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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991101022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899110102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899110102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-01
- Monat1899-11
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General White sah sich mit sammt den zersprengten Resten der Brigade de» Generals Aule so eng in Ladysmith umschnürt, daß er Alles auf die eine Karte eine- verzweifelten nächtlichen Vorstoßes zu setzen und die Boeren in einer, wie er selbst zugiebt, unhaltbaren Stellung anzugreifen gezwungen war. Die Niederlage, die er sich geholt, ist eine schwere uud gründliche. Außer den 2000 Gefangenen Haden die Eng länder noch einen beträchtlichen Theil ihrer Geschütze ver loren, mit denen angeblich die Maulthiere, 1500 an Zahl, durchgingen, die aber, wenn man den White'schen Euphemismus in gewöhnliches Deutsch übersetzt, wahrsckeiulich von den Boeren erobert worden sind. Merkwürdig ist eS zum Mindesten, daß die Engländer die Esel nicht von den Ge schützen absckirren, wenn diese feuern, und von einer feuernden Batterie spricht doch der Telegraph. WaS der Kampf vor Ladysmith den Engländern außerdem an Tobten und Verwundeten gekostet hat, darüber schweigt das Bulletin Wbite's oder die Vorsicht deS Londoner KriegsamteS vor läufig noch. Sie werden gewiß keine geringen gewesen sein. Private Meldungen schätzen sie auf mindestens tausend Mana. Auch der ganze Wagenpark ist verloren. Wir müssen gestehen, daß wir mit der gesammten deutschen Presse auf Grund der lediglich aus englischer Quelle stammenden Nachrichten vom Kriegsschauplätze bisher nicht geglaubt hatten, daß die Boeren vor Ladysmith so rasche Erfolge erzielen würden; ja man hatte sich schon mit dem wenig erhebenden Gedanken vertraut gemacht, daß die an geblich weit überlegene Artillerie der Engländer und die musterhafte Verproviantirung der Stadt Ladysmith die Boeren so lange in Schach halten würde, bis das noch aus dem Ocean schwimmende englische ArmeecorpS den Fuß auf afrikanischen Boden gesetzt haben würde. Nunmehr hat e« allen Ausckein, daß der kühne Wagemuth und die energische, aus dem Vertrauen auf eine gerechte Sache unversiechlicke Kraft schöpfende Initiative der Boeren über Ladysmith, General White und Hule rasch zur Tagesordnung übergeben, d. h. den Weg nach Durban und der Küste sich freimachen werden. „Wir wollen den Engländern zeigen, wie rasch wir sie inS Meer treiben", sagte ein Boerenfübrer, als der erste Schuß in Natal gefallen war. Er kann Recht gehabt haben. Hat Ladysmith einmal capitulirt, oder bat seine Besatzung sich nach Durban „rückwärts concentriren" müssen — wenn da- überhaupt noch möglichst ist —, dann kommt das englische ArmeecorpS, von dem man sich Wunderdinge erhofft, zu spät, denn dann findet eS den Schienenweg Durban-Pretoria zerstört, dann muß eS mühsam, unter dem Feuer der Boeren rechts und links, in unwegsamer Gegend sich vor wärts winden, dann wird ihm erschreckend rasch der Proviant auSgehen, dann werden Mafeking und Kimberley gefallen sein und dann werden aller Voraussicht nach auch die Holländer der Capcolonie sich unter dem Eindruck der boerischen Siege erhoben haben. ES kann ja — das KriegSglück ist schwankend und ungewiß — auch anders kommen, aber selbst wenn