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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.10.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-10-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991030024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899103002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899103002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-10
- Tag1899-10-30
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Größere Schriften laut unserem Preis verzeichnis. Tabellarischer und Ziffernjatz nach höherem Tarif. vxtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Ab end-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedttion zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Montag dm 30. October 1899. 93. Jahrgang. Der erweiterte Flottenplan. Q Die Denkschrift über die AenderungSbedürftigkeit de», Flottengesetzes, von der die Rede war, liegt in der gestern rnitgetheilten, im Reichsmarineamt verfaßten Darlegung der „Nordd. Allg. Zig." bereits vor. Und obwohl der Zeitungsartikel — möglicherweise auS Höflichkeit aegen einen vielleicht noch nicht befragt gewesenen Toeil der Bundesregierungen — die Frage, ob einer all gemeinen Verstärkung der Marine näher getreten werden muß. noch offen läßt, so giebt er doch ein Programm für daS Wie der Verstärkung für den von der Reichs regierung aus zwingenden Gründen in Aussicht genommenen Fall der Bejahung. Da- Einverständniß des BuudeSrathS ist denn auch sicher und nun handelt eS sich darum, die Satze des Programms so rasch wie nur immer möglich in der Form einer Gesetzesvorlage au den Reichstag zu bringen. Obwohl der Plan deS MarineamteS den nächsten Etat nicht zu berühren scheint, so kann die Regierung, wenn sie Verständniß für Volksstimmungen im Allgemeinen und die zur Zeit herrschende Stimmung insbesondere besitzt, un möglich etwas Anderes beabsichtigen, al» die Erledigung der Angelegenheit im nächsten Tagungsabschnitte deS Reichstages. Unseres EracbtenS ist eö sogar nothwenvig, daß der Reichstag den neue» Marinegcsetzentwurf bei seinem Zusammentritt am 14. November bereits vorsindet. Die Aufgabe der zu posi tivem Schaffen geneigten und befähigten Parteien wird eS dann sein, auf die Ansetzung der ersten Lesung vor der ersten EtatSberathung oder zusammen mit dieser Berathung hinzuwirken. Die Etatsdebatte würde sich im anderen Falle doch auck hauptsächlich um die Flotte drehen, eine zwei malige Gencraldiscussion wäre aber nutzlos. Also heraus mit Eurem Flederwisch, nur zugestoßen, das deutsche Volk wird, wenn der Reichstag eS nicht tbut, die haltlosen und mattherzigen Einwendungen gegen die Befriedigung seines im Augenblick dringlichsten Bedürfnisses schon parcren. Ueber die Einzelheiten des Planes der Regierung, der nicht in allen Puncten der veröffentlichten Darlegung vollkommen durchsichtig ist, jetzt sich auszulassen, wär« verfrüht, Es genügt, bervorzubeben, daß in den nächsten 17 Jahren jährlich die Schiffsbauten in dem bisherigen Tempo weitergeführt werden sollen, wobei jedoch ein großer Theil von Ersatzbauten, die schon jetzt gesetzlich vorgeschrieben sind, mit einzurecknen ist, und daß zu den bestehenden zwei Geschwadern noch ein drittes und viertes gebildet werden soll. Ohne eine Aenderung deS geltenden Gesetzes würde nicht einmal dieses durchgeführt werden können, da Ersatzbauten, weil ihre Herstellung vornehmlich durch die Steigerung der Löhne und Materialprcise, aber auck wegen der nothwendigen Berücksichtigung