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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.12.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-12-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961216027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896121602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896121602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-12
- Tag1896-12-16
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Reklamen unter deinRedactionsslrich l4ge- spalten) 50^L, vor den Familienuachrichten (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Pkk <. Verzeichnis. Tabellarischer und Ziffer.i^a^ nach höherem Tarif. tkxtra-Beilage» (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesördeunig 60.—, mit Postbeförderung .et 70.—. Ännahmeschluk für Anzeigen:. Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeige» sind stets an die Vxpeditiou zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. SV. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 16. December. Die Justiz Novelle ist gestern im Reichstage ihrem vorausgesehenen Schicksale verfallen, bevor Herr Bebel seinen Antrag zu Z 53 der Strafproceßordnung begründen und dabei den Proceß Leckert-v. Lützow zur Sprache bringen konnte; aber die Novelle ist nicht dem Unter gänge anheimgefallen, ohne daß in dem im Nebrigen zweck losen Anlaufe zu einer dritten Berathung eine interessante Erscheinung zu Tage getreten wäre. Der Abg. Lenzmann, der deutschfreisinnig Unentwegte, hat nicht etwa nur einem Kompromiß im gegebenen Falle das Wort geredet, nein, er Hal das hohe Lied des Compromisses im All gemeinen gesungen! Wenn man die Reden, in denen um die Mitte der siebziger Jahre die Nationalliberale» ihren Verzicht auf gewisse Wünsche bei der Gestaltung der Justrzgesetze mit der Sorge um die Gefährdung des ganzen Werkes begründeten, mit den Ausführungen des Herrn Lenzmann vergleicht, so muß man sich der früheren Proben der Beredtsamkeit dieses Abgeordneten erinnern, um sich des Verdachtes, er habe auswendig gelernte fremde Reden vorgetragen, erwehren zu können. Er findet, „der Abscheu vor dem Zeugnißzwang für die Presse sei doch nicht so groß, daß er daran die Vorlage würde scheitern lassen." Und er sagt, auch hierin die Nationalliberalen von vor zwanzig Jahren copirend: „Wenn die Vorlage fällt, haben Sie' denn damit den Zeugnißzwang aufgehoben'? Nein! Dann ist uns dieser Wunsch nicht erfüllt worden, und außerdem bleiben auch andere Wünsche unerfüllt. Wir haben doch nun einmal zwei gesetzgebende Factoren und tonnen die Negierung nicht zwingen; ich übe Selbstverleugnung n. s. w." Von Erwägungen dieser Art sich leiten zu lassen, hieß 1876 „die Hampelmänner der Regierung abgebcn", „über den Stock springen" und „ohne Noth, nur um die Mächtigen bei guter Laune zu erhalten, heilige Güter des Volkes ver schachern". Damals war der Nationalliberalismus ein „Judas", heute wird Herrn Lenzmann ausdrücklich bezeugt, daß man ihn nach wie vor für einen echt freisinnigen Mann halte. Und diesmal hat nicht die rechtliche Einigung Deutschlands auf dem Spiele gestanden. Und Herr Eugen Richter, der die Rickert und Barth, als sie die Wehrkraft deS Reiches auf die Höhe der französischen zu bringen bereit waren, aus seiner Partei fliegen ließ, Herr Richter begnügt sich beute damit, zu constatiren, baß Herr Lenzmann nicht in Uebereinstimmung mit der Fraction sich befinde. An dieser Milde und jener Intoleranz zeigt sich, daß Herr Richter leichter ein Princip