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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991123028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899112302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899112302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-23
- Monat1899-11
- Jahr1899
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Reklamen unter demRedaction-strick (La*-» spalten) 50^, vor den Familirnnachrichtrn (6 gespalten) 40 Größer» Echriften laut »ns«« Aei<- verzeichniß. Tabellarisch« und Zifsernsatz »ach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit h« Morgen-Ausgabe, ohne Postbefüedernng 60—, mit Poftbeförderung 70.—. Änua-meschluß fir Änzrizea: , Abend-Ausgab«: Vormittag» 10 Uhr. Morgen - AuSgab«: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stande früher. Anzeige« sind stet« an die Expedition ' zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 93. Jahrgang, Politische Tagesschau. * Leipzig, 23. November. Die dritte Deratbung der Postgesetze, die vorgestern im Reichstage dis aus die heute nachzubolende Gesammt- abstimmung erledigt wurde, nahm nicht nur die ganze, nicht kurze Sitzung für sich in Anspruch, sondern brachte auch noch eine Ueberraschung, die der ReickSpostverwaitung nicht gerade angenehm, dem BundeSralhe zweifellos sehr unangenehm sein wird. ES wurde nämlich der Antrag angenommen, daß eS Privaten erlaubt sein soll, unverschlossene politische Zeitungen innerhalb eines Orte» „auch an Sonn- und Feier tagen während der Stunden, an denen die kaiser liche Post bestellt", zu befördern. ES bandelt sich bier um die Beseitigung eines mecklenburgischen Ge setzes, also um einen „Eingriff in die LandeSgesetz- gebung", vor dem nicht nur der Vertreter der mecklen burgischen Negierung, sondern auch der Staatssekretär des NeichSpostamteS nachdrücklich warnte. Eine zweite, auf An trag des Abg. Or. Hasse vorgenommene Aenderung, wonach für die Feststellung der Entschädigungsansprüche der Privat posten die zweite Instanz ein Schiedsgericht sein soll, entspricht dagegen dem Regierungsstandpuncte vollkommen, so daß wohl kaum zu besorgen steht, daß der vorgestrigen Abänderungsbeschiüsse halber der BundeSrath seine Zu stimmung zu der Fassung der Postnovelle verweigern werde, die heute der Reichstag in der Gesammtabstimmung gutheißen wirb oder schon gutgehcißen bat. Es ist also schon jetzt ein Ueberblick über die neuen Bestimmungen am Platze, die vom 1. April nächsten Jahres Geltung erhalten werden. Den für das große Publicum wichtigsten Punkt bilden die lang ersehnten Portoverbilligungen durch die Erhöhung des Gewichtes für den Zehupsennig-Brief von 15 auf 20 8 und die ermäßigte Taxe für den Orts- und Nachbarverkehr, welch letzterer sich zunächst aus 2248 Ortschaften erstrecken wird. Die ermäßigten Sätze im Orts- und Nachbarverkehr betragen: 5 für den frankirlen, 10 für den nickt frankirten Brief, für Postkarten 2 für Drucksachen bis 50 8 2 ^s, für Maaren- proben bis 250 g 5 ^s; für die höheren Gewichtsstufen sind ent sprechende Ermäßigungen vorgesehen. Durch eine Resolution ge fordert und von der Regierung auch in Aussicht gestellt ist ferner die Beförderung von sogenannten GeschäftSpapieren gegen die Druckjackenlaxe; auch die Krankencassenbücher und Mitgliederbücher von Wohlfahrtsvereinen sollen als Gesckäfts- papiere behandelt werden. Neu geregelt werden ferner die Telephon gebühren. Dieselben werden im Allgemeinen