der Krieg mit der Erdrückung des kleinen BoereovolkrS enden sollte, er wird doch so viele Heldenthaten des um seine Freibeit kämpfenden deutschen Bruderstammes zu verzeichnen baden, daß der Untergang der beiden südafrikanischen Republiken noch manche» Dichter» Mund zu verherrlichender Epopöe be geistern wird. Al» nach dem schmählich verunglückten Heldenritt deS unsterblichen vr. Iameson, de- famosen Quartiermachers der nothleidenden Capstavt-Londoner MillionärSclique, Kaiser Wilhelm sein der Geschichte angehörendes Telegramm an Obm Krüger sandte, da hatte er dem ganzen deutschen Volk auS der Seele gesprochen, mit kernigen Worten Dem Ausdruck verlieben, wa- auf den Lippen von Millionen gerecht und ehrlich Denkender schwebte. Wir sind überzeugt, daß Kaiser Wilhelm, der als geborener Soldat noch jede große Waffen- that deS letzten Jahrzehnts ohne Unterschied der Nation enthusiastisch begrüßt hat, auch hinsichtlich des Sieges der Boeren bei Ladysmith keine Ausnahme machen wird, wenn er auch aus naheliegenden Rücksichten eS sich versagen muß, sein Empfinden offen corum munäo kund zu geben. Englische Blätter stellen es als eine geschichtliche Tbatsache hin, daß der Kaiser das Krüger-Telegramm bereut habe und daß er heute ganz ander- gegen die Boeren gesinnt sei, als vor drei Jahren. DaS ist eine durch Nicht- bewiesene Behauptung, für die auch da- englisch-deutsche Afrikaabkommen nicht in An spruch genommen werden kann. Dessen Inhalt ist noch gar nicht bekannt geworben und zum Wenigsten scheint es nicht so gefaßt zu sein, daß eS England schon jetzt, in seinem Krieg mit den Boerenstaateu, irgend welchen Vvrtheil böte. Man glaubt auch in England selbst nicht so recht an daS, WaS man zu glauben sich den Anschein giebt, sonst würde man nicht mit so geflissentlichem Eifer nach documentarischen Belegen dafür fuchrn, daß England dem deutschen Kaiser ans Herz gewachsen sei und daß e« seiner völlig gewiß sein dürfe. In diesem Sinne ist ja in den letzten Tagen wieder die be absichtigte Reise deS Kaiser- nach den Gestaden England- — ob sie wirklich auSgeführt wird, steht noch immer dahin — accentuirt und ausgebeutet worden, aber das begeisterte Empfang-Präludium der „Times" hat doch alsbald einer sehr tiefgehenden Ernüchterung Platz machen müssen, als die Grundzüge der geplanten deutschen Flollenvermehrnng über den Canal gekabelt wurden. Man konnte sich dort nicht verhehlen, daß die Erweiterung der deutschen Wehrkraft zur See in erster Linie auf die Initiative des Kaisers zurückzuführrn und daß ihr Bekanntwerden gerade im Beginn der weitauSschaurnden afrikanischen Action Englands den Kaiserbesuch in England in eia ganz anderes Licht zu setzen geeignet sei. Will man sich auch nicht eiagestehen, daß die Spitze deS neuen deutschen Flottcnplanes unter Anderem auch gegen England und seine Räuberpolitik gerichtet sein könnte — auch wir haben begehren-werthen, nicht weit von Transvaal liegenden Colonialbesitz —, so fühlt englisches Mißtrauen doch das Eine sehr richtig heraus, daß unsere neuerlichen maritimen Anstrengungen allem voran den Zweck haben, un- unabhängig von dem guten ober bösen Willen unseres angelsächsischen Vetter- zu machen, daß wir für sein selbstloses Anerbieten, den deutschen, die Welt immer mehr erobernden Handel mit seiner Kriegsflagge zu decken, verbindlichst danken, daß wir auch zur See aus eigenen