand im März d. I. die Entscheidung der Gebrüder Denhardt über das englische Angebot noch aus, und man wird kaum fehl gehen, wenn man die jetzige Anwesenheit G- Dcnhardt's in Deutschland mit diesen Unterhandlungen in Zusammenhang bringt. Im Anschluß an diese Angelegenheit wird weiter in der Presse die Frage der Gerichtsbarkeit über deutsche Staats angehörige in Witu besprochen und die Behauptung aufgestellt, Deutschland habe in dem Abtretungsverträge am 1. Juli 1890 auch die Gerichtsbarkeit über seine Staatsangehörigen in Witu an England übertragen. Diese Behauptung steht nicht im Einklang mit der Auskunft, welche Director vr. Kayser am 23. März dS. IrS. im Neichstage aus eine Anfrage des Abg. Professor vr. Hasse ertheilte. Die deutsche Gerichtsbarkeit in Zanzibar, in dem nördlich von Zanzibar gelegenen Zanzibar-Gebiete, sowie in Witu war durch den Vertrag begründet worden, den das Reich am 20. December 1885 mit dem Sultan von Zanzibar abge schlossen hat. Wie Director vr. Kayser erklärte, ist dieses Verhältniß im eigentlichen Sultanat Zanzibar in keiner Weise geändert worden. Bezüglich der früheren Gebiete des Sultans auf dem Festlande ist die Sachlage folgende: Nach dem Deutschland auf dem ihm gehörigen Theil des ostafrikanischen Festlandes eine Gerichtsbarkeit eingerichtet hat, der nicht blos die deutschen Reichsangehörigen, sondern auch die ausländischen, also auch die englische» Staats angehörigen unterworfen sind, hat sich die NeichSregierung bereit erklärt, für den Fall, daß England auf dem unter seiner Herrschaft stehenden Festlande ordentliche Gerichte, die eine Garantie für eine sichere Rechtsprechung lieben, einrichten würde, die deutschen Staatsangehörigen der so statuirten Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Da Director vr. Kayser nicht mittheilte, daß die Voraussetzung von England erfüllt und die in Aussicht gestellte Folge davon eingetreten sei, ist nur die Annahme offen, daß die Exterritorialität der deutschen St ratSangchörigeu, sowohl im Sultanat Zanzibar, wie in den früheren Gebieten des SultanS von Zanzibar an der Küste auch heute noch zu Recht besteht. . Berlin, 1. October. Von den 14t Rittergütern, welche die Ausiedelungscommission für Posen und West Preußen bis Ende 1895 angekauft hatte, sind bis I. April 1896 109 mit einer Gesammtfläche von 67 490 Ku planmäßig aufgetheilt worden. Von den 109 parcellirte» Gütern wurden bisher 74 vollständig oder zum Theil mit deutschen Colonisten besetzt. Von den 1784 Ansiedlern stammten aus den deutschen Theilen der Ansievelungsprovinzen selbst 710 (39,80 Proc.), aus dem übrigen Deutschland 991 (55,55 Proc.) und zwar aus Ostpreußen 18, aus Branden burg 227, aus Pommern 151, aus Schlesien 131, aus Sachsen 46, aus Westfalen 197, aus Hessen-Nassau 24, aus der Rhein provinz 49, aus Württemberg 54 rc., von außerhalb Deutsch lands (meist russische Rückwanderer) 83 (4,65 Proc.). 