als Banschgebühr erhoben, die in Netzen von höchstens 50 Theilnebmeranschlüssen 80 Mark beträgt und mit der Theilnehmerzahl steigt; und zwar sind, von den Zwischen stufen abgesehen, bei höchstens 50 Tbeilnehmern 80 Mark, bei 1000 bis 5000 Tbeilnehmern 160, bei 5 bi« 20 000 Tbeilnehmern 170 und darüber hinaus 180^ jährlich für jeden Anschluß zu zahlen, der von der VermittelungSstelle nicht weiter als 5km entfernt ist. Auf Antrag jedes TheilnehmerS ist jedoch auch ein anderer Zahlungsmodus zu gestatten, und zwar in der Weise, daß — je nach der Zahl der Anschlüsse de« betreffenden Fernsprechnetzes — eine Grund gebühr von 60 bis 100 zu zahlen ist; dazu kommt für jedes Gespräch eine Gebühr von 5 und zwar mindestens für 400 Gespräche auf das Jahr. Jeder Theilnehmer ist befugt, sich von den seinen Anschluß benutzenden dritten Per sonen die Gesprächsgebühr erstatten zu lassen. Für die Ver bindung mit anderen Orten werden Gesprächsgebühren erhoben, die für jede Verbindung von 3 Minuten Dauer je nach der Entfernung berechnet werden, und zwar steigend von 20 »s für eine Entfernung von 25 km, bis zu 1 für 500, 1,50 für 1000 und 2 für mehr al» 1000 km. Für dringende Gespräche werden die dreifachen Gebühren erhoben. Ferner erstrecken sick die Reformen auf den Zeitungstarif. Die neue ZeitungS- gebübr setzt sich zusammen aus einer Grundgebühr, die 2 »f für jeden Monat der BezugSzeit beträgt; dazu kommt die Erscheinungsgebühr von 15 jährlich für daS wöchentlich einmalige Erscheinen und 15 für jede weitere Ausgabe in der Woche und schließlich die GewickiSzebübr: 10 jährlich für jede« Kilogramm deS Jahresgewichts unter Bewilligung eines Freigewichts von 1 Kilogramm für soviel Ausgaben, wie sie der Erscheinungsgebüdr unterliegen. Die Beförderung von Zeitungen durch expresse Bolen bleibt unbeschränkt gestattet. Die Presse erörtert natürlich die Beseitigung deS ArbcitS- schutzgesetzes, je nach dem Parteistandpuncl in verschiedener Tonart. Wenn man aber von den rein gouvernementalen Organen absiebt, die von dem alten Reckte Desjenigen, der einen Proceß verloren hat, Gebrauch machen, so zeigt sich bei den Freunden eines wirksameren Schutzes der Arbeitswilligen große GemütbSruhe. Selbst die „Nordd. Allz. Zrg." schließt sich hiervon eigentlich nickt aus. Aus ihrem Nachrufe klingt leise, aber vernehmlich daS Wort, mit dem Herr von Köller seiner seits den Fall der Umsturzvorlage begleitete: „Wenn nicht, denn nicht". Die „Kreuzztg." schwenkt ohne Tbräne auf den Boden der friedlichen Verständigung, wie ibn die social politischen AnträzeHeyl-Bassermann bereiten möchten, hinüber, und der gleichfalls konservative „NeichSbote" zeigt viel Ver- stänvniß für die Erwägungen, die zur Ablehnung selbst der CommissionSberathung geführt haben. Am schärfsten und unter den rücksichtslosesten Angriffen auf die Gegner waren bekanntlich die „Berl. Reuest. Nachr." für die Vorlage ein getreten. Aber auch dieses Blatt sucht die Schuld des Mißlingens nicht mehr beim Parlamente, sondern bei den großen von der Regierung begangenen Fehlern: dem großen Zwischenräume zwischen Oeynhausen und der Einbringung de» Gesetze», dem Verzicht auf Sondirungen im Parlament, dem Anflicken de» ZuchthauSparagrapben, der Zersplitterung der Kräfte durch fast gleichzeitige Inangriff nahme deS Arbeitsschutzes, einer umfassenden Canalpolitik und der Flottenverstärkung. DaS ist ein Theil der Einwendungeu, die mit unS zahlreiche von der Notbwendigkeit