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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.12.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-12-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991201023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899120102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899120102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-12
- Tag1899-12-01
- Monat1899-12
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In seiner gestrigen, in Leicester ge- haltenen Rede sagte der Minister Chamberlain noch Folgende-: England habe Schwierigkeiten mit Deutschland gehabt, jedoch habe England Interessen mit Deutschland ge- mein. Ei^e Verständigung zwischen der germanischen und der angelsächsischen Rasse erhalte mehr, als Armeen den Frieden der Welt. England sei eine Zeit lang daran ge- wöhnt gewesen, daß die Schmähungen der ausländischen Presse so weit getrieben wurden, daß selbst nicht die fast geheiligte Person der Königin verschont wurde. Die durch die Angriffe auf die Herrscherin hervorgerufene natürliche Entrüstung würde ernste Folgen haben, wenn Englands Nachbarn sich nicht mäßigten. Man habe Anlaß, sich zu beglückwünschen, daß die schlimmsten Ausschreitungen nicht in der deutschen Presse erschienen seien. Die neue Tripel-Allianz zwischen der germanischen Rasse und den zwei großen Zweigen der Angelsachsen stelle einen mächtigen Einfluß dar in der Zu« kunft der Welt. Er habe das Wort „Allianz" gebraucht, es »er- schlage aber wenig, ob es eine auf dem Papier niedergelegte Allianz oder «in Einverständniß sei, das im Geiste der Staats männer der betreffenden Länder vorhanden ist. Ein Entschluß, die Beweggründe jener, mit denen England auf dem Freundschaft-suße zu stehen wünsche, günstig anzusehen, würde ein ungeheuerer Bortheil für beide Nationen und auch ein Vortheil für andere Nationen sein. England muß es nach diesen „Offenbarungen" dringlichst nöthig haben, der Welt zu verkünden, daß es „auch" alliirt ist und darum keinen Gegner zu fürchten braucht. In der That ist seine Lage gegenwärtig eine ziemlich prekäre. Zieht eS in Südafrika den Kürzeren, so ist sein Prestige in die Brüche und eS wird Mühe haben, sein ungeheures Colonial reich, vor allem Indien, in Ruhe zu halten, ganz abgesehen davon, daß seine Concurrenten, Frankreich und Rußland, dann den Augenblick für die Abrechnung gekommen erachten dürften. Siegt England dagegen und führt aus, was Chamberlain ankündigte, die Annexion Transvaals und des OranjefreistaateS, so ist vorauSzusehen, daß die beiden genannten Mächte ihm dabei in die Arme fallen werden; wenigstens sagt dies die Pariser Regierungs presse anläßlich der Rede deS Ministers ganz offen. Für beide Fälle rechnet England auf gute Freunde, die seine Ge schäfte besorgen helfen, d. h. in erster Linie auf Deutschland. Ihm daS zu verwehren, haben wir kein Recht und keine Ur sache; wobl aber müssen wir mit aller Entschiedenheit gegen die Praktik Cbamberlain'S Front machen, welche die Sache so dar stellt, als sei schon eine deutsch-angelsächsische Allianz, oder, wie der Londoner Diplomat sich ausdrückt, ein Ein verständniß im Geiste der betreffenden Staats männer vorhanden. Bisher war eS nur die englische Presse, welche dies behauptete, und so lange brauchte man damit noch nicht als mit einem realen Factor der Weltpolitik zu