von Erfahrungen, die im spanisch-amerika nischen Krieg gemacht worden sind, sich theuerer stellten als vorausgeseben, hinauSgeschoben werden müßten. Im Ganzen scheinen bis 1912 12 neue Linienschiffe zu dem jetzt in Aussicht genommenem Bestände hinzukommen zu sollen, während der Ersatz für 8 Küstenpanrerschiffe, den daS Ge setz bereits angeordnet hat, gleichfalls in Linienschiffen bestehen soll. Die Zahl der großen Kreuzer soll sich um 8 erhöben. Die jährliche Ausgabe kür Sckiffsbauten mit etwa 84 Millionen würde um 25 Millionen Mark höher sein als jetzt, die sonstigen jährlichen einmaligen Ausgaben werden sich um 3 Millionen (von 9 auf 12) und die fortdauernden jähr lichen Ausgaben um 5 Millionen erhöhen. Der Plan der Marineverwaltung bezweckt die Ver mehrung deS deutschen Küstenschutzes durch die Ver- stärkung der heimischen Schlachtflotte und die Schaffung der Möglichkeit, überseeische Interessen an Ort und Stelle bester als bisher zu vertreten. Wie dringlich auch daS Letztere ist, hat Deutschland oft genug mit Zorn und Beschämung erkennen müssen. Die Armseligkeit unseres Besitzes an Auslandschiffen zwingt un», Unverschämtheiten und Jntereffenschädigungen, wie sie englische und amerikanische KriegSschiffscommandanten in Samoa verübten, hinzunehmrn; sie droht, Vortheile anerkannt werthvoller Besitzungen, wie z. B. Kiautschau, unter Umständen in Nachtheile zu verwandeln; sie hindert Deutschland ganz allgemein, sich den einer Nation von 53 Millionen geschuldeten Respekt über See zu verschaffen, voa einem Kriegsfälle nicht zu reden. Doch wir sind der Aufgabe enthoben, angesichts von Plänen, die wir gefordert haben, die Nothwendigkeit schleuniger Schritte zur Beseitigung der deutschen Ohnmacht zur See darzu- thun. Auf die Vorschläge selbst kann, wie gesagt, nicht näher eingegangen werden, weil sie eben nur an gedeutet sind. Vielleicht stellt eS sick als sachlich und politisch nicht unbedenklich berauS, daß die Negierung, die bei einer gesetzlichen Bindung von sechs Jahren schon vier Jahre vor Ablauf dieser Frist nicht mehr bestehen kann, nun eine Festlegung auf siebzehn Jahre hinaus beabsichtigt; aber selbst verständlich ist eS Verstellung, wenn Herr Richter jammert, die Regierung ertheile dem Reichstag daS „denkbar schärfste Mißtrauensvotum", sie muthe der Volksvertretung zu, ihre Nachfolger in ihren Rechten und in der Einwirkung auf die Wehrkraft zur See zu degradiren, in keinem Staate der Welt sei einem Parlamente jemals ein solches Flottengesctz ange sonnen worden. Letzterer Schluß ist falsch; daS mächigste Parla ment der Welt, daS en gl is ck e, hat sick für die Flotte gebunden, indem es der Regierung „auf einen Sitz" die Kleinigkeit von 280 Millionen Mark für Schiffsbauten zur Verfügung stellte. Gebunden ist der deutsche Reichstag auch für daS Landheer und zwar durch Reichsverfassung. DaS in Aussicht genommene Flottengesetz berührt überdies ebensowenig wie daS be stehende da» Recht der jährlichen Festsetzung der für den Schiffsbau in den Etat einzustellenden Summen. Eine Bindung ist übrigens mit den meisten Ausgabenbewilligungen verbunden. Wenn der Reichstag auch nur die Anstellung von einem Dutzend Unterbeamten bewilligt, so degradirt und bindet er seinen Nachfolger auch und zwar für ewige Zeiten. Denn diese können die Gehälter nicht einfach streichen und müssen dazu nock die aus den Gehaltsbezügen sich ergebenden Pensionen bewilligen. Das andere Argument ist bekanntlich: weil die Negie rung sich aus sechs Jahre gebunden, so