1653 An siedler waren evangelisch, 131 katholisch. Die Ansiedelungsdörfer Lawau, Pirschütz, Biechowo-Ossowo, Kaczanowo und Falkenau sind mit deutschen Katholiken, alle übrigen Colonien mit evangelischen Deutschen besetzt worden. Die Bevorzugung der evangelischen Deutschen bat ihren guten Grund; man hat nämlich die Erfahrung gemacht, daß in den letzten 40 bis 50 Jahren zahlreiche deutsche Katholiken (der Statistiker v. Fircks nimmt mindestens 45 000 an) in Posen und West preußen polonisirt worden sind, während die evangelischen Deutschen auck in kleineren Gruppen mitten im polnischen Sprachgebiete selbst unter den schwierigsten Verhältnissen sich kerndeutsch erhalten haben. Die größten Colonien sind Deutsch-Wilke mit 65, Bobrau mit 59, Storki mit 55, Rynsk mit 51, FriedrichShöhe mit 49, Zurawiniek mit 49, Groß-Salesche mit 45 und Neu-Zedlitz mit 41 Stellen. Die meisten AnsiedlungSdörfer haben 20 bis 35, einige auch nur 8 bis 20 Höfe. Daß die preußische Re gierung in erster Linie für Unterricht in den neuen Colonien sorgen würde, durfte man vorauSsetzen. So sind denn bis Ende 1895 nicht weniger als 66 neue deutsche Schulen errichtet worden. Auch für die religiösen Bedürfnisse ist Sorge getragen. Die evangelischen Kirchen in Libau, Zeruiki und Deutsch-Wilke sind bereits in Gebrauch genommen, die Kirchen in Grievenhof, Strzybzeiv und Bukowitz werden demnächst eingeweiht. Für Orchowo, Rynsk, Gryzlin und Loßburg sind Kirchenbauten geplant. Außerdem sind in den kleineren Colonien 11 Betsäle in Ge brauch. Am zahlreichsten sind die Ansiedelungsgüter in den Kreisen Gnesen (15), Zinn (15), Wreschen (12), Wongrowitz llO), StraSburg (8), Schroda (7), Iarotschin und Wikkvwo (je 6), also in den Kreisen, die östlich und nordöstlich von der Provinzialbauptstadt Posen und zwischen Thorn und Löbau, nicht weit von der russischen Grenze, liegen. In vielen Ansiedelungsdörfern sind landwirthschaftlicke Vereine entstanden oder Raiffeisen'sche Darlehnscassen gebildet worden. In den 74 neuen deutschen Orten wohnen jetzt etwa 9400 Deutsche und 800 Polen. Die letzteren sind meist Dienstboten und Handwerker. * Berlin, 1. October. Heftiger Zank herrscht seit einiger Zeit zwischen dem conservativ-orthodoxen „Reichsboten" und dem Slöcker'schen „Volk". Um den BierteljahrSwechsel ist die Fehde besonders heftig geworden. Der „ReichS- bote" schrieb über die Zustände im christlich-socialen Lager: „Das „Volk", welches die größte Schuld an dieser unheilvollen Entwickelung trägt, liegt nun da wie eine ausgeblasene Eier schale und die „Zeit" erhebt ihr Haupt und die bisherigen Redacteure im „Volk" kutschiren den Naumann-Göhrr'schen Wagen. Es machte auf uns einen tief schmerzlichen Eindruck, als wir in jener Tonhallenversammlung nach Austritt Stöcker'S aus der conservativen Partei diesen aus dem Podium stehen sahen, ganz allein mit v. Gerlach zur Rechten und Oberwinder zur Linken, sie hatten ja ihren Zweck erreicht und Stöcker aus der conservativen Partei herausgezerrt. Und wie hat sich nun die Situation geändert I Jetzt stehen jene beiden Herren Stöcker und dem „Volk", welche- damals, wo es noch von den beiden Herren rcdigirt wurde, als die Fahne, unter der man kämpfe« geschwungen wurde — als bittere Gegner gegenüber — und die ganze christlich-sociale Bewegung, die tm Anschluß an die conser- vative Partei so schön aufgeblüht war, liegt zerpflückt, zerrissen und compromittirt am Boden — alles in Folge jener so viel bewunderten demokratischen „Schneidigkeit" — und jetzt wird das Handinhandgehen mit der Socialdeinokratie und der Classen- kampf des vierten Standes proclamirt. Es ist zum Weinen traurig! Und wie wird das noch enden?" Das „Volk" antwortet hierauf: „Ja, wie wird das enden ? Nun — wir sind gewiß diejenigen in Deutschland, die am meisten Ursache hätten, sich durch die Gründung der „Zeit" beschwert zu fühlen. Aber das müssen wir doch sagen, daß dieses Blatt sicherlich den Vorzug der Offenheit vor dem „Rrichsboten" voraus hat. Der letztere mag sich getrost seine Krokodilsthränen aus den Augen wischen. Kein Mensch in der Welt glaubt an diesen Schmerz. Es ist nicht „die Wahr- heit über Armenien", aber „die Wahrheit über den „Reichs- boten"", daß kein Blatt im deutschen Blätterwalde sich so über die Gründung der „Zeit" gefreut hat, wie der „Reichsbote", weil er hoffte, daß nun das national-sociale und das christlich sociale Organ sich gegenseitig ruiniren und todtmachen möchten, nnd daß dann der „Reichsbote" als „Hyäne des Schlachtfeldes" an den frei werdenden Abonnenten einen ergiebigen Leichenschmaus halten konnte Im Uebrigen mögen wir diese Auseinandersetzung nicht schließen, ohne es aus zusprechen, daß wir die Herren v. Gerlach und Oberwinder, so sehr wir den Irrweg beklagen, den sie nach unserer Auffassung der Dinge jetzt eingeschlagrn haben, doch noch für ganz andere Politiker halten, als den „Reichst«.. Wenigstens sind eS Männer, die nicht nur Worte machen von politischer Ueberzeugung, sondern die für diese Ueberzeugung kämpfen und, wenn es sein muß, leiden. Ter FeiriHeton. vom Hudsonkrande. New Mark, September 1896. DeS Augusts deS Jahres deS Heils achtzehnbundertsechSundneunzig wird sich die Be völkerung der amerikanischen Weltstadt noch lange schaudernd erinnern. Eine wahre Höllengluth hielt während der ersten Hälfte des Monats Stadt und Land umfangen, selbst der bekannte „älteste Einwohner" mußte weit im Buche seines Gedächtnisses zurückblättern, bevor er auf eine gleich lange und für Mensch und Thier gleich verhängnißvolle Sonnen- branvperiode stieß. Allsommerlich, in den Zeiten der sauren Gurke und der Seeschlange, leben die amerikanischen Witzblätter und solche, die es sein möchten, fast ausschließlich von der in keinem New A°rker Sommer allzu spaßhaften Hitze, aber dieses Mal nahm dieselbe so sehr den Charakter einer gemeingefährlichen Calamität eines großen öffentlichen Unglücks cm, daß auch die losesten Spötter stumm und die Stifte der kecksten Caricaturenzeichner stumpf wurden. Die Todtenlisten, welche die Zeitungen allmorgentlich brachten, redeten eine ernste Sprache. In den TenementShausvierteln der Ostseite der Stadt mit ihren engen, von hohen MietbScasernen ein gefaßten Straßen, dem Schmutze ihrer russisch-jüdischen, irischen, italienischen und deutschen, in drangsalvoller Enge zusammengekeilten Bevölkerung und deren Kinderreich- ihnm ging eS in diesen denkwürdigen Augustwochen am schlimmsten zu; so manche junge Menschenknospe, die sich, in ein günstigeres Erdreich gepflanzt, vielleicht kräftig entfaltet hätte, wurde von der glühenden Sense deS Würgeengels abgemäht. Zur Erleichterung der bejammern«- wcriben Lage dieser ärmeren Classe, die nicht an den naben McereSstrand oder in die Berge mit ihrer reineren Luft und kühlen Nächten fliehen konnte, geschah Manches. Viele Fabriken und auch Detailgeschäfte, die in der sengenden NachmittagSaluth doch nicht auf ein kauflustiges Publicum rechnen durften, schloffen schon Mittag« ihre Thüren, auf diese Weise ihrs» Angestellten «in erwünschte« Extra an Ruhestunden