rechnen. Jetzt aber, wo einer der hervorragendsten aktiven eng lischen Minister die Entente „im Geist", in welche Deutsch Feuilletsn. i7j Das Pflegekind. Roman von Elsbeth Meyer-Förster. Nachdruck verboten. Ihre Augen wanderten in der Runde. Plötzlich rissen sie sich weit auf, als sähen sie etwas Unfaßbares. Mit einem Sprunge war Nettchen an dem grauen Bretterwagen, der zur Hälfte unter dem Schuppen, zur Hälfte unter freiem Himmel stand. Sie riß das Blechschild empor, das mit eisernen Bändern an den Pfosten der äußeren Wagenwand befestigt war; auf der ver bogenen Platte stand in großen Buchstaben: „Wittwe Pilz. Federviehhändlerin." Wittwe Pilz! Die Frau, bei der sie einst gelebt hatte! Nett chen konnte es nicht glauben! Wittwe Pilz, die freundliche Markthändlerin, bei der sie ihre Artistencarriere begonnen hatte! Konnte es möglich sein? Konnte der Zufall, die Fügung des Himmels ihr diese große Ueberraschung zufllhren wollen? Sie lief durch das Gartenland zurück, zum Chausseerand, an da- kleine, baufällige Haus heran, hinter dessen Stacketzaun her vor ab und zu ein verschlafenes Schnattern und Glucksen hervor tönte. Dort die kleinen, niedrigen Baracken, das waren die Gänse- und Hühnerställe, diese vielen, im Hofe aufgestapelten, leeren Strohgeflechte mit dem häuschenartigen Aufbau waren die Brutkörbe, die Nettchen so gut kannte! Sie schlich sich bis an die Hausthür, studirte das kleine Por- zellanschild, das dieselbe Firma wie der Wagen nannte, und war nun ganz beruhigt. — Dann setzte sie sich auf die THUrschwelle, lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen. — Heimathsgefllhl umgab sie wie eine wohlige, laue Atmosphäre. Nun war sie geborgen, nun brauchte sie nicht mehr auf der Straße umher zu irren. Mutter Pilz würde ihr weiter helfen! — Eine halbe Stunde später wurde die Markthändlerin von ihrer Nichte Hedwig geweckt. Hedwig war seit einem Jahre verwaist und von ihrer Tante in Kost und Wohnung ausgenommen; sie war ein magere-, halb verwachsenes Mädchen, mit einem energischen Zwergenkopf und struppigen Locken. — „Tante", flüsterte sie, „eS muß Jemand in den Hof geschlichen sein. Der Pluto winselt wie toll." „Drei Pfund schwerer", murmelte die Tante, die in festem land mit inbegriffen ist, vor der breitesten Oeffentlichkeit ver kündet, ist eS höchste Zeit, von den leitenden deut schen Staatsmännern zu verlangen, daß sie, gleich falls öffentlich, erklären, ob Chamberlain berechtigt oder gar ermächtigt war, so zu sprechen, wie er gesprochen hat. Andernfalls muß man in Paris und Petersburg annehmen, daß die deutsche Politik eine radikale Schwenkung gemacht habe, die man an den genannten Stellen nur als gegen Rußland und seinen Verbündeten gerichtet bewerthen wird. Dies umsomehr, als Chamberlain seine Leicester Rede in dem Augenblicke hielt, als der deutsche Kaiser England verließ. Kaiser Wilhelm hat Werth darauf gelegt, daß seine Reise über den Canal mit der Politik nichts zu tbun habe, und er hat dafür gesorgt, daß auch der Schein deS GegentheilS vermieden werde. DaS Auftreten Chamber- lain'S, dem eS darauf ankommen mußte, gerade im Gegen- theil auS der Anwesenheit deS Kaisers politisches Capital zu schlagen, sieht demnach geradezu wie ein gegen diesen ge richteter, seineAbsichten inSGegentbeil verkehrende Schachzug auS. Auch in der amerikanischen Presse ist von London auS ein perfider Versuch in dieser