dürfe sie mit dem Anträge auf Aenderuug deS Flottengesetzes nicht hervortreten. DaS wäre politisch, natürlich nicht rechtlich, nicht unzutreffend, wenn nicht das vorläge, waS man torcs wuzeurs nennt. Die gegenwärtige Regie rung täuscht manche berecktigte Erwartung; das Auftreten Nordamerikas als erobernde Weltmacht und den Transvaalkrieg mußte sie nicht voraussehen. Und wenn doch, würde Ame rikas und Englands Expansionspolitik weniger bedrohlich durch die Anerkennung, daß Fürst Hohenlohe und Admiral Tirpitz sich geirrt? Soll der Reichstag ein Mehr an Panzer schiffen diesen beiden Männern oder soll er sie dem Vater lande gewähren? DerReichStag bat in diesem Falle kein anderes Reckt, al» die Verstärkungsbedürftigkeit der deutschen Seekraft und die finanzielle Leistungsfähigkeit deS deutschen Volkes zu prüfen. In ersterer Hinsicht wird die Regierung natürlich mit den Gründen, die sie bestimmten die politische Situation als geändert anzusehcn, nicht zurückhalten, obwohl sie auf der Hand liegen; WaS die finanzielle Seite angeht, so geben wir zwar nicktS auf eine ungeschickte ossiciöse Rech nung, bei der herauskommen soll, daß die Steigerung der erschlossenen Einnahmequellen alle siebzehn Jahre hin durch die durch daS Programm bedingten Mehrausgaben unfehlbar übertreffen müsse; jedenfalls aber ist die in Aussicht genommene Mehrbelastung keine derartige, daß sie eine winhschaftlich gedeihende und weniger als jedes andere Culrurvolk mit Steuern bebürdete Nation schrecken könnte. Die „Deutsche TageSztg." erreicht mit einer gegentheiligen Behauptung den Gipfel der Frivolität, sie verdient aber keine Beachtung, da die ,^reuzztg.", wie wir nicht anders erwartet, sich die Bereitwillig keit, für die Flotte Opfer zu bringen, die die „Natio nalliberale Corr." schon früher für ihre Partei erklärt bat, nun auch Namens der Conservativcn kundgiebt. Für die Freisinnige Vereinigung redete gleichfalls vor dem Bekanntwerden deS Regierungsprogramms vr. Theodor Barth einer Flotten verstärkung das Wort in einer Weise, die wohl genügend durch das Urtheil Eugen Richter'« gekenn zeichnet wird. Der volksparteiliche Führer schreibt Uber den ehemaligen Zeitgenossen: „Schade um den Männl" Die „Germania" ist verlegen und stottert etwas von „Conflict". Die Partei des „Vorwärts" kommt ja nicht in Betracht, aber es ist interessant und für uns übrigens nicht überraschend, daß das socialdemokratische Organ die Flottenfrage nicht zu behandeln, nicht wie früher von „Marinismus" zu sprechen wagt, sondern den „Ge nossen" einzureden sucht, der Regierung liege gar nichts an neuen Schiffen, ihr Plan gehe nicht aus politischen und militärischen Erwägungen bervor, die Action sei vielmehr nichts Anderes, als eine That der inneren Politik, ein Miquel'scheS Mittel, um durch einen Conflict im Reiche aus der unmöglichen Lage in Preußen herauszukommen, der Canalhandel solle in der Militärvorlage sein Begräbniß finden. Hinter diesen granitnen Albernheiten versteckt sich die Besorgniß vor der auch in die Socialdrmokratie ge drungenen Erkenntnis des Zusammenhanges von industriellen Arbeitslöhnen und Flottenpolitik. ES ist dem „Vorwärts" nicht wohl zu Muthe bei seiner Ankündigung: der Reichstag wird die Flottenvorlage „mit Hohn und Spott zurückweisen". Das wäre unS sehr angenehm; möglichst viel Hohn und und Spott der Herren „Arbeiterführer", daS würde der Marine bei etwa nöthig werdenden Neuwahlen sehr zu Statten kommen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 30. October. Die Reise des Kaisers nach England darf man nun wohl als beschlossene Sache anseben. Die englische Presse wird darüber jubeln; welchen Werth sie gerade jetzt auf den Besuch unseres Kaisers legt, geht aus einem Artikel der „Times" bervor, der ausführt, der Besuch werde beweisen, wie wenig die in der deutschen Presse hervortretende anti englische Stimmung zu bedeuten habe. Mit Recht weist die „Nat.