gewährend. Die öffentlichen Freibäder blieben während der ganzen Nacht geöffnet und Unzählige machten sich die hochwillkommene Gelegenheit zu Nutze, den Blei dächern ihres engen HeimS zu entfliehen und in der lauen Fluth deS Flusses oder der Dai, die von elektrischen Lichtern taghell beleuchtet war, die Fieberhitze ihres Bluts zu kühlen. Auch in den grünen Oasen der Steinwüste New Aork, den alle paar Straßengevierte weit aufblühenden Parks und namentlich dem Central-Park, aus dessen Buschparadies in gewöhnlichen Zeitläuften die Gesetzeswächter die müden Schläfer wie die wachen Nachtwandler und Wandlerinnen vertreiben, ging es in diesen Augustnächten lebhaft zu. Das Strauß'sche „Unter Bäumen süßeSTräumen", dieses schmeichelnd lockende, auf und nieder schwebende Walzergedicht wurde hier im Herzen der Weltstadt zu handgreiflicher Wirklichkeit. In den Hauptalleen fand man lange Reiben von Kinderwägelchen und die Kleinen sogen in der balsamischen Luft ihrer weiten grünen Schlafstube, über welche sich nicht die niedrige Decke, sondern der Sternenhimmel wölbte, neue Lebenskraft ein. Und so manchem Kieckindiewelt mag cs, wenn ihm Mond und Sterne so recht in die Guckäuglein hineingeleuchtet, wie dem Hänsel und der Gretel ergangen sein und er im Traume die Himmelsleiter mit all ihren schönen Siebensachen geschaut haben! Der furchtbaren Plage hat denn endlich ein, wie es sich gehört, furchtbares Donnerwetter ein Ende gemacht und jetzt erfreut sich New Bork unvergleichlich schöner, d. h. echt amerikanischer Herbsttage. September und October sind hier die weitaus schönste Jahreszeit. In diesen Monaten, in denen im alten Europa das langsame Hinabgleiten der Natur in die Herbstdämmerung deS Menschen Gemlith mit ahnungs vollen Schauern erfüllt, macht hier zu Lande eine wahre Glorie von Sonnenschein und Farbenpracht die Herzen weit und warm. Alltäglich tiefblauer Himmel und «in gar köstlich balsamisches Lüfrlein. Nichts von den sckwermüthigen Schleiern, die in Mitteleuropa in dieser Jahreszeit Trauer floren gleich vom Himmel herniederwallen und der Menschheit in» Gedächtniß rufen, daß e« wieder einmal zum großen Sterben gebt; leuchtend und wärmend ziebt die liebe Sonne an jedem Morgen am Firmamente auf, ein zarter Duft liegt auf den Firsten der Häuser, auf den Flüssen, der Bai, und traumhaft weiche Fäden ziehen ihre magischen Kreise um Baum und Busch. Es ist allherbstlich, als wenn man mit Siebenmeilenstiefrln in den lebenerweckenden Frühling hinein- marschirte. . . . An einem solch unvergleichlichen Altweibersommertage war es, als die Pflaumenblüthe literarischer Tüchtigkeit, der chine sische Bismarck Li Hung Cbang im New Horker Hafen landete und mit allen Ehren, die eine Republik zu vergeben hat, empfange» wurde. Ob das wundervolle Bild, welches die Hafenbucht der amerikanischen Metropole gewährte, auf den alten Chinesen Eindruck gemacht bat, war aus der steinernen Miene de« in beiden Hemisphären, wie es uns dünkt, weit über Gebühr beweihräucherten Greises mit der gelben Jacke nicht zu erkennen. Auch sonst siel Li ob all der festlichen Arrangements, mit denen man ihm zu imponiren gehofft hatte, nicht aus der ruhigen Würde und dem stoischen Gleiclnnutb des Orientalen, dem diese ganze westliche Civilisation als etwas tief unter der chinesischen Cultur Stehendes