eines ver mehrten SckutzeS gegen den StreikterroriSmuS über zeugte Politiker und Zeitungen vor dem unvermeidlichen kläglichen Endergebniß gemacht haben. Auf den andern Theil jener Einwendungen gehen wir nicht mehr ein. E« ist ein heikles Capitel und eS würde gar nickt» nützen. Die höchsten Beamten deS Reiche» und Preußens haben einen schweren Stand; da» zu leugnen, wäre Tborheit und Un gerechtigkeit. Aber sie vermögen auch innerbalb deS ihnen belassenen Spielraum» nichts zu lernen, geschweige Gelerntes zu verwertben. Mag sein, daß die zuständigen Reicksämter nach der Oeynhausener Rede nicht» Anderes provuciren durften, al« daS,womit sie den Reichstag überraschten. Aber e» war ihnen gewiß nicht verwehrt, vor der zweiten Lesung mit den großen Parteien sich ins Benehmen zu setzen. DaS unterblieb. Gras PosadowSky zankte und lamentirte am Montag im Reichstag über die Verweigerung einer Commissions- berathung, nachdem eine folche Beratbung abgelrhnt war. Später meinte er, in einer Commission hätte die Regierung vielleicht auch zu Zugeständnissen in Bezug auf die Coalitionsfreideit, also auf einen Standpunkt, den der große, der Abwendung deS CoalitionSzwangeS wie der Sickerung der Gleichheit im ArbeilSkampfe geneigte Tbeil de» Reichstags einnimmt, gelangen können. Warum ist da» nicht vorher gesagt worden? DaS „ZuchldauSgesctz" wäre natürlich auch dann nicht angenommen worden, aber eine schwere Niederlage wäre der Regierung erspart geblieben. Angesichts de« Verhalten» der Regierung bemerkt man mit Unrecht, der Reichstag hätte die Autorität der Regierung gegenüber der Socialdemokratie wenigstens so weit schonen sollen, daß er die Vorlage an eine Commission verwies. An sich ist die Autorität schon kein Lickt, das eine Regierung von einem andern Körper borgen kann, sie muß es selbst ausstrahlen. Aber alles dies bei Seite gelassen: eine Regierung, die ihre Autorität bedroht sieht und nichts zur Abwendung ver Gefahr thul, al« mehr oder minder zweckwidrige Zeitungs artikel versenden zu lassen, eine Regierung, die angesichts einer ihr drohenden schweren Niederlage sozusagen in den Tag hinein lebt, einer solchen Negierung kann kein Parlament der Well ihr Ansehen erhalten. Auf den schweren Fehler deS Znvielthuns in der Streikbekämpfung hat man den nicht minder schweren deS ZuwenigthunS in Bezug auf die Rettung de» Reltungsfähigen in der Vor lage gepfropft. Da war nickt zu helfen. Von einem Triumphe der Socialdemokratie kann übrigen» keine Rede sein. Die NkgierungSvoilage ist von Parteien, die im Reichstage vollzählig an 80 Mitglieder stark sind, ange nommen und von bürgerlichen Parteien, die zusammen 260 Abgeordnete umfassen, abgelehnt worden. Diesem Vcr- hältniß gegenüber spielt der Hinzutritt von weniger al» 60 Socialdemokraten zur letzteren Gruppe gar keine Rolle. Die Regierung ist von der übergroßen Mehrheit der bürgerlichen Parteien geschlagen worden, nicht von der Socialdemokratie. DaS ReichStagSvotum ist der Ausdruck der Ueberzeugung, daß auch vie nicht ocialdemokransche Arbeiterschaft mit den Bestim mungen der Regierungsvorlage nicht belastet werden wolle und dürfe; wa» der Socialdemokratie von der Abstimmung zu Gute kommt, ist eine Gabe, die sie von der übergroßen Mehrheit de» Bürgerthum» empfängt. Da« Cent rum, darüber ist man sich während und nach den Verhandlungen vom Montag klar geworden, har sich zu seiner rein negativen Haltung bestimmen lassen, weil die Mehrheit seiner Mitglieder