-Ztg." diese Beweisführung als verfehlt zurück, indem sie auSfübrt: „Im Ernst kann die „Times" dies selbst nicht glauben, nachdem sogar im englischen Unterhaus« von einem Mitglied« ohne Wider spruch erklärt worden ist, alle Mächte mit Ausnahme Oesterreich- Ungarns haßten England. Wir würden uns den Ausdruck „Haß" nicht ancignen; aber wenn man jenseits des Canals nicht gänzlich blind gegen die Zeichen der Zeit ist, so muß man da- rüber, daß di« öffentliche Meinung aller civklisirten Länder jetzt gegen England ist, im Klaren sein. WaS Deutsch land betrifft, so ist dafür daS Verschwinden aller Sympathien für England sogar aus der freisinnigen Presse, in der sie früher so festgewurzelt waren, vielleicht am bezeichnendsten; es gab lange Zeit kein rnglandfreundlichereS Blatt, als die Wochenschrift „Nation"; heute liest man in ihr folgendes Citat auS Kant: „Tie englische Nation als Volk betrachtet, ist daS schätzbarste Ganze von Menschen, im Berhältniß gegen andere betrachtet; aber als Staat gegen andere Staaten daS verderblichste, gewaltsamste, herrschsüchtigste und kriegserregendste unter allen." ... Es bedurfte dazu nicht erst der Verurteilung, welcher das englische Vorgehen gegen die südafrikanische Republik, wie fast in der ganzen civilisirten Welt, so allerdings auch in Deutschland begegnet. Viel mehr hätte dazu vollständig das zugleich nnwahrhastige und brutale englische Verhalten in der Samoa-Angelegenheit genügt, nachdem kurz vorher der Abschluß eines Vertrages über südafrikanische Fragen anscheinend das Bestehen befriedigender allgemeiner Beziehungen zwischen den beiden Länvern bekundet hatte. Der Samoa-Epilog zu diesem Vorgang hat in Deutschland die Frage aufwerfen lassen, ob irgend rin Zusammengehen Deutschlands mit England von eng lischer Seite einen anderen Zweck habe und für Deutschland andere Folgen in Aussicht stelle, als daß Deutschland auf dem Continent für England wider dessen Feinde zu fechten hätte — während keineswegs sicher wäre, daß England gleichzeitig auf dem Meere für deutsche Interessen einstehen würde." Die „Nat.-Ztg." weist dann darauf hin, daß diese Frage durch die in dem erwähnten „Times"-Artikel gebrauchte stereotype Phrase von der großen Colonialniackt England nnd der großen Continentalmacht Deutschland, deren Interessen nirgends feindlich zusammenzustoßen brauchten, sehr nabe gelegt werde, und schließt: „Die sterrotype Phrase paßt in keiner Weise mehr, denn Deutsch land will nicht mehr bloß eine „Contiuentalmacht" sein im Ber hältniß zu der „Colonialmacht" England. Wenn die „Times" heute in salbungsvollen Redensarten über deutsch-englische Freundschaft der Vergangenheit und der Zukunft sich ergeht, so klingen uns die selbst in ihren Spalten beispiellosen Rohheiten wieder in den Ohren, deren das Blatt sich gegen Deutschland und den deut schen Kaiser anläßlich der Entsendung deS Prinzen Heinrich nach Kiautschau erdreistet hat. Doch für Deutschland kommt weder auf alte, noch auf neue „Times"-Artikel etwas an. Sollte der Besuch des deutschen Kaisers in England stattfinden, so würde eS geschehen, weil der Kaiser, der Enkel