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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.01.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-01-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000119022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900011902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900011902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Beide Beobachtungen drängten sich auch gestern auf. Der Abg. Bassermann, der durch eineReihewichtizer Fragen beachtenSwertheAntwortenvom BundeSrathStische herbeiführte, erregte weniger Aufmerksamkeit alS andere Herren, die sich mehr auf daS Pikante und Per sönliche warfen und sich dabei die Wirksamkeit eines stark populären ToneS, um keinen andern Ausdruck zu gebrauchen, vergegenwärtigten. Diesem Drange zur VotkSthümlichkeit Kat rin Mitglied der Leipziger Juristenfacultät einen von den Äbzg. Roeren und Müller-Meiningen auSgesührten Anfall auf seine Person zu verdanken. Der Gelehrte wird sich mit dem ReichSlagSbaumeister trösten müßen, der im Reichstag ähnliche Proben von Objektivität und Erziehung erhalten hat. Sachsen wurde weiterhin in Mitleidenschaft gezogen durch eine Erörterung des vielfach und auch von Seiten juristischer Theoretiker nicht immer rühmlich erwähnten UrtheilS eines Berliner Landgericht» über die Rechtsprechung de» höchsten sächsischen Gerichtshofes. Das Thema wäre vielleicht besser von einem Rechtskundigen angeschlagen worden; dock ist die Hauptsache gesagt worden, nämlich baß das Berliner Gericht, daS dem Dresdner OberlandrSgerichte Befangenheit gegen die Socialdemakratie zum Vorwurfe machte, seinerseits Vorein genommenheit für diese Partei verrieth. Dies geschah unzweifel haft durch die in der Presse bei der Besprechung des UrtheilS zu wenig hervorgehobene Zuerkennung de» Charakters „der Arbeiterpartei" an die Socialdemokratie. Damit hat gerade das Berliner Gericht ein eminent politisches Urtheil gefällt, waS nach einer gestern von dem Socialdemokraten Stadt hagen weitschweifig vorgetragenen Auseinandersetzung un zulässig ist, und eS hat damit ein nach der Meinung des größten TheileS der deutschen Nation falsches politisches Ur- theil ausgesprochen. Männer wie die ReichstagSabgcordncten v. Heyl und Bassermann, also keineswegs „anti social" gerichtete Beobachter, haben gerade neuerdings wieder stark betont, daß die Socialbemokratie nicht nur nicht cie Arbeiterpartei, sondern daß sie überhaupt keine Arbeiter partei ist. In der Thal ist für sie die Arbeiterschaft nichts Anderes, al» was dem nach oben Trachtenden die Leiter ist. Der sächsische BundesrathSbevollmächtigte Or. Fischer hat gestern das Verfahren des Berliner Gerichtes juristisch bemängelt, ohne daß ihm deswegen irgend Jemand entgegen getreten wäre. Vorher hatte fick der Reichsjustizsekretär vr. Nieberding geäußert, im Allgemeinen natürlich und nicht ohne zu erklären, daß die Bruchstücke sächsischer Gerichts- erkenntnisse, die der socialdemokratische Abg. Fischer ver lesen, ihn schon materiell nicht zur Abgabe eines UrtheilS befähigten. Vr. Nieberding verbreitete sich dabei über die Anwendung deS „groben UnfugSparagraphen" und sprach aus, daß diese nicht nur in Sachsen, sondern in der ganzen Rechtsprechung eine völlig befriedigende nickt sei. Diese Ansicht wird vielfach Zustimmung finden. Unglücklicker, als es gestern durch den Abg. Fischer ge schehen, kann diese aber kaum begründet werden. Dieser Redner glaubte einen Haupttrumpf auszuspielen, als er erzählte, ein Vater sei wegen groben Unfugs verurtbeilt worden, weil