verletzen, als seiner Partei das Odium ausladen läßt, nothwendige Aufwendungen für Staatszwecke bewilligt zu haben. Nach dem Bckanntwcrden des Wesens und der Thaten deS Herrn v. Tausch hob ein Münchener Blatt hervor, daß es keinem norddeutschen Preßorgane eingefallen sei, den entlarvten Schwindler aus Bayern seinem Heimath- lande auf die Rechnung zu setzen; in Bayern, so wurde hinzugefügt, würde in einem umgekehrten Falle nicht allgemein so verfahren worden sein. Für uns schien diese der norddeutschen Presse gespendete Anerkennung beinahe etwas Beleidigendes zu haben, da sie der Beobachtung der Regeln primitivster Schicklichkeit und GerechtigkeitSlicbe galt. Mittlerweile hat sich aber an einer Stelle der Mangel selbst an diesem Minimum des Anstandsgefühls herausgcstcllt, und das Urtheil des national gesinnten Münchener Blattes ist in seiner Allgemeinheit hinfällig geworden. Und zwar war es das amtliche, unter Aufsicht der Parteileitung herausgegebene Organ der Conservativen, daS vor der Tactlosigkeit nicht zurück geschreckt ist, auf die Landsmannschaft des Herrn von Tausch als etwas Bedeutsames hinzuweisen. Die „Eonservative Correspondenz" schrieb, der Proceß Leckert hätte gegen daS preußische Beamtenthum nichts bewiesen, da der einzige belastete Beamte ein Bayer sei. Man kann sich die Ent gegnungen der reichsfeindlichen Münchener Presse denken! Herr v. Hammerstein müßte mehr Schule gemacht haben, als zu hoffen steht, wenn die preußischen Conservativen sich der niedrigen Dialektik ihres Organs nicht schämten. In der gestrigen Abendnummer der „Münch. N. Nachr." finden wir folgendes Telegramm: Berlin, 15. December. (Privat.) Der Abgeordnete Bebel hat nach der „Staatsbürgerzeitg." in der letzten Sitzung der Budgetcommission in abfälliger Weife die Zndiscretion kritisirt, durch die trotz der strengen Vertraulichkeit die Er klärungen der Staatsregierung thcilweise den Weg in die Oeffentlichkeit gefunden hätten. Zweifellos ist hier die Indiskretion gemeint, durch welche Gerüchte über eine in Aussicht stehende Artillerievorlage in die Oeffentlichkeit gekommen sind. Hat nun wirklich Herr Bebel diese Indiskretion gerügt, so ist damit dem Schuldigen ein Urtheil gesprochen, wie es schärfer und vernichtender nicht gefällt werden konnte. Wir bezweifeln daher auch nicht, daß die Centrumsfraction, welche die nächste dazu ist, weil ein ultramontanes Blatt jenes Gerücht in die Welt gesetzt hat, nicht nur mit dem größten Eifer an die Er forschung deS Schuldigen geht, sondern ihn auch ohne Gnade aus der Fraction entfernt. Ein Mann, der sich von einem Bebel wegen Vertrauensbruches in einer die Sicherheit des Reiches betreffenden Angelegenheit abkanzeln lassen muß, würde das „staatSerbaltende" Centrum auf das Heilloseste compromittiren, mag er sich nun absichtlich oder unabsichtlich „verhört" haben. Auch dann wird ihm seine Fraction keine mildernden Um stände zubilligen können, wenn er gehofft hat, durch sein Gerücht über bevorstehende Hobe Neuforderungen zu Artillerie zwecken die ohnehin geringe Neigung deS Reichstags zu un verkürzter Bewilligung der für Marinezwccke geforderten Mittel noch mehr hcrabzustimmen. Wir sind übrigens der Au- sicht, daß der Schuldige auch dem Strafrichter gegen über auf den Artikel 30 der Reichsverfafsung sich nicht berufen könnte, wenn ihm aus Grund de» tz 92 des Strafgesetzbuchs, der die öffentliche Bekanntmachung von Nachrichten, von denen der Angeklagte weiß, daß ihre Geheimhaltung einer andern Regierung gegenüber für das Wohl des deutschen Reiches