nicht wagte, im Anschluß oder auS Anlaß dieser Regierungsvorlage dilatorisch zu verfahren. Es mußte au» Rücksicht auf seine Wähler aus der Arbeiterschaft auf den Plan verzichten, auch nur eine Weile, bi» zu einer etwaigen Auflösung de» Reichstag» wegen der Flotte, die „Zuchthaus vorlage" durch seine Mitwirkung bestehen zu lassen, um dann bei Wahlen diese Vorlage gegen die Marine auSzuspielen. Die Ungeduld war so groß, daß da» Centrum befürchten mußte, seine Anhänger würden nicht einmal scheinbar Versuche zur Erkaltung de» Regierungs gebilde» ungestraft lassen. Findet sich aber im Centrum für Marineforderungen eine Mehrheit, so kann diese, wie wir schon bemerkt haben, ein zustimmende» Votum nur wagen, wenn sie sich gänzlich „unverworrea" mit der Zuchl- Haus-Action gezeigt hat. Die dieser Tage in der „Germania" wiederholt erhobene Forderung, „wenigstens eine einzige Niederlassung deS Jesuitenordens zur Ausbildung von jungen Männern, welche später deutschen Colonisten in fernen Zonen geistliche und geistige Hilfe bringen sollen", auf deutschem Boden zu genehmigen, unterstützt die Annahme, daß die Neigung zur Bewilligung von Marineforderunzen im Centrum vorbanden sei. Eine Regierung, die den Namen verdient, braucht sich jedoch auf rin solcke» Geschäft nicht rin- zulassen. Nachdem die Klerikalen nicht wagen dursten, die Wahlparole „Gegen Zuchthaus und Flotte" zu präpariren, mußten sie unter Umständen, ähnlich denen der SeptennatS- waklen, in die etwa doch nöthig gewordenen Neuwahlen ein, treten. Uud das haben sie zu scheuen — falls oben nicht grobe Fehler gemacht werden. Gegenüber den Bemerkungen, die an daS Unterbleiben jeder Erwähnung der italienischen Unterhandlungen mit China in der Thronrede deS König» Humbert ge knüpft wurden, constalirt eine der ofsiciösen „Pol. Corresp.", auS Rom zugeheude Miltherlung, wie schon kurz berichtet, Folgendes: Seit der Wiederherstellung normaler diplomatischer Beziehungen zwischen Italien und China durch die Entsendung des Marchese Sal- vago-Naqgi nach Peking ist die Frage territorialer Zugeständnisse nickt mehr berührt worden. Tas römische Cabinrt hat jeden Gedanken einer Besitzergreifung aus chinesischem Boden aus gegeben, und zwar euerseits in Hinblick auf die Haltung der öffent lichen Meinung in Italien, welche gegen jede Politik colonialer Expansion aufs Entschiedenste Stellung genommen hat, andererseits auch mit Rücksicht auf England, dem eine dirrcte Intervention Italiens in den chinesischen An gelegenheiten nur in geringem Maße erwünscht zu sein schien. Italien hätte über eine hinreichende maritime Kraft in den ostasiatischen Gewässern verfügt, um eventuell seinen Willen beim - Tsungli-Iamen durckzusetzen. Aus Len Largelegte» Gründen har ' eS aber darauf verzichtet und seine Action auf gewisse Forderungen commrrciellen Charakters eingeschränkt. Die besondere Erwähnung dieser aus ein solches Maß reducirter Verhandlungen in der Thron rede würde dieser Angelegenheit eine ihr nicht zukommende Do ' deutung verliehen haben. An der schließlichen Annahme der italienischen Forderungen durch die chinesische Negierung wird in Roin nicht gezweifelt. Das wäre also der zweite große Dortbeil, den Italien von seiner Freundschaft mit England hat! Erst hat englische „Staatskuust" Vie Verbiinveteu auS ihrem afrikanischen Besitz herauSmanövrirt, indem sie dieselben auf den NeguS Menelit beyte und sie dann im Sticke ließ, und jetzt muß Italien auf