Füßen stehen wollen. DaS aber ist eS, was man uuS in London nicht verzeihen kann, weil man die Gefahren sieht, die ein vom englischen Gängelband entlassenes selbstständiges Deutschland für die britische Beutepolitik erwachsen können. Die Stimmung ist in London denn auch sehr rasch um geschlagen und hat sich nur vorübergehend wieder gehoben, als daS Telegramm de- Kaiser- an den Obersten Murdoch bekannt wurde, der mit dem den Kaiser gehörenden königlichen Dragonerregiment eben nach Afrika aufbricht. Die englische Presse hat nicht- Eiligeres zu thun, als in die Welt hinaus zu posaunen, es liege ein neuer Sympathie beweis deS deutschen Kaisers für England und gegen Trans vaal vor; auS dem Telegramm leuchte ein, daß der Monarch die englische Truppe mit dem Gefühl herzlichster Theilnabme begleite, eS zerstöre alle Hirngespinnste von einem angeblich gegen England sich vorbereitenden „Dreibund Frankreich, Deutschland, Rußland". Wenn die englische Presse einen solchen Ton anzuschlagen für vortbeilhaft hält, so finden wir daS begreiflich und eS fällt unS nicht ein, noch ein Wort darüber zu verlieren; wenn aber, wie eS geschieht, deutsche Blätter die englische Auffassung sich aneignen und dem Kaiser einen Vorwurf auS seiner jüngsten „Kundgebung" machen, so müssen wir dem mit aller Entschiedenbeit entgegentreten. So lesen wir z. B. in einem sächsischen Blatte: „Die Kundgebung deS Kaisers wird mit schmerzlichem Bedauern vernommen werden, weil sie nur zu sehr geeignet ist, den Träger der deutschen Kaiserkrone in einen Gegensatz zu den nationalen Empfindungen zu bringen, die zur Zeit daS deutsche Volk bewegen." So kann man doch unmöglich schreiben, wenn man von dem Tele gramm deS englischen Obersten Kenntniß hatte, durch da- daS Telegramm deS Kaisers erst veranlaßt worden ist. Letz teres ist doch keine spontane Kundgebung, die der Initiative unseres Kaisers entsprang, sondern einfach die selbst verständliche Antwort auf einen vielleicht nickt so ganz selbstverständlichen Rapport, den Oberst Murdoch dem Kaiser als dem Inhaber seines Regiments erstattet batte! Anders wäre die Sache, wenn der Kaiser ohne Veranlassung aus freien Stücken nach London telegrapbirt hätte, aber selbst dann ließe sein Schritt sich noch nicht in der Weise sruclificiren, wie man es drüben thut. Darüber wird man sich doch, denken wir, in Deutschland einig sein, daß der Monarch nicht förmlicher, zurückhaltender und kühler antworten konnte, als eS geschehen ist. In London hat man freilich eine Demonstration für England erwartet, und daS Telegramm deS Obersten ist Wohl auch nur abgesandt worden, um sie zu veranlassen. Man rechnete mindesten- darauf, der Kaiser werde seinem Regiment ruhmvolle Thaten und siegreiche Heimkehr wünschen und nun — WaS ist in Wirklichkeit geschehen? „Uebermitteln Sie dem Regiment mein Lebewohl, mögen Sie alle unbeschädigt und wohl zurückkehren." Das ist Alle-: Adieu und kommen Sie wohl nach Hause! Weniger konnte der Kaiser doch wahrlich nicht thun, und daß er nicht mehr lhat, zeugt von seinem aus geprägten Taktgefühl und noch mehr von dem Gefühl der Verantwortlichkeit, die gerade jetzt auf ihm ruht, wo man Deutschland von zwei Seiten in Anspruch zu nehmen und zu en- gagiren sucht. Wenn der Kaiser bat demonstriren wollen, so bat er es gegen die sehr durchsichtige englische Absicht gethan, ihn für die britische