oder eines Bundesstaates erforderlich ist, mit Zuchthaus nicht unterzweiJahren bedroht,derProceß gemachtwürde. Denn Art. 30 der Reichsverfassung befreit von gerichtlicher oder disci- plinarischerVerfolgung die Mitglieder deS Reichstages nur wegen ihrer Abstimmung oder der in der Ausübung ihres Berufes gethanen Aeußerungen. Wer aber vertrauliche Mittheilungen der Regierung aus den Commissionen richtig oder falsch in die Oeffentlichkeit bringt, stimmt weder ab, noch bandelt er in Ausübung seines Berufes, den er schändet, statt ihn zu erfüllen. In Böhme» und Mähren haben die Reformisten noch immer schwer unter den Anfeindungen des römischen Klerus zu leiben. Kaum hatte daS Bezirksgericht zu Chrudim über den ref. Pfarrer Jos. Martine! in Teleci, der von einigen vorgeschobenen Leuten der „Verhöhnung" römisch-katholischer Gebräuche angeklagt worden war, einen Freispruch fällen müssen, so hat sich neuerdings dasselbe Gericht mit einem weiteren interconfessionellen Streitfälle zu beschäftigen gehabt. Ein gewisser Professor vr. tlwol. K. L. Rehak in Prag hatte vor nicht langer Zeit ein echt klerikales Pamphlet unter dem Titel „Lckv zv8t rekormueo?" („Wo ist die Reformation?") publicirt, in welchem er unter Anderm sagt: „Die Helveten *) bekommen bei ihrem Abendmahl nichts als Brod und Wein, wie sie dieselben eben so gut oder noch besser in jedem Wirtbshaus erhalten können." „Luther, ein abtrünniger Mönch und Priester, starb nach einem Leben niedrigster Gemeinheit als verzweifelter Selbstmörder. Zwingli, ein abtrünniger Priester, starb nach einem höchst unsittlichen Lebenswandel unversöhnt mit Gott. Calvin, gebrandmarkt wegen Sodomie, wie einst Kain wegen Brudermordes, ließ seinen Geist dem langsam verendenden Leibe entfahren." — Darauf hin wurde dem klerikalen Historiker von dem Redacteur der böhmische» ref. Halbmonatsschrift zo 8ioua", Con ¬ senior Pfarrer Franz Sadek in Nanna, in der gebührenden Weise prompt geantwortet, und zwar zunächst in dieser Zeitung selbst, sodann aber auch in einer besonderen, für Massenverbreitung berechneten Broschüre „Proben klerikaler Gelehrsamkeit und Ehrlichkeit". Diese durchaus sachlich ge haltene Broschüre wurde, wie die „Ev. Ref. Bl." mit theilen, sofort nach ihrem Erscheinen gerichtlich be schlagnahmt, worauf ihre Herausgeber bei dem zu ständigen Gerichte Beschwerde erhoben. Der Vertreter der Beschwerdeführer, ein römisch-katholischer (!) Rechtsanwalt, plaidirte in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung unter vieler Beifallsäußerung des Publicums mit ausgezeichneter Objecti- vität und überraschender Sachkenntniß für die Aufhebung des Confiscationsbefehles; das RichtercoUegium dagegen hielt sich für verpflichtet, der Beschwerde nicht Raum zu geben, und bestätigte die Confiscation, wenn auch mit einer gewissen Einschränkung der der beschlagnahmten Broschüre vorher zur Last gelegten Gründe. Selbstverständlich wurde auf diesen Richterspruch hin recurrirt, und zwar an daS Landesgericht in Prag, daS sich nun mit der Sache zu beschäftigen haben wird. Wir sind begierig, wie dieser Recurs beim Landes gericht ausgenommen werden wird; sicherlich aber werden die gehäuften Gerichtsverhandlungen, auch in weiteren Schichten der römisch - katholischen Bevölkerung Böhmens, ihre heilsam aufklärende Wirkung nicht verfehlen, und es unterliegt keinem Zweifel, daß die Confiscation der Broschüre den Inhalt der selben nur populärer machen wird. *) Das sind die resorinirte» Bekenner der Oontsssio Helvstiea II, die bekanntlich in Bödmen