Richtung gemacht worben. Der „Berl. Local-Anz." erhält folgendes Telegramm: * London, 30. November. Der Londoner Correspondent deS „New Pork Journal" telegraphirte seinem Blatt, er habe am Abend vor der Abfahrt deS Kaisers in Sheerneß den Staatssekretär v. Bülow gebeten, ihm »ine Botschaft des Kaisers an Amerika zu verschaffen. Hierauf habe ihm der Botschaftssekretär v. Eckhardtstein bei seiner Rückkehr von der „Hohenzollern" folgende Botschaft aus gehändigt: Ich bin vom Kaiser am Vorabend seiner Abreise ermächtigt zu sagen, daß der Besuch in England dem Kaiserpaare das größte Vergnügen bereitet hat. Nicht nur hat ihnen der Besuch bei der Königin und dem Kronprinzenpaare von Wales hohe Freude gemacht, sondern auch der Besuch in Blenheim hat ihnen große Befriedigung gewährt, während die Beweise des allgemeinen Wohlwollens des englischen Volkes tiefen Eindruck auf sie machten. Der Kaiser wie seine Minister bekunden auch gern das freundschftliche Interesse, welche» er stet- für daS Volk Amerika» gehegt, dessen industriellen Fortschritt und nationale Energie schon lange seine höchste Bewunderung und Achtung hervorriesen. Fall- der Besuch des Kaiserpaares in England irgend etwas zur Be- festigung der brüderlichen Beziehungen zwischen diesen Völkern beigetragen habe, würde es Allen Genug thuung bereiten. In der deutschen Botschaft in London wird hierzu erklärt, der Kaiser habe privatim seine hohe Befriedigung über seinen Besuch in England, sowie sein Wohlwollen gegen Amerika ausgedrückt, aber eine Mittheilung dieses Inhalts an daS amerikanische Volk sei als direct vomKaiser kommend Niemandem gegeben worden. — Wir warten nun auf ein bestimmtes autorita tives DeSaveu C.hamberlain'S von deutscher Seite. WaS schließlich den Mangel an Ehrerbietung anbetrifft, den das Ausland der Königin Victoria in der letzten Zeit entgegengebracht haben soll, worüber Chamberlain sich so arg in seinem monarchischen Gefühle verletzt fühlt, so hätte er wahrhaftig besser gethan zu schweigen, denn es ist noch in Aller Erinnerung, daß Angehörige des deutschen Kaiserhauses in England aufs Unfläthigste empfangen worden sind, und die hochmüthige schulmeisternde, nicht selten weg werfende, Sprache, welche die englische Presse noch bis vor Schlafe lag und sich in der Centralmarkthalle glaubte. „Kopf und Beine leg' ich noch dazu als Gänseklein." „Tante, ich bin hier, die Hedwig", sagte das junge Mädchen unmuthig, „wach' doch auf, 's ist -Jemand auf'm Hofe." Allein Wittwe Pilz erwachte nicht. „Frau Pilz! Ach machen Sie auf! Der Hund wird so wild, er reißt sich am Ende noch los!" tönte eine zitternde weib liche Stimme von draußen. Hedwig warf ihre schwarzen Locken zurück, Erstaunen flog über ihr Gesicht. Sie ging an die Thür und öffnete. Nettchen stand vor ihr. Hedwig leuchtete ihr ins Gesicht. „Ach verzeihen Sie", flüsterte Nettchen, indem sie sich angstvoll hinein drängte. „Ich — ich bin eine alte Bekannte von Frau Pilz, — und habe kein Obdach — und —" „Man ruhig", sagte Hedwig begütigend, „ich glaub's Ihnen schon, so was kmnmt vor." Mit stillem Hantiren rückte sie der Erschöpften einen Stuhl hin, ging an das Bett zurück und rüttelte die Tante nun mit Anstrengung auf. Frau Pilz erwachte, aber der Ergänz, die Augen aufzu machen und sich emporzurichten, hatte etwas so Hilfsloses an sich, daß Hedwig noch weiter thatkräftig eingreifen mußte, um die