Raubzug-Politik festzulegen. DaS wird man hoffentlich über Nacht auch jenseits deS Canal einsehen. Man wird sich der Er'enntniß nicht verschließen, daß Kaiser Wilhelm vor Allem ein deutscher Fürst und daß er nur und ausschließlich deutsche Politik zu treiben entschlossen ist. Mag man mit den einzelnen Phasen seiner inneren Politik zufrieden sein oder nicht, den Ruhm muß man ihm doch lassen: er hat erkannt baß Deutschlands Zukunft auf dem Meere liegt und er setzt seine beste Kraft dafür ein, daß eS dort selber vorwärl- kommt und im Stande ist, brutschen Unternehmungsgeist selbst zu stützen und zu schützen, daß es aber niemals in die Lage kommt, seine Zuflucht im unsicheren Kielwasser der Armada Albion- zu suchen. Daß die- kaiserlich-deutsche Politik ist, hat die Welt aus Anlaß deS Kriege- in Süd afrika und der Erfolge, welche die Boeren in rascher Folge errungen habe», von Neuem erfahren. Au- diesem Grunde freuen wir unS doppelt ihrer Erfolge! Was den letzten, den geuialen Handstreich von Lady smith anlangt, der die strategischen Fähigkeiten des Generals White in nicht- weniger als glänzendem Lichte gezeigt hat, so liegen un» noch folgende Meldungen vor: * London, SI Oktober. Die Abendblätter veröffent lichen folgende Drahtnachricht aus Ladysmith: Gestern Abend vor Dunkelheit nahmen die Boeren ihre alte Stellung wieder rin. Ihre schweren Geschütze, von denen man angenommen hatte, sie wären zum Schwelge» gebracht, eröffneten wiederum das Feuer aus die Stadt. Der Feind umschlietzt wieder die eng lische Stellung. Der gestrige Rückzug der Boeren war lediglich eine List, um General White vom Lager ab in die hügelige Gegend zu ziehen. Die Lage slötzt ve- sorgnitz ein. * Capstadt, 3l. October. (Meldung deS „Reuter'schen Bureau-".) Wie den „Southafrican New»" au- Ladysmith von heute ge meldet wird, wird jetzt am Fuße des Umbambane-Bergrs, wenige Meilen von Ladysmith entfernt, gekämpft. Mehrere Ge schosse find in die Stadt gefallen. * London» 3l. Lctober. (Meldung des „Reuter'schen Bureaus". Die Abendblätter geben ihrem Schmerze über da- unerhörte Unglück in SüdasrikaAuSdruck, wollen jedoch bis zum Eintreffen genauerer Mitlheilungen mit ihrem Urtheil über dasselbe zurück halten. Obwohl sie die Größe des Unglücks einsehen, suchen sie jede ungebührliche Aufregung über die Wirkung desselben abzuwenden und meinen, daß der Verlust von 2000 Mann das Endergebniß nicht beeinflussen könne. Tie Engländer seien entschlossen, koste es, wa- es wolle, ihreSn^ematie thatsächlich aufzurichten' Aus Capstadl wird gemeldet, daß der bockst- commandirende General Sir Redvers Buller, auf den man nunmehr alle Hoffnung setzt, dort den Gegenstand großer Ovationen gebildet hat. Bei seine. Ankunft bewegten uch riesige Volksmengen in den Straßen «nd am Hafen. Der Empfang war die großartigste Demonstration, welche je in Capftadt stattgefunden bat. Wilde- Geschrei der Volks menge begann, als Buller landete und das dauerte fort, bis er im Regierungsgebäude angekommen war. Er fit.hr i.-r offenem Wagen schnell durch die Straßen. Unterdessen schließen sich auf dem westlichen Kriegs schauplatz verschiedene holländische Einwohner von Belsch uanaland jetzt offen den Boeren an. Al» die trans- vaalscke Fahne in Vrybnrg gehißt wurde und 1300 Boeren osficiell von Vryburg Besitz nabmen, sagte der Commandant Delarev in einer Rede: Die Fahne der Republik webe jetzt über dem ganzen Gebiete nördlich deS Oranjeflusses und di» englische Fahne werde dort nicht eher wieder wehen, al- bis sie über den Leichen der Boeren gehißt sei. Äuf freien Sahnen. 