und Mähren die große Majorität unter den Protestanten bilden und schon deshalb den klerikalen Angriffen in ungleich höherem Maße ausgesetzt sind, al» ihre weniger zahl reichen und den römisch-katholischen Gebräuchen gegenüber in mancher Beziehung entschieden indifferenteren lutherischen Stammesgenossen und Bekenner der Oontessio ^u^ustaua. Es sind daher in der Regel nur die gefährlichen „Helveten", die von der klerikalen Presse mit Liebenswürdigkeiten aller Art überschüttet werden. Im Orient hat in den letzten Wochen die Spannung eher zu- als abgenommen, da die Reformen^ von deren erfolgter „Einführung" der Sultan erst dieser Tage wieder den Consuln gegenüber sprach, über die Abfassung und Versendung von Circularen und Memoranden noch immer nicht hinausgediehen sind. Das Verhalten des Pfortencommffsars auf Kreta, Saad Eddin Paschas, gilt als typisch für die Taktik der türkischen Verwaltung im Allgemeinen. Kaum in Kanea an gelangt, hatte der Pfortencommissar nichts Eiligeres zu tbun, als alle muselmännischen Notabel» zusammen zu berufen. Was in dieser Zusammenkunft abgemacht wurde, hat Niemand erfahren, aber schon ihre bloße Veranstaltung muß unter dein Gesichtspunkte eines versöhnlichen Wirkens mindcstcnS als inopportun bezeichnet werden, wie sie denn auch in ter Tbat den ungünstigsten Eindruck auf die christliche Bevölkerung der Insel hervorbrachte. Es kamen alsbald Gerüchte büchst alarmirenden Inhalts in Umlauf, von denen das am wenigsten beunruhigende zu versieben gab, daß die türkischen RegicrungS- kreise von einer Durchführung der aus Andrängen Europas zugestandenen Reformen grundsätzlich nichts wissen wollten und die Muselmänner insgeheim ausmunterten, allen derartigen Anläufen, wenn nöthig, gewaltsamen Wider stand entgegenzusetzeu. Es kam hinzu, daß der chrisl liche Generalgouverneur Berowitsch Pascha jede Vermittelung zwischen dem Pfortencommissar und den türkischen Milttairbehörden auf Kreta ablchnte. Tenn in dieser Weigerung, der sich noch die Verwahrungen der christlichen Consuln hinzugesellten, erblickten die Kretenser den Beweis, daß Saad Eddin Pascha im Grunde gar keine bestimmten Weisungen hinsichtlich der Neformfrage er halten habe, sondern auf eigene Faust operire, während seine Sendung doch gerade dem Frieden und dem Ausgleich der Gegensätze hätte gewidmet sein sollen, was um so dringlicher er scheint, als der Fanatismus der Muselmänner jedem Fort schritt fast unüberwindliche Hindernisse in den Weg legt. Am 12. d. haben nun die Botschafter in Konstantinopel das Ver langen der Abberufung Saad Eddin Paschas von Kreta gestellt. Dem einmüthigen Verlangen der Mächte wird die Pforte keinen directen Widerstand entgegenzusetzeu wagen, man darf deshalb erwarten, daß dem Verlangen der Bot schafter Folge gegeben wird, wie denn der Sultan die Ab berufung bereits versprochen hat. Allein in der Sacke selbst ist nichts gewonnen, wenn Saad Eddin Pascha keinen Nach folger erhält, der bessere Garantien für eine loyale Durch führung seiner Mission bietet. Die Rückkehr des russischen Botschafters v. Nelidoff nach Konstantinopel dürste einen frischeren Zug in den dortigen Geschäftsgang bringen und wird hoffentlich der dilatorischen Behandlung des Reformwerks ein Ende bereiten. Deutsches Reich. 