er seinem Sohne inS Grab nackgerufen: „Leb wohl, auf Nimmerwiedersehen." Daß der Mann nicht von seinem Schmerze nm den Verlust des Kindes zu dem nt diesen Worten liegenden Bekenntniß gedrängt worden ist, liegt auf der Hand. Es kann ihm um nichts Andere» zu thun gewesen sein, als Leute, die an die Unsterblickleit glauben, zu ärgern. Und daS ist „grober Unfug", m diesem Falle besonders ärgerlicher Unfug eben wegen deS Verhältnisses deS den Frieden des Kirchhofes mißachtenden Redners zu dem Verstorbenen. Die Zweifel an der Richtig keit der Rechtsprechung werden jedenfalls durch diese Be strafung nicht gestützt. Die Fragen der Gesetzgebung, wie sie der Abgeordnete Bassermann anregte, kamen, wie gesagt, gestern in Folge der „Vertiefung" in die Rechtsprechung zu kurz. Es ist hervorzubeben, daß der Wunsch des Redners nach besserer Regelung der Be strafung jugendlicher Verbrecher nach der Erklärung des Herrn Or. Nieberding aus baldige Erfüllung Aussicht hat. Das Gleiche scheint von dem Schutze der Bauband werker, nicht aber von den kaufmännischen Schieds gerichten zu gelten. Was die Revision deS Straf verfahrens, insbesondere die Berufung gegen die Urtbeile der Strafkammern angeht, die Herr Bassermann gleichfalls dringend wünscht, so gab der NeichSjustizsekretär die interessante Erklärung ab, die Regierungen würden in der Sache nichts thun, so lange der Reichstag sich mit ihr beschäftige, WaS bekanntlich schon seit längerer Zeit der Fall ist. Danach ist die parlamentarische Initiative vielleicht ein Hindernis der Wiedereinführung der Berufung; sie würde sich damit unseres Erachtens recht nützlich erweisen. Die erste Lesung Vcs Etats ist gestern im preußischen Abgeordnetenhanse zu Ende gegangen, ohne die ver worrene innere Lage des führenden preußischen Staates auch nur im Mindesten geklärt zu haben. Die gestrige Debatte, in der der Etat nur von dem Abg. Gotbein von der Frei sinnigen Vereinigung in einer Rede über Verkehrs- und Eisenbabnpolitik,' Canalvorlage und den freisinnigen Antrag auf Abänderung der Wahlkreiseintbeilung gestreift wurde, war von Bedeutung nur deshalb, weil sie deutlich zeigte, wie unerfreulich das Verhältniß der drutsch- conservativen Fraktion zu der national liberalen sich allmählich gestaltet hat. Der conservative Abg. v. Köller wandte sich in einer längeren Ausführung fast ausschließlich gegen die Nationalliberalen, besonders gegen den Abg. v. Epnern, dem er mit Wohlbehagen allerlei böse Schmeicheleien mit stark persönlichem Beigeschmack sagte; dem Angegriffenen aber wurde die Möglichkeir einer sach lichen Entgegnung durch einen conservativen Schlußantrag,' die Möglichkeit einer Abwehr in Form einer persönlichen Be merkung durch Entziehung deS Wortes abgeschnitten. Sonst ist aus der gestrigen Berathung, die mit der Verweisung deS größten TheileS deS Etats an die Budgetcommission endete, nur noch bervorzuhebcn, daß der neue CultuSminister Studt abermals polnische Beschwerden in würdiger, sachlicher Weise richtig stellte und insbesondere einen be rechtigten Unterschied gemacht wissen wollte zwischen dem leidlichen Wohlstände der Bauern polnischer Zunge in Preußen und der wirthschaftlichen Lage der Landbevölkerung in Polen und Galizien. Die nächste Sitzung wurde, offenbar aus Rücksicht auf die große Zahl der Doppelmandate und aus die heute im Reichstag zur Besprechung gelangende Inter ¬ pellation wegen der englischen Dampferbeschlagnahme, auf Montag anberaumt. Die mit der Prüfung der Unterrichtsvorlagc beauftragte Commission der franzöfischcn Lcputirtcnkammer bat mit vier zehn