territorialen Erwerb in China verzichten und sich vom Tsungli-Uninen vor die Thür setzen lassen, weil England eS so will. Man wird sich erinnern, daß Italien von der Anwendung eine» Druckes mit bewaffneter Hand auf China gleich zu Anfang absah, weil man in Nom einen Wink aus Loudon erhalten hatte, der ganz offen zu verstehen gab, die Italiener möchten sich nur gedulden, Englano werde schon zur geeigneten Zeil die römischen Wünsche befürworten. Jetzt hat man das Resultat Weser „Befürwortung". Der Krieg in Südafrika. —p. Heute gewinnt man endlich etwas mehr Klarheit über die Lage in Natal. Wir schicken das folgende besonders wichtige Telegramm voran: * Loureuco Marques, 22. November. („Reuter s Bureau" ) Eine vom gestrigen Tage daiirte Lepesche aus vrm Hauptquartier Per voeren besagt: Der Keld- cornet des Kommandos von Pretoria meldet, daß in der Feuilleton. lüj Das Pflegekind. Roman von Elsbeth Meyer-Förster. Nachdruck v,rbot<n. Ein Gedanke blitzte in ihr auf, er trieb ihr ein glühendes Roth der Erregung ins Gesicht. Fliehen — den Zug besteigen! Nach Berlin zurück, in dieses Meer des bewegten Gebens, wo es ihr jetzt endlich gelingen mußte, obenauf zu kommen! Sie hatte ihre Probezeit jetzt hinter sich, sie würde Engagement an einem der unzähligen, größeren Specialitiiten-Theater bekommen; ihren Vorstellungen hastete nun nicht mehr das Dilettantenhafte an, das sie zu Stanioli und seiner Truppe getrieben hatte; sie konnte, das fühlte sie, auch vor einem anspruchsvollen Publicum bestehen. Und sie würde Mr. Seitre nicht mehr sehen! Ein heißeres Roth noch flammte auf ihren Wangen, ihre Hände krampften sich. Nicht mehr in diese kalten, verächtlich blickenden Augen sehen, di« sie eben so gleichgiltig gemessen hatten, nicht mehr dieses Herzklopfen empfinden, wenn die Trapezkünstlerin von drüben vertraulich zu ihm sprach, — nicht mehr diesen ohn mächtigen Schmerz erwachter Liebe!!! Liebe!!! Sie sagte sich das Wort mit Zittern und Beben, mit Haß und Zorn und Verachtung gegen sich selbst erfüllt. „Ich kann nicht bleiben, — ich kann ihn nicht Wiedersehen!" schluchzte sie vor sich hin. Sic schloß das Fenster, ging auf und ab, und sie fühlte, wie alle die Gründe, die sic sich vorher für ihr Fliehen plausibel gemachl hatte, in nichts zerfielen, und daß eS Angst war, unend liche Angst vor dieser plötzlich erwachten, hoffnungslosen Leiden schaft, wa» sie bei Nacht und Nebel ans Davonlaufen denken ließ. „Nein! Nein!" flüsterte sie erregt. „Es wäre eine Schande — und so stolz bin ich noch, daß ich mich nicht mit den Gedanken an Einen hänge, der mich nicht will." Trotzig, den Kopf zurück geworfen, stand sie da. „Aber ich kann nicht bleiben!" schoß eS ibr plötzlich wieder heiß durch'» Herz. Sie ging an ihren Reise koffer. der schon für den morgigen Aufbruch gepackt stand, und schloß ihn en.'rgisch ab. „Ob ich will oder nicht!" sagte sie laut, al» spräche sie zu einer Anzahl Menschen, „ich muß mir einen neuen Hahn besorgen, — morgen Abend würde ich nur von Neuem Spott einernten — für jeden Fall muß ich reisen." Und dies« gegen sich selbst gebraucht« Ausrede setzte sich sofort in ihr wie plwas Unumstößliches fest. Es wollte ihr einfallen, daß sie den noch in keinem Bildungsgang begriffenen Hahn schlimmsten falls auf jedem Dorfe unterwegs erhandeln könn«. Aber rasch wies sie diesen Gedanken ab: „Die Berliner Hähne sind doch ganz etwas Besonderes", sagte sie sich eigensinnig; „ein ge wöhnliche? Dorfhahn