42 Berit», 15. December. Herr v. Tausch und Gin gold-Stärk als Gewährsmänner der Freisinni gen, dies die neueste Blüthe, die der Bismarck-Haß getrieben hat. Die „Vossische Ztg." schreibt: „Die Blätter des alten Curses werden nicht müde, den Grafen Herbert Bismarck gegen die Auffassung zu wahren, als sei Herr v. Tausch von dem Ge danken geleitet gewesen, der Bahnbrecher des früheren Staats- secretairS zu sein. Zwar ein von Herrn v. Tausch als zu verlässig beglaubigter Gewährsmann sagt eidlich aus, daß Herr v. Tausch den StaatSsecretair v. Marschall als einen Eindringling angesehen habe und das Amt mit dem Grafen Herbert Bismarck besetzt wissen wollte; auch hat Herr v. Tausch sich anderen Personen gegenüber ähnlich ausgesprochen... Aber jetzt mit einem Male soll Alles nicht wahr sein." Herr v. Tausch steht unter dem dringenden Verdachte des Meineids, und die freisinnige Presse behandelt ihn durchaus als schuldig, Gingold-Stärk ist als Polizeispion entlarvt, und die freisinnige Presse hat ihm sein Urtheil nicht vorenthalten. Wenn aber Beider Aussagen gegen Bismarck Um die Weihnachtszeit. I> Novelle von Anna Gnevkow. Nachdruck verboten. Aus der grauen Lust löste sich zuweilen eine leichte weiße Flocke und kam als Regentropfen zur Erde hernieder. Es sah trostlos verwaschen in der Natur auS. Farblos, von braungelben Blättchen umfaßt, hoben von den Beeten deS Bahnhofgartens noch einige Astern ihr Haupt und lenkten die Aufmerksamkeit deS Mannes auf sich, der mit gesenktem Haupte und gleichmäßigem Schritte bisher an ihnen vorbei gewandert war. „Alles vergeht", sagte er halblaut vor sich hin und ein Paar ernste nachdenkende Augen richteten sich für einen Moment auf die Blumen; gleich darauf schreitet er aber wieder weiter, eine feine Falte zwischen de» Brauen, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, achtlos für seine Umgebung, die Schritte mit einer gewissen pedantischen Genauigkeit, einen wie den andern abmcssend. Es war allerdings auch keine Kleinigkeit, beinahe zwei volle Stunden auf einer so armseligen Station, wie eS die war, auf der er sich befand, warten zu müssen, bis der Courrierzug von der anderen Richtung her ankam, der viel leicht noch mit der Post zu befördernde Personen mit sich brachte. Mit dieser Möglichkeit wurde gereclmct, ehe der Postwagen abging und der Regierungsrath Below schrieb es sich als unverzeihlichen Fehler zu, daß er sich nicht einen besonderen Wagen bestellt hatte, der ihn nacb dem, zwei Stunden entfernten Städtchen Meiburg, seinem Bestimmungs orte, hätte bringen können. Das kahle, unwohnliche Gastzimmer, dessen Placate er durchstudirte, in dem daS Glas Bier, das er bestellt, ab gestanden und schaal geworden, hatte er längst verlassen, eS war draußen noch immer besser wie drinnen, und der Weg bi- zum Sckuppen, hinaus und hinunter, war ihm schon ge läufig, als hätte er ihn von jeher im Leben gekannt und Wohl hundert Mal machcu müssen. Daß ihm, der sich vor jeder Reise genau zu orientiren pflegte, der sich die Route auf dem Papier«, oder doch in Gedanken gewissenhaft auSarbeitete, auch gerade solch ein Mißgeschick treffen mußte, «S war beinah lächerlich und die Bekannten, die seinen Rath cinholten, wenn sie sich auf eine Reise begeben wollten, durfte» beileibe nichts davon er fahren. Ordentlich warm wurde dem Herrn Regierungs rath zu Muthe, er blieb stehen, sah einige Augenblicke starr vor sich hin, zog dann ein bellseidencS Taschentuch, betupfte die feucht gewordene Stirn und murmelte: „Die Wernicke ist daran schuld, natürlich die Wernicke!" Wären auch bei der Bewegung deS TaschentnckziehenS nicht zwei kräftige, wohlgeformte, ganz unberingte Hände deutlich sichtbar geworden, man hätte es doch sofort gewußt, daß der RegierungSrath Hymens Fesseln noch nicht trug und der AnSruf: „Die Wernicke, ja die Wernicke", konnte nur be stätigen, daß an seinem häuslichen Herde ein Wesen walte, das man gemeinhin Haushälterin nennt. Wie dem auch sein mochte in diesem Falle, die Wernicke batte ihren Herrn RegierungSrath jedenfalls in musterhafter Ordnung auf^ die Reise geschickt. Kein Stäubchen lag auf dem einfarbigen, dunklen Paletot, den sein Träger, größerer Bequemlichkeit halber, aufgeknöpft, die Wäsche war blüthenweiß, die Cravatte hatte eine tadellose Schleife und in dem Glanz der Stiefel konnte man sich noch jetzt spiegeln, trotzdem der Reisende doch schon seit langen Stunden unterwegs war. Wenn der Herr RegierungSrath wirklich meinte, daß die gute Frau Wernicke an seiner üblen Situation schuld sei, so that er der treuen Frau sicher damit sehr unrecht. Es war nicht abzulcugnen, sie hatte ihn in den kurzen Tagen vor seiner Abreise (seine Berufung zur Vertretung deS Präsidenten nach Meiburg war sehr plötzlich gekommen) oft belästigt, aber, wie hätte sie dies auch ander» einricbtcn sollen? Es gab gar so Tausenderlei zu überlegen, za fragen, wie die Wirtbschaft weiterznsühre» sei, was der Herr RegierungSrath an Wäsche nachgeschickt baden wollte, wie sie in den Zimmern bantiren dürfe und ob — hierzu bedurfte eS häufiger kleiner Manöver — ob sie auch in dem Studirzimmer de« Herrn reinmachen dürfe. Daß sie kein Buch von seinem Platze ver rücken würde, war nach ihrer Versicherung selbstverständlich, denn sie kenne ja die Ordnungsliebe des Herrn, aber neulich habe sie auf den Werken im obersten Fache deS Regals eine dichte Lage Staub entdeckt und Staub — die alte Frau batte bei ihrem Vortrage, fast geschaudert — Staub sei ja gerade dem Herrn RegierungSrath etwas Verhaßtes. Darin hatte sie Recht, er verabscheute den Staub, daS sagte sich der Herr RegierungSrath Below, als er seine Wanderung an den herbstlichen Beeten entlang wieder aus nahm und fast mechanisch mit den Fingern ein winziges Staubkörnchen von dem dunklen Aermel seines Paletots fort knipste. Freilich hatte er über die Staubgespräche, die er mit seinem Hausgeiste an jenem Tage gepflogen, das Coursbuch, aus dem er Eisenbahnfahrt und Postanschluß ersehen gewollt, auS der Hand gelegt, und war später nicht mehr dazu gekommen, nachzuseben, hatte auch nicht mehr daran gedacht, sich zu orientiren, aber schuld war die Wernicke an seinem Mißgeschicke am Ende doch nicht, sondern ganz im Rechte mit ihren Fragen, die es zeigten, daß sie seine Ent scheidung doch allerorten in dem kleinen Haushalte in An spruch nahm. Nichts geht doch über gut geschulte Dienstboten, überlegte der RegierungSrath jetzt mit fast heiterer Selbstgefälligkeit und er hatte keine Ahnung davon, daß er, der erst sechsund dreißigjährige Mann, bei seinem Grundsätze, alles daheim selbst anzuvrdnen und zu überwachen, einen starken Hauch von Philisterthum, mindestens von ängstlicher Pedanterie erhielt. In die beruhigenden Gedanken hinein, auch diesmal alles in der Residenz in bester Ordnung zurückaelassen zu haben, erscholl das schrille Läuten der BahnhosSglocke, das den nahenden Zug verkündete, und da der RegierungSrath das Tempo seiner Schritte um nichts beschleunigte, sah er beim Umgehen des Bahnhofsgebäudes gerade nur noch die letzten Wagen des wieder davonbrausenden TrainS. Nur wenige Menschen waren auf der dürftigen Station auSgestiegen, Reisende, die dem RegierungSrath auch kein weiteres Interesse abgewannen, ein paar Männer mit den unvermeidlichen kleinen Koffern, oder eleganten, schwarzen Kästen, die den Geschäftsreisenden