gegen sieben Stimmen die Bestimmungen abgelehnt, wonach Bewerber um ein StaatSamt eine bestimmte Zeit in staat lichen Lehranstalten gewesen sein müssen. Da diese parla mentarische Commission bereits zu der Zeit gewählt worden, in der M6line sich noch an der Spitze der Negierung befand, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß die Deputirtenkammer selbst zu einem anderen Ergebnisse gelangt. Die Vorgänge, die sich aus Anlaß des DreyfnsprocesseS im Gerichtssaale und anderwärts abspielten, haben gezeigt, wohin es führt, daß ein nicht unbeträchtlicher Tbeil der französischen Officiere die Ausbildung in den Vorbereitungsanstalten der Jesuiten erhalten bat. Da für diese Kategorie von Officieren gilt, kommt wesent lich auch für zahlreiche Civilbeamte in Betracht, so daß die Unte'rricktsvorlage gewissermaßen als ein Act der Nothwehr behufs Aufrechterhaltung der republi kanischen Einrichtungen angesehen werden mußte. Möline und Ribok, die beide nach der Regierung trachten, setzten denn auch alle Hebel an, um den nunmehr gefaßten Beschluß der UnterrichtScommission herbeizuführen. Andererseits werden Brisson und dessen Anhänger nickt unterlassen, im Parla mente dahin zu wirken, daß dieses den Beschluß deS Aus schusses verwirft. Unzweifelhaft steht ein neuer parlamenta rischer Ansturm der Neu-Boulangisten, Monarchisten und der Parteigänger Molinc's bevor, zu denen sich auch Ribot ge sellen wird, dessen Zweideutigkeit gegenüber dem Ministerium Waldeck-Rousseau längst deutlich zu Tage getreten ist. Der Krieg in Südafrika. —9. Die bis heule Mittag eingetroffenen Meldungen be stätigen nur das bereits gestern Abend und heute Morgen über den Tugela Uebcrgang Mitgetheilte. Wir lassen dieselben hier folgen: * Lontzou, 18. Januar. Das KriegSamt erhielt folgende Depesche des Generals Buller aus Spearman's Camp vom 18. d. Mts.: Eine Batterie Feldartillerie, eine Haubitzen» Batterie und General Lyttlet0n'S Brigade über schritten den Tugela bei PotgieterS Drift. Die Stellung de- Feindes wurde von unS beschossen. Fünf Meilen auswärts überschritt General Darren den Fluß aus einer 85 Parbs langen Pontonbrücke und hofft, am Abend mit der Truppe fünf Meilen vom Fluß vorgerückt zu sein. Vor Darren'» rechten Flügel ist der Feind eisrig mit Verschanzungs arbeiten beschäftigt. * London, 18. Januar. Dem „Reuter'schen Bureau" wird vom Mount Alice, der PotgieterS Drist beherrscht, vom 18. d. M. gemeldet: Die Vorwärtsbewegung zum Entsatz» von Ladysmith begann Mittwoch von Freie und Ehieveley. Wenige Meilen hinter Freie kamen auf dem Wege nach Springfield unsere Truppen an den Uebungs- schießscheiben der Boeren vorüber. Diese stellten eine in kleiner Gefechtsordnung vorrückende Truppe dar und waren von den Boeren von den benachbarten Hügeln aus be schossen worden. Nachdem die Ausklärungsmannschaften berichtet hatten,daßSpringsield nicht besetzt sei, wurde dieser Platz von britischen Truppen besetzt. Der Zug der vorrückenden Truppen erstreckte sich auf mehrere englische Meilen und umfaßte wahrscheinlich 5000 Wagen. Die Truppen rückten nach dem Mount Alice vor, nachdem alles verdächtige Gelände sorgfältig aufgeklärt worden war. Der Feind, der am 14. d. M. bei PotgieterS Drist stand, war offenbar überrascht worden. Ein Theil der Colonialtruppen schwamm unter Feuer durch den Fluß und brachte von der feindlichen Seite eine Wagenfähre her über. Ter Feind brach eiligst das Lager ab, das sich auf den Höhen gegenüber dem Atlasberg befand. General Buller schlug sein Hauptquartier in einem Gehöfte auf, das dem Boeren Martinus