sonst recht robuste Tante völlig zu ermuntern. Die Wittwe war es noch immer gewöhnt, in der Frühe um 4 Uhr aufzustehen, und ihr Schlaf gegen die Morgenfrühe hin war deshalb ein-so schwerer, als wolle sie sich in ihm für die Stunden entschädigen, die sie ihren Nächten stehlen mußte. Ohne weitere, vorbereitende Worte nannte Nettchen ihren Namen und erzählte leise ihr Schicksal. Die Frau im Bette, der wie ein hochgesträubter Hahnenkamm die Nachtmütze auf dem Kopfe saß, hörte schlaftrunken zu, und mußte sehr tief in ihr Ge- dächtniß zurückgreifen, um sich zu dieser müden Stunde des ehe maligen Zöglings zu erinnern. Aber Hedwig, die ab und zu ging und im Nebenraume an der Erde inzwischen ein Lager zurecht gemacht hatte, half ihr auf die Gedanken, indem sie da zwischenwarf: „Das Fräulein, von dem Du mir so oft erzählt hast, Tante. Die mit den dressirten Gänsen. Fräulein Nettchen, Tante, von damals, als Du noch in der Köpenicker Straße wohntest." Endlich dämmerte eS der Wittwe — dcr Rest der Ver schlafenheit wich. „Ach, die Nettchen — aus der Köpenicker Straße, jajaja — is et woll möglich!" Und nach der Schifferuhr schauend, welche die dritte Morgenstunde zeigte, wurde sie nun pflichtgemäß völlig munter. „Na da jebt mer nur meine Röcke herüber — und dir Strümpfe, Ihr Mächen-. Also Nettchen Brinkmann, — sieh, Kurzem dem deutschen Kaiser selbst gegenüber für angezeigt und selbstverständlich dielt, war weit beleidigender, als die Caricaturen, die, vornehmlich in französischen Witzblättern, der Queen eine bisher nicht gekannte Popularität verliehen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 1. December. Die gestrige Fortsetzung der zweiten Lesung der Gewerbe ordnungsnovelle im Reichstage brachte endlich die Entscheidung über den umstrittensten Tbeil des ganzen Ge setzentwurfs, über die Frage deS LaVcnschluffeS. Ein fakul tativer Ladenschlußzwang war bekanntlich schon in der Re gierungs-Vorlage enrhalten gewesen, und zwar in der Weise, daß auf Antrag von mindestens V» der betheiligten Geschäfts inhaber — je nachdem eines einzelnen oder aller Geschäftszweige — die höhere Verwaltungsbehörde nach Anhörung der Gemeinde- behörvefür den einzelnen »esp.alleGeschäflSzweige den Ladenschluß von 8—6 Uhr oder von 9—7 Uhr sollte anordnen dürfen. Die Commission hatte hier wesentliche Verschärfungen vorge nommen. Sie batte einmal in den Rahmen dieses fakulta tiven Ladenschlußzwanges auch eine Schließung „um die Mitte deSTageS" eingereiht; sie hatte außerdem schon ein einziges Drittel der Betbeiligten für berechtigt erklärt, die höhere Verwaltungsbehörde zur Herbeiführung einer Abstimmung der Interessenten über einen Ladenschluß- Autrag zu veranlassen; und vor Allem hatte die Commission einen neuen Paragraphen beschlossen, welcher den Laden schluß in obligatorischer Form ausspricht für die Zeit von 9 Uhr Abends bis 5 Uhr Morgens. Die Debatten über diese einschneidenden Bestimmungen waren ebenso lebhaft wie ausgedehnt, zumal da eS an Anträgen, die theilS noch über die Commissionöbeschlüsse binauSgehen, theilS aber auch auf die Regierungsvorlage zurückgreifen wollten, nicht mangelte. Der weitestgehende Antrag war begreiflicher Weise von den Socialdemokraten gestellt, er verlangte den obligato rischen gesetzlichen Ladenschluß ganz allgemein für alle Gewerbe nicht nur von 9 bis 5 Uhr, sondern sogar schon von 8 bis 5 Uhr. Ebenso