der Königin von England, vor mehreren Monaten «ine Einladung derselben angenommen hat. Tie Leitung der deutschen Politik aber wird alsdann, wie wir hoffen, keinen Zweifel darüber lassen, Laß die Neutralität Deutschlands zwischen England und seinen Gegnern in der Weltpolitik durch den Besuch in keiner Weise beeinträchtigt wird." Diese Hoffnung hegen auch wir; seit dem Bekanntwerden deS erweiterten FlottenplaneS, an dessen Entstehung der Kaiser zweifellos einen sehr erheblichen Antheil hat, ver- Feuilleton. Äuf freien Lahnen. L5j Roman von Rudolf von Gottjchall. Nachdruck vntotea. Viertes Buch. ErsteSCapitek Warme Winteriage — Nebel zogen über die Wiesen, hingen über den skeletartigen Waldbäumen; der braune, gelbe Laub teppich zu den Füßen derselben war feucht und durchnäßt; der verdroßen« Nebel hatte sich da ein« Lagerstatt bereitet. Bald nach seinem letzten Besuche bei Valeska hatte sich Timotheus zu seinem Vater auf's Land begeben. Eine innere Unruhe trieb ihn umher; er könnt« im Tumult der Stadt nicht Herr werden über sein« Empfindungen; er wollte in ländlicher Einsamkeit ungestörte Einkehr in sein Inneres halten. Hierzu kam, daß Herr Kreuzmaier den Wunsch geäußert, einige Dorf geschichten für sein Feuilleton zu erhalten, da dir ewige Salon parfüm ermüdend wirke; einige Mistfuhren dazwischen, das wäre rin« erwünschte Abwechselung. Uno Timotheus war ja der rechte Mann dafür; seine Wiege hatte im Dorfe gestanden; er war immer mit den Dorfjungen in die Schule gegangen; sein Vater, der Schullehrer, kannte jedenfalls die ganz« Chronik deS Dorfes. Diese ihm von der Redaction verordnet« Idylle war dem jungen Lehrer in seiner jetzigen Stimmung sehr willkommen. Die Suche nach einer Dorfgeschichte war freilich keine angenehm« Zugabe, ihm war zu Muth« wie ein«m Schulknaben, der zwar vergnügt in di« Ferien hinausstürmt mit zugeschnalltem Ran zen, d«r aber Wohl weiß, daß er denselben doch da draußen wieder aufzuschnallen g«nöthigt ist, um «ine Feriemrufyabe zu machen. Der Alte war finster und mürrisch und mit dem Sohn, der seine Examenarbeit immer hinauSschob, sehr unzufrieden. „Ich habe Dein« Feuilletons oder wie man das müßige Zeug nennt, gelesen. Ob man durch dergleichen berühmt werden kann, weiß ich nicht — möglich! Di« Welt ist dumm genug und sieht vergnügt zu, wenn leeres Stroh gedroschen wird. Doch auch mit solcher Berühmtheit erreichst Du nichts; sie geht rasch vorüber, wi« «in Schattenspiel an der Wand. Du sollst etwas Tüchtiges leisten — dafür bin ich verantwortlich, höchst verantwortlich, als Dein Vater. Man st«llt mich zur Rede, besonder» d«r Rechtsanwalt." „Was kümmert's den?" ' „Er spricht aber aus, was die Anderen denken." „Ich begreife nicht", versetzt« Timotheus, „was Du immer mit dem Rechtsanwalt zu thun hast. Du führst doch keine Proceffe." „Doch ich verwalte ein kleines, hinterlassenes Vermögen und der Rechtsanwalt ist mir dadei an di« Seite gesetzt." „Nun, da mag er sich darauf beschränken und nicht sein« Meinung äußern über Dinge, die ihn nichts angehen." „Das Urtheil verständig«! Leute ist viel Werth. Freilich, mit dem Verstand ist in der Welt wenig gethan; damit fühlen wir uns an den Dingen zurecht, an di« wir im Dunkeln anrennen. Wenn's aber in unserem Inneren dunkel ist, da nützt er nichts — da gilt's eine höhere Erleuchtung, und glück lich, wer derselben theilhaft ist. Was wir zu denken gelernt Haden, nützt uns nichts, ebensowenig waS wir zu glauben gelernt haben. Das Alles ist für Alle; aber die innere Erlruchtung