Pretorius gehört, der verschwunden ist. Am Freitag war eine starke Explosion vernommen worden; es ist nunmehr seitgestrllt worden, daß der Feind die im Bau befindliche Brücke siebrnMeilrn oberhalb von PotgieterS Drift zerstört hat. General Buller erließ einen kraftvollen Ausruf und Tagesbefehl, der mit den Worten beginnt: „Wir schreiten zum Entsätze unserer Kameraden nach Ladysmith! Es giebt kein Zurück" und davor warnt, die weiße Flagge als zuverlässige» Zeichen der Uebergabe anzu sehen. Die Stimmung der Truppen ist zuversichtlich und begeistert, der Gesundheitszustand ausgezeichnet. * Landon, 18. Januar. Am Donnerstag, II. Januar rückte Lord Dundonald mit der berittenen Brigade aus und nahm durch eine schnelle Bewegung die Brücke bei Springfield. Dann rückte er weiter vor und nahm eine starke Stellung auf den Hügeln oberhalb PotgieterS Drift, welche diesen Uebergang beherrschen, ein. TieBoeren waren auf diese Bewegung gar nicht vorbereitet. Einige von ihnen badeten im Flusse. Am Abend kam Infanterie herbei. General Lyttletoa's Brigade erhielt zunächst den Auftrag, die Stellung auf dem Zwartskop-Hügel zu halten. Dann rückte Buller'» ganze Truppe mit Ausnahme einer starken Abteilung, welche Colenfo hielt und von Hildyard'S Brigade, welche bei Springfield blieb, vor. Dir Fähre von PotgieterS Drift befand sich auf dem jenseitigen User des Tugela. Ein Leutnant und fünf Mann der South African Light Horse schwammen über den Fluß und brachten sie an da» dies seitige Ufer. Nachdem man vier Tage am süd lichen Ufer de» Flusse» gewartet hatte, begann am 16. Januar das Vorrücken nordwärts. Die Ueber- fchreitung deS Flusses geschah unter Schwierigkeiten. Das Wasser war so hoch, daß di« Wagen ganz davon bedeckt wurden. General Lyttleton gelangte mit seinen Leuten am 16. Nachmittags mittelst der Fähre und der Furt über den Tugela hinüber und nahm an dem jenseitigen User eine niedrige Hügelreihe, welche eine englische Meile davon entfernt ist, ohne viel Widerstand zu finden. Während der Nacht wurde eine Batterie Haubitzen hinübergebracht. Gestern beschossen Marine- geschützt und Haubitzen vom Alice Berge, bei Zwartskop, aus die starken Stellungen der Boeren. Gestern überschritt dann auch Sir Charles Warren den Tugela füns bis sechs englische Meilen oberhalb bei Wagon Drift oder TricharLts Drist. Tie Boeren leisteten ihm mit Kanonen und Gewehrfeuer heftigen Widerstand. Die Boeren sollen dort fünf Meilen von. Feuilleton. iss Die ganze Hand. Roman von Hans Hopfen. Nachdruck »krbetkn. Andere und wieder Andere, Andere und doch dieselben! Waren sie nicht in allen "Jahrhunderten von billigen und ge rechten Forderungen ausgegangen und hatten sich alsbald, vom ersten Erfolge berauscht, durch Gewaltthat entehrt und um den Tieg betrogen? War es nicht immer dasselbe Lied, das, alle Herzen gewinnend, wie «ine heilige Hymne nach Gerechtigkeit flehentd, anhebt, alsbald sich in Wüstes Geschrei nach Gewaltthat uNd Schreckensherrschaft verwandelt und abstößt, denn Gewalt that ruft Gewalt zur Abwehr und Schrecken verthiert. Was war es anders, als die Verwirklichung des Allheilmittels seiner Partei, des revolutionären Terrorismus, wenn der Arbeiter rechtlos zum Gehorsam gezwungen wurde, zu arbeiten oder zu feiern nach Befehl Derer, die den Arbeiterausstand comman- dirten? «War 'daS nicht wieder der Anfang des Endes einer großen Bewegung, die vom Durst nach Gerechtigkeit ausgegangen war und von Gewaltthat zu Gewaltthat, um Schrecken einzu jagen, fortschritt? War keine Möglichkeit, den Verirrten Halt zu- zurusen, ehe der Weg, aus