erschien, heraus, lieber die Massen, die sich, wo immer er erschien, an seinen Wagen drängten, sab er mit einer Geringschätzung, die einem amerikanische» Staatsmann« schlecht bekommen würde, hinweg, aber auch zu all dem WichS, in den seine eigenen Landsleute ibr au» drei oder vier engen, krummen Gassen bestehende« Viertel geworfen batten, machte er ein sauersüße« Gesicht, just al« wollte er „Was gebt mich denn die ganze Geschichte an?" fragen. Und sie batten wirklich ihr Möglichste« gethan, dies« an den wabrlick nicht allzu gastlichen fremden Strand verschlagene» Söhne deS himmlischen Reiches, ihre Tempel, Wirthshäuser, Opium kneipen und Wäschereien, dir sich wie schutzsuchende Vögel, in Mott-, Pen- und BroSbystreet eng zusammendrängen, bunt farbig aufzuputzen. Ein Meer von vaterländischen Fahnen, von dessen Canariengelb sich da« Drachrnungethüm grote-k abbebt, das düstere Gassengewirr von unzäblichcn Lampion« überdacht,an allen Ecken und Enden di« merkwürdigsten Embleme deS durch alle japanischen Hieb« ungebrochenen nationalen Stolze«, die gar fremdartig mit der amerikanisch nüchternen, schmutzig-rotben Häuserfront contraftirten, Alles gerammelt voll von gelben Mongolen, dir ihr« dunkelblauesten Fest gewänder nnd ihre Weißesten Filzsohlen angetban batten, — so präsentirte sich die New Korker Cbinesenstadt, als Li Hung Chang ihr die Ehre seines Besuches zu Tbeil werden ließ. Aber wie schon gesagt, der Liebe Müh' war ziemlich umsonst, der Vicekönig war ungnädiger Laune. Auch der West Pointer Militairakademie, für jeden distinguirten Fremden von großer Anziebungskraft, zeigte der chinesische Würdenträger, der sich unaufhörlich nach dem Alter und den Vermögensverhältnissen eines Jeden, der mit ihm zusammen kam, erkundigte, nach den LandeSvertheidigern der Vcr einigten Staaten aber weniger zu fragen schien, die so genannte kalte Schulter. Es regnete in Strömen, als Li budsonaufwärts fuhr und so zog er eS vor, an Bord des Schiffes zu bleiben und alle» festlichen Vorbereitungen, die man in der berühmten, sich prächtig an einer Berglehne des Hudson-Hochlandes aufthürmenden Anstalt getroffen hatte, nur mittelst Opernglases seine Reverenz zu erweisen. Das Wetter und der Gast aus China, da« erste uns Alle über alles Erträgliche hinaus erhitzend, der Letztere uns nur mäßig erwärmend, standen in den letzten Wochen im Vorder gründe des Interesse«, in weiten Schichten der New Parker Bevölkerung bildeten sie da« fast ausschließliche Tages gespräch. Aber auch sie vermochten nicht die Aufmerk samkeit nnd die leidenschaftliche Spannung abzuschwächen, mit welcher man allüberall zwilchen dem atlantischen und dem stillen Ocean jede Phase de« Kampfes zwischen der Gutgeldpartei und den Silberlingen verfolgt. Bis zum Wahltage im November wird diese Frage alles Andere überschatten. Mit den äußeren Erscheinungen, welche diese« gewaltige Ringen zwischen Ehrlichkeit und Unehrlichkeit dervorruft, mit den tiefen Schlagschatten, die das drohende Gespenst einer tiefen Entfremdung zwischen dem von ge wissenlosen Demagogen aufgewiegelten Westen und dem durchwegs für Golv eintretenden Osten in da« ganze öffent liche Leben wirft, werde» wir un« in unserem nächsten New Aorker Briefe eingebend zu beschäftigen haben. Alfred Philippi.
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