verkünden, und eine schlanke, schwarz gekleidete Frauengestalt, die ihr Handgepäck einem Bediensteten der Eisenbahn übergab, trotzdem der eine der Herren sehr dringend auf sie einsprach und sichtlich bemüht war, die Besorgung desselben selbst zu übernehmen. Am Schalter des jetzt erst geöffneten Postbilletverkaufs traf der RegierungSrath mit all diesen Menschen wieder zusammen, und mit einem Seufzer der Erleichterung sah er, daß der altmodische, vierspännige, sechssitzige Postwagen, der nach Meiburg fuhr, und der inzwischen zur Stelle war, rin nach dem Wagen zu abgeschloffene«, vorn offenes Coups, unmittel bar hinter dem Kutscher, besaß, das nur für zwei Personen bestimmt war, und das er unbedingt zu besteigen gedachte. Prüfend überflog sein Blick die Mitreisenden. ES waren ihrer drri, die Dame, die sich ängstlich im Hintergründe hielt und die beiden Reisenden, noch nicht so viele also, um den eigentlichen Wagen zu füllen, welche Aussicht für ihn, daS Coup6 für sich allein zu erobern und es mit keinem der lästigen Fremden tbeilen zu müssen. Vorsichtig löste er sich deshalb auch ein Billet mit der höchsten Nummer, nachdem die anderen Passagiere abgefertigt worden, da er wußte, daß die Plätze im Wagen mit Nr. 1 begannen, und stand eben im Begriff, den ziemlich hohen Tritt zum Couvü hinauszu steigen, als ihn ein lebhaftes Zwiegespräch am Wagenschlage noch für einen Moment von seinem Vorhaben znrückbielt. „Mein gnädiges Fräulein", hörte er einen der gekräuselten Geschästsjünzlinge eifrig sagen, „Sie sollten »ach jenem hohen Sitz dort nicht streben, bedenken Sie, daß er für eine Dame nur schwierig zu erklettern ist und überlasten Sie meinem Freunde den Platz, der, er lächelte geistlos, ein ge übter Bergsteiger ist." Aha, dachte der RegierungSrath geärgert, da ist noch Einer so schlau wie du und will sich den luftigen Platz au Stelle des Marterkastens da unten erobern. „Ich danke", ertönte in diesem Augenblicke die Stimme der Dame unter dem großen Filzhute hervor, der ihr Gesicht beschattete und, wie es dem ReHierungSrathe vorkam, entbehrten die Töne der Sicherheit, „ich ziehe es vor, da hinaufzugehen", und sie machte Miene, an ihm vorbeieilend, den Fuß auf die erste Stufe deS Trittes zu setzen, als der Fremde die Hand mit dreister Geberde auf ihre» Arm legte und sagte: „Sic sollten uns wirklich Ihre Gegenwart nicht vorenthallen; die Hälfte der Tour fahren wir überdies nur mit, dann sind Sie uns los und Ihr Handgepäck ließ ich bereits in dem Netz, dicht über Ihrem Kopfe anbringen." „Doch aber möchte ich um meine Sachen bitten", beharrte die Dame jetzt mit größerer Energie, und als der Reisende auch jetzt noch nicht Anstalt machte, der Forderung Folge zu leisten, als sein Gefährte mit unangenehm lächelnder Mine aaf daS Coupö zuging, erlaubte cS die angeborene Ritterlich keit deS RegiernngSrathS doch nicht länger, schweigend einer Scene zuzusehen, die der bedrängten Dame sichtlich sehr lästig war. Mit einer etwas steifen Wendung kehrte er sich deshalb zu der Fremden bin, machte eine einladende Bewegung nach der Richtung deS Trittes, die zugleich von einem so ernsten Blicke auf den Freund des Reisenden begleitet war, daß diesir blitzschnell von der Stufe zurückwich. Leicht wie ein Vogel schwang sich die Fremde in das Coup«, und als der RegierungSrath ihr dann noch ihren kleinen Handkoffer und einen zusammengerollten Plaid hinaufreichle, drang ein fast hörbarer Srufzer der Erleichterung unter dem Hut« hrrvor,
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