hätte nie erlernt, was mein guter alter konnte. Ich werd« wieder zu meiner Federviehhändlerin gehen und mir dort ein Thierchen aussuchen." Als fielen ihr Bergeslasten von der S«ele, so frei ward ihr zu Muthe, als sie nunmehr ihren Fluchtplan ins Werk zu setzen begann. Jrvstmctmäßig fühlt« sie, daß, wenn sie sich aus dieser Liebesaffäre noch zu rechrer Zeit zu rett«n wußte, sie auch mit der Leichtheit ihi«r Natur alSbalid diese ersten Schmerzen ver gessen würde. Zum evst«n> Mal im Leben hörte sie auf di« War nung, die ihr besseres Ich ihr zuries; sie ahnte, daß sie in einer Gefahr stand, die größer und tiefer war, wie bisher jede andere in ihrem unbeschlltzten Dasein. Daß Mr. Seit« sie mit dem magnetischen Blick seiner kalten grauen Augen würde verderben können, und daß das einzige Heil in der Flucht zu suchen wäre. Sie öffnete leis« die Kammerthür und trat in d«n Hof hinaus. Den kleinen Reisekorb schleppte sie in beiden Armen. Alles war dunkel, verschlossen und still. Aber sie wußte, wohin sie sich zu wenden hatte. Mit dem Korbe im Arm schlich sie sich am Wirthshause vorbei; durch die niedrigen Fenster sah sie ihre College» und Colleginnen beim Kartenspiel eifrig um den Tisch versammelt — Mr. Seitre war nicht mehr dabei. Sie schleppte den Korb mit aller Kraft quer über den Hof, den im Hintergründe schon ganz in Dunkelheit und Stille ge legenen Ställen zu. Durch einen der herzförmigen Ausschn-itte eines großen, schwarzen Thore» schimmerte noch Licht. Sie näherte dem Spalt die Lippen: „Ist hier noch Jemand wach?" Sofort ertönte von innen da» leise Klirren einer Halfterkette. Zugleich hörte Nettchen die Stimme de» Knechte», die be ruhigend „hola! nur hola!" rief. Darauf kam da» Schlürfen der ausgetretenen Lederpantinen auf die Thür zu, und der Knecht, der die Angewohnheit hatte, auf der Futterkiste beim Putzen de» Riemenzeug«» einzuschlafen, anstatt zur rechten Zeit sein Lager aufzusuchen, erschien schlaftrunken im Rahmen der Thür. „Ich muß Sie ansstoren", sagte Nettchen, indem sie eilig durch den geöffneten Spalt in den Stall eintrat. „Und ich wollte Sie um einen großen Gefallen bitten, lieber — wie heißen Sie doch?" „Karl", sagte der Knecht mit scheuer Stimme. „Also Karl!" nahm Nettchen in fliegender Hast ihre Rede wieder auf. „Sehen Sie, Karl, ich bin gezwungen, heute Nacht noch von hier abzureisen mit dem Zuge, der in anderthalb Stunden über Halle nach Berlin abgeht. Aber weil man mich nicht so gleich fortlassen würde — ich habe Contract mit dem Herrn Direktor —, muß ich mich heimlich entfernen. Wollen Sie mir nun behilflich sein, daß ich meine Sachen nach der Bahn bekomme?" Der Knecht stand da, in blöder Haltung, das Licht der Laterne, die er trug, schwälte zu seinen rothen Fingern aus. . Das werd« ich wohl nicht dürfen!" sagte er, indem er auf die Wand starrte. „Es könnt« mich meine Stelle kosten." „Ich gebe Ihnen zwei Thalcr!" rief Nettchen, die vor Unge duld zitterte. „Mein Gott, Sie helfen ja doch bei keiner Misse- that! E ist doch nur daS gute Recht jedes Menschen, daß er davon geht, wenn es ihm dort, wo ihn das Schicksal gerade hing'-neben, zu eng und zu angstvoll wird." Etwas von der Herzensangst, die sie antrieb, war in ihre Worte getreten, hatte den Ausdruck derselben gesteigert. Der Knecht stand noch immer in derselben Haltung da. Ein blödes, traumhafter Lächeln ging über seine Züge. „Ja!" sagte er, „fort, wo's Einem nicht mehr wohl ist. Wenn man das könnte!" „Und