261 Roman von Rudolf von Gottschalk. Nachdruck vrrkotm. Schalkhaft lächelnd, sagte Rosalie, indem sie einen Blick zum Fenster hinaus warf: „Ich kann Ihnen vielleicht behilflich sein, eS liegen hier allerlei Geschichten in der Luft. Doch mach' ich «ine Bedingung." „Und welche?" „Hier zu meinen Füßen müssen Sie sitzen, wie ein Kind, dem man Märchen erzählt. Hier — schweigend und artig zuhören." Das war «ine eigene Art von Koketterie, doch Timotheu» fügte sich in das Gebot der Schönen, er suchte eine möglichst bequeme Stellung ernzunchmen und sah zu ihr empor, während sie sprach — ihre dunklen Augen blitzten auf ihn hernieder. Das war di« Scheherezade des Dorfes; er mochte sich auf Augenblicke zum Sultan träumen. Sie nannte leine Namen; doch ihr« Steckbriefe waren deutlich genug. Das konnte nur der junge Psukert sein, der verhaftete Wilderer, der übermüthige Bursche, e-itel und geldprotzig, welcher glaubte de- Sieges gewiß zu sein, wo er sich nur zeigte — und auch die Wittwe Röschen erschien ihm als ein« leichte Beute. Sie gab sich den Anschein, alZ wär« sie ganz bezaubert von seiner unwiderstehlichen Liebens würdigkeit. Er war ein sehr glühender Liebhaber — natürlich meinte er's nicht ernst und das sollte er büßen. „Ich machte ihm allerlei kleine Zugeständnisse, das schadet ja nichts, wenn man sich nichts dabei denkt und nichts dabei fühlt." Wie in Gedanken verloren in holder Zerstreutheit strich sie das Haar des Timotheus glatt, da» in Verwirrung grrathen war. „Da lud ich ihn zu einem Stelldichein in dem kleinen, von Sichen beschatteten und von allerlei Buschwerk umgebenen Rondel im Walde, dicht am Wege nach Dalldorf. Er kam mit einer Miene, als wäre er Herr über Tod und Leben — und ich erschien in stiller Ergebung wie eine Sklavin, die ihm mit Leib und Seel« zur Verfügung steht. Doch als er sein Herrenrecht geltend machen wollte, da glitt ich ihm unter den Armen durch und kletterte wie em Eichkätzchen auf die nächste Eiche hinauf. Das Klettern ist mein Vergnügen, und was das Obstabnehmen galt, war ich immer die Erste. Er stand ganz verblüfft; doch auck dazu war ihm nicht lang« Zeit gelassen. Wie «in Feldherr vom hohen Ross« commmrdirt« ich „Feuer" — und in einem Nu ergossen sich von dr«i Seiten dicke Wasserstrahlen auf den ver einsamten Liebhaber. Die Dora, di« Minna, die Anna hatte ich mit Gartenspritzen ausgerüstet, und aus dem Versteck der Büsche heraus feuerten sie los, bis er klatschenaß und windelweich di« Flucht ergriff. Di« Dora, die Minna, die Anna hatten Alle ihr Hühnchen mit ihm zu pflücken und thaten ihre Schuldigkeit." Der junge Lehrer war sehr dankbar für diese Bereicherung seiner Studienmappe; viel traulicher war ihm zu Muthe und er zeigte nicht übel Lust, seinen Kopf rn den Schooß der schönen Erzählerin zu legen. „Da kam auch zu mir der dicke, heuchlerische Großbauer, der alle Sonntage im Kirchenstuhl sitzt und all« Gesangbuchlieder mit seinem tiefen, srommrn Baß mttfmgt, bei allen geistlichen Col- lrcten da- Meist« beisteuert und der Gemeinde als ein leuchtend Vorbild erscheint. Er schlich sich bisweilen im Dunkeln hier ins Hau». Der Mann hat Weib und Kind und wenn ihn die alte Hexe, seine