ist für die Auserwählten." „Nun, ich mache nicht Anspruch, zu diesen zu gehören." „O, sie ist bisweilen schrecklich, diese innere Erleuchtung. Da r«gt es sich in den Abgründen des Gewissens und wir werden oft mit entsetzlichen Gesichtern heimgesucht." Bei solchen Gesprächen beschlich Timotheus stets ein unheim liches Gefühl Der Alt« hatte sonst so wenig von einem Geister seher; sein Körperliches hatte durchaus nichts Schattenhaftes; dann aber nahmen seine hervorquellenden Augen einen so eigenthümlichen Glanz an und starrten in's Leere. So gering erschienen ihm all« di« irdischen Dinge, daß Timotheus ver geblich -ei ihm anklopfte, wenn er Näheres aus der Chronik des Dorfes erfahren wollte. Achselzuckend lehnte der Vater diesen Dorfklatsch ab. So blieb dem Sohn nichts übrig, als wo anders sich seine Dorfgeschichten zusammenzusuchen. Er ging von Haus zu HauS. Bei dem reichen Großbauern Peuckert klopfte er zuerst an. Er war früher dort rin gern gesehener Gast gewesen; der Alt« hatte einen Wissenstrieb, für den er nirgends recht« Befriedigung fand, und schlug den Sohn deS Schullehrers wie «in Lexikon auf. Besonders das Ge schichtliche interessirte ihn. Gustav Adolf und Napoleon I. und Napoleon III. und all« die großen Schlachten, von denen er hatte läuten höron. Der Sohn, ein strammer Bursche, hatte sogar ein Auge auf Alic« geworfen; doch sie mochte ihn nicht; da» war «in ganz ungefährlicher Nebenbuhler. Und seitdem sie unter dir Komödiantinnen gegangen, war sie ja für anstän dig« Leute eine unmögliche Partie geworden. Und nun war der übermüthige Bursch« gar al» Wilddieb eingezogm und verhaftet worden. Timotheus fand die Schwester in Thränen; doch sie weinte nicht -los um den Bruder. Susanne Peuckert war immer ein träumerisches Kind gewesen, gesund und blühend sah sie aus, das brachte die Landlust so mit sich, aber in ihren Augen lag etwas Schwärmerisches; sie deuteten auf ein Gemüth das, der nächsten Umgebung abgewrndet, nur mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt ist. Der junge Förster Arno Spelt bewarb sich um ihre Gunst. Der frische Waldmann mit dem röthlichen Bart gewann auch ihre Zuneigung; der Vater aber wollte anfangs nichts wissen von der Ehe mit einem untergeordneten Gutsbeamten; doch als dieser eine nicht ganz unbedeutende Erbschaft hatte, schien er weniger abgeneigt, sein« Einwilligung zu geben. Das Alles wußte Timotheus, aber nicht, daß es der junge Spelt war, der Ge liebte der Schwester, der nach einem kurzen Kugrkwechsel den Bruder verhaftet« und den Wilddieb den Gerichten übergab. Nachdem er solche Schmach auf die Familie Peuckert gehäuft hatte, konnte von einer Verbindung der Tochter mit ihm nicht mehr die Rede sein. Das erklärte der Vater so ausdrücklich, daß Susann« nicht zu widersprechen wagte, um so mehr, als ihr eigenes Gefühl ihm Recht gab. Das Alles erzählte sie dem Timotheus weinend und er be klagte sie nicht; denn der Herzlose war ja glücklich, daß sie ihm ein« ganz« Dorfgeschichte vorgeweint hatte Es fehlte nur noch der tragische Schluß — und es gehörte gerade kein« erfinderische Phantasie dazu, um ihn zu ergänzen. Nun braucht« er noch einig« Modelle, und da begab er sich in das Ortsarmenhaus, wo das dörfliche Elend sich zusammen gefunden hatte. Da war die rothe Hanne, der die wirren Strähnen des RothhaareS ins verrunzelte Gesicht herabhingen; sie war so oft vorbestraft worden, daß es für die Gerichtsherren eine ermüdend« Arbeit war, ihr Strafregister vorzutragen; ihr ganzer Leben war «ine Kette