begreiflich ist eS, daß dieszr Antrag fiel. Kür ihn traten ausschließlich die Antragsteller von der alleräußersten Linken ein, da unter den bürgerlichen Parteien selbst die enragirtesten Socialresormer eS als ein gar zu gewagtes Stück ansehen, mit den be stehenden Gepflogenheiten im BerkehrSleben gleich einen so totalen Bruch zu vollziehen. Von der genau entgegengesetzten Seite, von rechlS, wurde einfache Wiederherstellung der Re gierungsvorlage verlangt, also Verzicht auf jeden obli gatorischen Ladenschluß um 9 Uhr (ohne Mitwirkung der Betheiligten) und Streichung auch des facultativen Laden schlußzwangs für die Mittagszeit. Hierum hauptsächlich, ob Commissionsbeschluß oder Regierungsvorlage, drehte sich der fünfstündige Kampf. Der Staatssekretär Graf Posa- dowSky, der lange gezögert hatte, ehe er eingriff, war un befangen genug, zuzugeben, daß socialpolitisch sogar ein 8-Ubr-Ladenschluß das Richtigste wäre. Aber er gab ebenso offen zu, daß sogar schon die von der Commission geforderte obligatorische Schließung aller Geschäfte um 9 Uhr eine Auf regung in weiten Kreisen von Interessenten hervorgerufen habe, die geradezu auf Erbitterung hinauslaufe. Die Regierung sei auch über diesen weitreichenden, tiefeinschneivenden Beschluß der Commission mit sich selber noch nicht im Reinen. Er für seine Person halte eS jedenfalls für richtiger, doch erst einmal eS bei der Vorlage bewenden zu lassen und abzuwarten, was die Betheiligten selber, in deren Hand doch die Sache liegen würde, thun würden. Geschehe wirklich von Seiten der bcthei- ligten Geschäftsinhaber gar nicht-, finde sich nirgends eine Zweidrittelmajorität für eine Geschäftsschließung von 9—7 oder 8—6 Uhr, so sei ja immer noch Zeit, über daS Bedllrfaiß eines gesetzlichen Ladenschlüsse« in Erwägung zu treten. Mik großer Bestimmtheit wendete sich der Staatssekretär dann noch insbesondere gegen die Idee, auch in Bezug auf die Mittagsstunde irgend einen Zwang zu beschließen oder auch nur den Be tbeiligten selber zu gestatten. Zum Schluß erfuhr die Schwierigkeit der ganzen Frage noch eine grelle Beleuchtung. Von dem wildliberalen Abg. Rösicke war ein Antrag gestellt worden, der es verbiete» wollte, daß Maaren, auf welche sich ein etwaiger „fakultativer" Ladenscbluß schon um 8 Uhr (um 9 Uhr sollen ja alle Läden geschloffen sein!) erstrecke, etwa „in anderen Verkaufsstälten" zum Verkauf kämen. Der An trag wurde erst allgemein dahin aufaefaßt, daß e« den Schankwirthen verboten sein solle, Cigarren, Wein, Bier, Schinken u. s. w. auS dem Hause, nach Eintrit der Ladenschlußzeit, zu verkaufen. Gegen diese Auffassung wehrte sich aber hinterher Herr Rösicke sehr entschieden. Er wollte mit seinem Anträge vielmehr nur sagen, daß — um den Sinn kurz darzulegen — ein Händler mit Vertrieb zahl reicher verschiedener Waarensorten zwar seinen Laden offen halten, aber diejenigen Maaren nicht verkaufen dürfe, für die etwa durch Beschluß von Ladeninhabern einer speciellen Branche der Ladenschluß 8 Uhr erklärt sei. Ein Colonial- waarenhändler würde also eventuell nach 8 Uhr zwar noch Alles, was er sonst führt, verkaufen dürfen, aber nicht mehr Butter und Käse, wenn die Butter- und Käse-Specialisten per mnjora für sich den Ladenschluß eingeführt haben sollten. Die Unmöglichkeit, einem Kaufmann zu sagen: Nach 8 Uhr darfst Du alles klebrige verkaufen, nur dies und jenes nicht, wurde vom