Frau, einmal durchprügelt, so mag ihm da- nicht sehr angenehm sein; aber eS gehört mal zum ehelichen Glück. Ich ließ mir's eine Zeit lang gefallen, denn er bracht« schöne Ge schenke mit, der alt« Geizhals — und «S war ja keine Gefahr dabei. Ich kraute ihm ein paar Mal seinen Silberscheitel, daS ehrwürdig« Haar, da» in so frommem Schimmer leuchtete, wenn die Sonne durch die Kirchenfenster schien — das reine Altarbild! Doch bei mir sah es ganz ander» aus — da glomm'» unter dem Schnee wie Kohlenseuer hervor. Er wurde mir bald lästig und ist sann auf «in verzweifeltes Mittel, ihn lo» zu werden. Es war nichtswürdig; doch was bliob mir übrig? Er hatte sich wieder für ein süßes Stündchen angemekdet — und dies hab' ich ihm gründlich versalzen. Durch ein Zettelchen lud ich seine Frau dazu ein; sie kam wuthschnaubend mit einer Reitpeitsche, ich öffnete ihr bereitwillig die verschlossene Pforte, und fi« that ihr« Arbeit so kräftig, daß es «in Wunder war, wenn der ganz« alt« Tugrndspiegel nicht in Scherben ging." Diese Verrätherei erschien indeß dem lauschenden Hörer doch zu abscheulich und er äußert« seine Bedenken. „Ich bin mm einmal schlecht", sagte Rosa, „und ich gebe mich, wie ich bin! Was wollen denn die Menschen von mir? Ich wehre mich, so gut ich kann. Den, der zudringlich ist, den straf' ich, doch auch den, der abtrünnig ist und etwas zeigt, was wie Neigung und Liebe aussicht und dann ander-wohin seine Wege geht!" Sie sah zum Fenster hinaus; rin böse» Lächeln umschvebte ihre Mundwinkel; man hörte Schritte draußen. „Ich nenne ja keine Namen — da war «in eingebildet Herr- lein, da» sich n«hr dünkte all» di« Anderen, weil es di« Nase in die Bücher gesteckt! Und das fing auch an, mit der Bäuerin «in wenig zu scharmutziren. Doch bald lockt ihn ein halb städtisches Fräulein, ein zierliches Jüngferchen, für dessen Papa der Brodkorb im Schlosse hing, und das glaubte von besserem Geblüt« zu sein als das Bauernvolk, und seitdem kannte der junge Herr die Rosa Blum« nicht mehr und sah über si« hinweg, wenn «r ihr begegnete, und daS hat sie schon lange fuch-wild gemacht." Da wurde die Thür aufgerissen, ein stattlicher Bauernbursche erschien. Timotheus aber fuhr in die Höhe, wobei ihm Rosa behilflich war mit «inem kräftigen Stoß. »Ja, Herr Timotheus Blomer, dieser naseweise Jüngling, der mich jetzt zu Papier bringen will, dem ich aber vorher Luft war — das sind Sie, und dieser hier, Johann Steier, Schwager meiner Freundin, ist mein Bräutigam, mit dem ich mich in nächster Woche verheirathen werde und der allen zudringlichen Leuten die Thüre weisen wird." Und Johann Steier fragte nicht viel; er spuckt« in die Hände, wie er imm«r that, wenn's an die Arbeit ging, packte den Lehrer, der sich verzweifelt zur Wehre setzte, und schob ihn zur Zimmer- thür und zur Hausthür mit «inem gewaltigen Ruck hinaus. So war Timotheus selbst der Held einer Dorfgeschichte ge worden, deren Point« ihm wenig behagt« und ihn in «inen sich nur innerlich austobenden Zorn versetzte; er hoffte, daß Rosa Blume daS zweite Opfer deS entrüsteten Bräutigams sein würde; doch ein fröhliches Gelächter, das ihm aus dem offenen Fenster heraus nochtönt«, belehrt« ihn, daß sich Braut und Bräutigam sehr rasch und glücklich verständigt hatten und daß er allein die Kosten diese- Stelldicheins, die Kosten seiner dorfgeschichtlichen Quellenforschung zu tragen