von Gefängniß- und Zuchthaus strafen. Doch zuletzt war ihr daS ganze Metier verleidet worden: «S war so eintönig, eS fehlte die Abwechselung — und sie setzte sich zur Ruhe. Sie war zänkischer Art — und gelegentlich kam sie noch mit dem Stocke des Amtsvogts in unliebsame Berührung. Doch sie erzählt« g:rn von ihren Thaten; kein Held konnte mit größerem Stolz von seinen Siegen sprechen — hatte sie doch mit Energie und List bisweilen StaunenswertheS ausgeführt; sie plauderte sogar, wenn die würdigen Häupter deS OrtSarmenhacffes beim Cichorienkasfer zusamennsaßen. Manche- auS, war dem Auge der irdischen Gerechtigkeit entgangen war, und wenn sie den alten Freundinnen zublinzelte, so wußten diese wohl, daß sie da» Beichtgeheimniß zu wahren hatten. Die rothe Hanne aber brach in höhnisches Gelächter aus, wenn sie mittheilte, wie sie dir Justiz genasführt hatte. Ein seit längerer Zeit pensionirter Nachtwächter hob dann schalkhaft warnend den Zeigefinger seiner von der Gicht verkrüppelten Hand in die Höhe; denn nach Jahr zehnten steckte ihm noch der Beamte im Blut. Doch er hatte längst aufgehört, gemeingefährlich zu sein. Wenn aber dir rothe Hann« ihr reichhaltiges Dasein klar überschaute und wie einProfessordec Geschichte für jedes große. Ereigniß die richtigen Jahreszahlen angab, so war es mit der alten Bronte, der früheren Botenfrau vom Schlosse, schlechter bestellt; ihr erschienen die Ereignisse der letzten Jahrzehnte in einem Dunkel, in wel chem sie sich nicht zurechtzufinden wußte; Alles ging durch einander; Namen und Begebnisse, desto Heller stand die frühere Zeit vor ihrer Seele; da wußte sie genau Vor- und Zunamen aller bei einem Vorgang betheiligter Personen, das Datum, die Tageszeit und Stunde sogar, und was sie da erzählte, schöpfte sie aus bester Quelle; denn sie war ja vom Schlosse und sie erfreute sich deshalb großen Ansehens; Niemand bezweifelte die Wahrheit ihrer Erzählungen. Timotheus, der sich den Anschein gab, als sei er von einer städtischen Behörde mit der Prüfung der Einrichtungen und Zustände des Armenhauses beauftragt worden, fand zwar auf einem wackeligen, dreibeinigen Sitz einen Ehrenplatz an dem Holztisch, in den die Mefferarbeit langer Jahre alle möglichen Zeichen, Buchstaben und Namen eingeschnitten hatte, doch wurde er trotz der vorgeschobenen amtlichen Sendung nicht mit sonder lichem Respect behandelt; denn Respect gab's hier überhaupt nicht, wo man längst seine Sach« auf nichts gestellt hatte; er wurde indeß, da er sich zutraulich dem gemeindlich anerkannten Lumpengesindel näherte, als «in gleichberechtigter Kamerad be handelt. Er war damit beschäftigt, nicht nur die rothe Hanne, die Wick eine schlangenhaarige Furie aussah, sondern auch die schwarze Bronte in dem Album seiner Er innerungen abzuschattiren, daS er für seine Dorfgeschichten mit nach Hause brachte. Die Frau hatte, trotz ihres hohen Alters, noch schwarzes, nur mit Silberfäden durchflochtenes Haar, tief liegende, dunkle Augen mit kohlenschwarzen Rändern, unheimlich durchfurcht« Züge, zittrige Hände, mit denen sie bisweilen auf den Tisch schlug, wenn's in ihren Geschichten zum Klappen kam. Doch wenn der junge Lehrer auch vor Allem bestrebt war, sich das äußere Bild der Erzählerin festzuhalten, so wurde er doch unwillkürlich auch von dem Inhalt der Geschichten gefesselt, die sie vortrug. Es waren zwar Schloßgeschichten und kein« Dorf geschichten, wi« er sie gerade jetzt brauchte. Doch sie wirkten
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