Staatssekretär wie von anderen Rednern grell illustrirt. Gleichwohl wurde dieser Antrag Rösicke vom Hause angenommen. Und außerdem — abgesehen von dem Ladenschlüsse zur Mittagszeit, der vernünftigerweise ge strichen wurde — sämmtlicbe Vorschläge der Commission. ES bleibt also vor Allem bei dem obligatorischen Ladenschluß um 9 Uhr Abend», wenn nicht bis zur dritten Lesung ein Umschwung in der Stimmung der Reichstagsmehrheit erfolgt. Kaum ein Tag ohne neue Erfindungen orr CentrumS- prtsse zum Zwecke der Stimmungsmache gegen die Alatten- verstärkNnig! Kürzlich wartete die „Köln. Bolksztg." mit einer nicht existirenden HrereSvorlage als »Schreckbilv auf, heute bringt sie die Flottenpläoe in einen ganz falschen Zu sammenhang mit dem Bedürfniß nach einer Reichsfinanz reform. AuS der Thatsache nämlich, daß der bayerische Fiuanzminister die Notbwenbigkeit einer Reichsfinanzreform mit nicht geringerer Energie betont bat, als der sächsische Finaiizminister, folgert daS führende CentrumSorgan: „Es ist gar keine Frage, daß die neuen Marinepläue die alleinige Ursache dieses so plötzlich wieder austauchenden Strebens nach einer Reichsfinanzreform sind. Die Finanzminister sehen eben eine gewaltige Mehrbelastung des Reichsetats voraus, welche die Matricularbeiträge stark steigern wird, weit mehr als die natürliche Steigerung der Urberwrisungen beträgt." WaS für die „Köln. VolkSztg." „gar keine Frage" ist, schlägt den geschichtlichen Thatsachen inS Gesicht. Vollkommen unabhängig von den neuen Marineplänen ist die Notbwenbigkeit der Reichsfinanzreform in den letzten Jahren stets, gerade von nichtprcußischen Regierungen, betont worden, weil eine geordnete Finanzwirthschaft der Einzel staaten ohne sie nicht möglich ist. Betrachtet man diesen Sach verhalt im Einzelnen rückwärts bi« zur Einbringung deS letzten sieh, sieh. Un wie is 't denn nw so jejangen mit die Jänsc und die Enten? Aber dat Sie sich mal umsehn kommen nach uns, det is doch schön von Ihnen." In dieser geschwätzigen, ruhigen Weise ging es eine Weile fort, während Hedwig sich wieder hinaus in ihr Bett in der Küche begab und die Wittwe die Spiritusmaschine bereit stellte und Kaffee zu mahlen begann. Kerne Unterkunft nich jehabt die Nacht? Tja, ja, ja, so jeht's mit die armen Mächens, die nich Vater und nich Mutter haben, und en schlechten Mannsbild in die Hände fallen, und so war't ja auch mit Hedwigen, aber die is ja nu bei mich unterjekrochen." Nettchen sauste es in den Ohren. Sie hatte geglaubt, eine Welt von Schicksal, Unfaßbares, Unaussprechliches erlebt zu haben, und diese einfachen Leute sprachen von allen diesen Thatsachen wie von etwas ganz Natürlichem, — um das es sich nicht lohnte zu klagen. „Nur nich den Kopf hängen lassen", sagte Wittwe Pilz, „Sie waren immer so en düchtijes Mächen, — det renkt sich Aliens wieder in im Leben, und Arbeit hilft über Aliens fort!" Nettchen hörte auf die klaren, banalen und doch so lebens wahren Worte. Sie sah in das gutmllthige, von Mühe und rast loser Arbeit gleichsam durchfurchte Gesicht, und Ruhe senkte sich wieder in ihr Gemllth. — Die Sonne ging auf, und in dem kleinen Stübchen, dessen Fenster aufs grüne Ackerland blickten, irrte der erste, schwache Schein über den blankpolirten Eßtisch. Die Kaffeekanne dampfte auf dem Tische, und Wittwe Pilz, trotz des Sommertages in Jacke und Mütze verpackt wie ein Lapp länderweib, rüstete