hatte. Zwei teSCapitel. Beim Baron von Siebeneck hatte sich eine größere Jagd gesellschaft versammelt. Doch schon waren nach «inem lärmenden Gelag di« Bowlen und die Gläser leer, unten raffelten die vor fahrenden Wagen, auf welche die Jagdbeute gepackt wurde — und bald fuhren die Gäste theil» angeheitert, theil- schlaftrunken in die Mondnacht hinau», zurück auf ihre benachbarten Schlösser. Nur Graf Pfeiler und Herr von Trautheim waren zurück geblieben, doch auch der Gvaf suchte bald die ihm angewiesenen Gemächer auf. Am nächsten Morgen wollte er mit dem Baron zusammen da» Gut Siebeneck inspiciren; denn er hatte schon lange ein Auge daraufgeworfen; der Baron schien nicht mehr fest im Sattel zu fitzen uttd nicht abgeneigt, sich gelegentlich seine» Besitzthum» zu entäußern; er machte selbst kein Hehl darau», am wenigsten seinem Freunde, dem Herrn von Trautheim gegenüber, mit dem er noch im traulichen Gespräch bei einem Glas« Ana- nasbowle zusammensaß. Er war sehr aufgeregt, nicht blos von den schweren Weinen des Jagdeffens, auf welche die Bowle als ein milder Nachtrunk folgte; er war überhaupt in höchst gereizter Stimmung, und er hatte sich in den letzten Tagen mehrfach bei den Jagdver gnügungen auf den Nachbargütern berauscht. „Der infame Proceß", rief er auS, dem Busenfreunde das Glas vollschenkend, „ich habe nicht geglaubt, daß sic Ernst machen würde. E» war keine Heirath um des Geldes willen, ich liebte das Mädchen wirklich, aber das Geld spielte dabei mit. Und man soll sich seine Ahnenreihe nicht verderben. Die Banquierstöchter — das ist immer gefährlich; es ist eben ein anderer Menschen schlag, ich komme nicht darüber hinweg. Das blaue Blut hat doch eben seine Meriten. Wie sie an ihrem Gelde hängen! Jeder Groschen muß in ihren Büchern stehen, sonst können si« das Leben nicht ertragen." „Doch Du wolltest Dich ja selbst scheiden lassen —" „Weil mich diese offene und gechttme Bevormundung, dies Mißvergnügen über meine Verwaltung ihres Vermögens, di« mein gutes Recht ist, empörte. Doch es kam ja auf eine Verständigung an, die nicht den guten Ruf vor der Welt gefährdete, und die mir die Möglichkeit ließ, wenn auch unter erschwerenden Umständen, mein Gut zu behaupten; doch jetzt — wo si« mich für den Schuldigen erklären lassen will, um mich ganz in Nachtheil zu versetzen — sie kann mich zwingen, mich vom Erbe meiner Väter zu trennen, es ist empörend! Ein Scandalproceß, sie wird ihn gewinnen, und doch bin ich «unschuldig!" „Unschuldig?" „Alles spricht gegen mich — das nichtswürdige Kammer mädchen hat sich di« Sache so zurechtgelegt; ich bin überzeugt, daß sie vorher bestochen war. Sie sagt die Wahrheit au», jeder Richter wird mich für schuldig erklären. Und doch — ich habe an diesem Abend nur Erbitterung und Groll im Herzen getragen und bin hinausgewiesen worden wie ein Schulkunde." „Valeska — das wundert mich!" „Sie will nichts von mir wissen, bi» ich geschieden bin. Das ist eine Marotte, ckber man muß rechnen mit den Marotten dieser Damen. Doch «Heuer für ein Glück zahlen zu müssen, das man gar nicht genoffen hat, für ein Verbrechen verdammt zu werden, das man nicht begangen hat — da» muß un» doch aufbringen gegen die kurzsichtige Justiz und ihre haarsträubenden Ungerechtig. ketten. Und nicht «inmal der Bevorzugt« zu fein —" „Da» bist Du doch!"
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