warum nicht?" rief Nettchen lebhaft aus. „Man soll nicht thun, waS Einen quält! Man muß nur den Muth zu Allem haben, dann wird's schon gehen." „Dann wird'- schon gehen", wiederholte mechanisch der Knecht, indem er nach der Halfterkette des immer noch unruhigen Pferdes griff und langsam den Kopf des Thieres zu sich heran zog. Es lag etwas Sanftes in dieser Bewegung, und seine Stimme klang ergeben, als er jetzt hinzufügte: „Also was soll ich Ihnen helfen, Fräulein?" „Sie müssen mit mir nach dem Bahnhof", sagte Nettchen. „Außer diesem Korbe hier habe ich noch einen zweiten, in welchem ich meine obgerichteten Vögel unterbringe. Er steht in dem kleinen Verschlage über meinem Gefliigrlstall. Diese beiden Körbe müssen wir auf Ihre Karre nehmen. Rasch, ehe die Anderen herauskommen. Dann kann es fortgehen." Langsam fuhr sich der Knecht mit der Hand in da» Haar, unschlüssig, als hielten ihn noch neue Bedenken. „Das wird morgen ein schönes Halloh geben", sagte er, „wenn mein Herr von der Sache erfährt." — „Aber Ihrem Herrn kann ja gar nichts daran gelegen sein!" rief Nettchen, heftig vor Ungeduld. „Was geht es den an, ob eins von der Truppe eine Nacht früher reist als die Anderen — unsere Rechnung ist beglichen. Sie haben es ja selbst gesehen, und ich sage Ihnen doch, daß ich ja nur fortlaufe, weil ich mich so unglücklich fühle." Der Knecht blickte sch«u in das erregt« Gesicht. „Na, denn mag's losgchen", sagte er. Er setzle die Laterne auf di« Erde, warf sein« Nachtjacke ab und fuhr in sein« wollen« Joppe. Dann holt« er aus einer Eck« des Stalles einen Ballen Schnur, hing die Laterne an einem Haien unter der Decke auf, warf noch einen prüfenden Blick über die schlafend am Boden liegenden Pferde, packte eine alte Schiebkarre, deren Gurte er sich über die Schulter legte, und folgte Nettchen auf den dunklen Hof hinaus. Eilig, doch leise schritten sie dem vom Hause etwa- entfernt stehenden, grünen Artistenwagen zu, ächzend unter der Last von Korb und Karre. „Durch den Hof können wir mit der Karre nicht zurück", sagte der Knecht. „Das Quietschen der Räder würde unsere Leute aufmerksam machen. Halten Sie mir, wenn Sie so gu: sein wollen, einen Augenblick die Strick«. Ich will nur Licht wachen." — Er zog Streichhölzer aus der Tasche, die er an seinem Beinkleid rieb, und erleichtert sah Nettchen aus das Auf blitzen, das ein«n schwach«» Lichtschimmer verursachte. Der Knecht steckte nun di« am Kütschsitze der Arche Noah angebracht« Wagenlatern« an. Sofort erhob da» Beffu^el, in deren enges Verließ durch die Wandspalten der fahle Schimmer hindurchdrang, ein lebhaftes Geschnatter; in der Meinung, es sei bereits Morgen und die Zeit des ersten Frühstück» gekommen, begann in dem im Wagen befindlichen Stallchen ein wildes Flügelschlagen. „Wir müssen uns eilen", sagt« der Knecht, „und sie beim Kopf kriegen, sonst schreien sie den ganzen Hof in Aufruhr." Nettchen hatte bereit» die Thür de» Stallverschlage» ge schloffen. „Ruhe!" rief sie mit unterdrückter Stimme in da» Gefängniß hinein. „Wer hier noch schnattert, wird aufge- hangen. Geht, seid vernünftig, wir reifen jetzt zu Besuch bei Großmama'»." Und beschwichtigend, al» spräche sie zu kleinen Kindern, überstürzte sie sich in gütlichem Zureden» während sie Vogel um Vogel beim Schlafittchen erfaßte und in den Korb warf, den der Knecht ihr au» dem verschlage heruntrrgelanqt hatte. (Fortsetzung folgt.)
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