sich zu ihrer Marktfahrt. — „Is jar nichts zu danken", wies sie die Worte Nettchen's ab, die ihr auf den Hof gefolgt war, um der Abfahrt beizuwohnen. „Un is auch nix zu helfen, det macht sich die Pilzen schon alleene. Nu man rasch mit Ihnen noch ne Weile in't Federnest, und denn wird die Hedwigen Sie nach Berlin mitnehmen. Die hat en Schnabel für Zwee. Da wär't doch en Wunder, wenn sich für Sie nischt finden sollte." Der Gaul vor dem Bretterkarren griff aus, daS Federvieh ruckte mit lautem Gackern durcheinander und die Birh-Equipage setzte sich in Bewegung. Nettchen stand im Hofe und blickte dein altbekannten Gefährte nach. Ja, Gott hatte es gut mit ihr gemacht. Freundliche Menschen, freundliche Worte und eine Ruhe stätte für ihr Haupt und die Hoffnung auf Arbeit und neues Leben! Sie blickte über die Felder hin, die ring-herum im Morgen sonnenglanze lagen - - -- Ein Berliner Zug flog vorbei, dem Schöneberger Bahnhofe zu, und in seinem schrillen Pfiff lag etwas wie fröhliche, ermunternde Aufforderung. — Als Nettchen wieder das Haus betrat, war Hedwig aufge standen; Neugier und Mittheilsamkeitsbedürfniß hatten sie schließlich nicht mehr schlafen lassen. „Kommen Sie von außerhalb?" fragte sie, und ohne Antwort abzuwarten, setzte sie vcrständnißvoll hinzu: „Dann suchen Sie wohl Arbeit hier." Nettchen nickte stumm und setzte sich an den Tisch. Um einen Gefühlsaustausch mit dem fremden Mädchen war es ihr nicht zu thun. Mechanisch blickte sie den häuslichen Verrichtungen zu, die Hedwig nunmehr vornahm, dem Herumstohen und Schieben der Stühle, Tische, sowie dem polternden Zurechtrücken aller Gegen stände. Und während sie dieser kleinen, wichtigen Person zusah, deren possierliches Zwergengesicht bei diesen Beschäftigungen von so heiligem Ernst erfüllt war, mußte sie zum ersten Male seit Langem lächeln. „Ich bin bei Renzen, im Circus, als Garderobiere", sagte Hedwig, während sie geschäftig einen alten Lehnstuhl in den Rücken stieß. „Dort sollten Sie auch Ihr Heil versuchen. Arbeits- personal wird dort immer gebraucht. Und wenn ich Sie befürworte, kann's Ihnen nun und nimmer fehlen." Mit der Großberrenstraße war im Laufe der letzten Jahre eine Wandlung vorgegangen: der Ausläufer dieser Straße, der Kreuz berg, war zu einem prachtvollen Schmuck- und Schaustück um gewandelt worden, herrliche, saftiggrüne Abhänge warfen ihren sanften Schatten auf die sonnenglühenden Trottoirs, Calcaden sprudelten über groteske Felsblöcke und schattige Parkwege zogen sich im Gürtel des reich bebauten Hügels hin. Ruheplätze in friedlichen Grotten, Blumenflor, seltene Bäume und Pflanzen, eine ganze Miniatur-Alpen Scenerie lockte alltäglich seit „Er öffnung" der Berglandschaft die schaulustigen Berliner in Völker strömen an diese neugegründete Erholungsstätte, die mit einem Schläge der öden und abgesonderten, südwestlichen Vorstadt einen heiteren, beinahe glänzenden Charakter verlieh. Im Nu steigerten sich die Miethpreis« in den Wohnungen der anliegenden Straßen, der reiche Menschenverkehr brachte neue Verkehrsmittel mit, und auch für die Geschäfte der vernach läffigten Gegend eröffneten sich günstigere Chancen. Nur in Prechtler'S Drogenhandlung war der Geschäftsgang verhältnißmäßig flau und kein besonderer Fortschritt gegen die vorhergehenden Jahr« zu bemerken. E. Prechtler, der da- Gr-
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