dem sie, von scheinbarer Macht be rauscht, hinkcemnAten, in ein großes Verderben ausmündete? Konnte man den von Schrecken Geblendeten nicht das wahre Ge sicht der Bewegung zeigen, daS nicht mehr menschenfreundlich, sondern menschenfeindlich war? Blieb er seinem erwählten Berufe, dem Arbeiter zur Freiheit und zu menschenwürdigem Dasein zu helfen, nicht treuer, wenn er ihm d i e Freiheit, die jetzt vor Allem gefährdet war, zurück- erobern half, die Freiheit de» Arbeitswillen», die Freiheit, sich seine» Leden» Unterhalt redlich zu verdienen, wann und wo, bei wem und mit wem Einer arbeiten wollte? Freilich würden die Pfaffen des herrschenden Socialismus ihm die 'Parteizugehörigkeit aberkennen. Mochte eS d'rum sein. Mochte man ihm die LivrSe eine» Parteidiener» in Fetzen vom Leibe reißen, wenn der freie Mensch in voller Kraft übrig blieb, der, wenn er «für seine Mitmenschen litt, für ihre Wohlfahrt kämpfte. Um klar gu erkennen, wie weit die herrschenden Systeme solch' eine Hemmung rechtfertigten und ertrugen, um seine innere Wandlung und sein äußere» Auftreten vor sich selbst zu recht sertigen, schupfte er weiter in Gedanken, häufte eine kleine Bücherei um sich aus und las und sann und schrieb, bald die Tage, bald die Nächte lang. 'Es war Vie Art seiner Natur, immer nur einem Zwecke zu leben, immer nur einem Bedürsniß sich hinzugeben; war es Arbeit oder Genuß, rücksichtsloses Behagen over emsige Mühsal, er konnte nur Eines treiben, nur für Eines leben. Die glücklicher ab gewogene 'Abwechselung von Arbeit und Erholung, in der so Mancher feine Kräfte wahrt und seine Natur im Gleichgewicht er hält, ihm war sie versagt. Konnte er in leichtsinnigen Anwandlungen schwelgen und müßig gehen, als gäb's auf Erden keine harte Arbeit mehr für ihn und wäre das Leben von unabsehbarer Sorglosigkeit, der Genuß ohne Brtterniß wie ohne 'Ende, so gab's auch, wenn er sich der Arbeit widmete, nur Arbeit für ihn; er tauchte wochenlang, monatelang nicht aus ihr auf; er vergaß darüber vollkommen, daß es Freuden auf der Welt gab und Menschen, die einen An spruch auf feine Liebe hatten. Er nährte sich, wie's eben kam, mit dem Taschenmesser in der Hand von Brod und Speck oder Käse, die Augen in einem Buch. Er schlief, wenn er müde wurde, den Kopf aus der Stuhllehne, die Beine auf dem Schreibtisch. Zu seiner nothdürftigen Erholung that er gemeine Arbeit, sägte Holz für seine Wirthsleute, fegte die Stube, harkte den Garten von Herbstblättern rein, beschnitt die Aefte, grub und schaufelte — das war der Abwechselung genug und erfrischte die Denk maschine. Wochenlang kam er nicht über die Straße. Selten nur rang er sich ein paar tröstende Zeilen für das geliebte schöne Weib ab. Bald, sehr bald würde er ja auch wieder seiner Liebe leben können. Derweilen aber wuchsen ihm die Gedanken, gliederten und ordneten sich. Sie zwangen ihm die Feder in die Hand. Nur in etlichen großen Zügen wollte er zunächst eine programmatische Schr'ift Hinweisen; aber aus dem Aufsatz ward eine Broschüre, aus der Broschüre ein 'Buch, und es schwoll unter seiner Hand, und wenn er in Augenblicken des Ausathmens und Sichbesinnens still stand und die Faust auf das wachsende Manuskript legte, sagte er mit einer stolzen Mischung von Pflicht- und Glücks gefühl: „Das bin ich, und das wird von mir bleiben!" War ihm anfangs dieser Studien oft so bange und schmerz lich zu Muthe gewesen, wie in feiner JünglmgSzeit, da die wachsende Einsicht die goldenen Märchen aus der Kindheit nicht mehr für wahr halten konnte, und selbst aus dem liebgewordenen Bekenntniß ausscheiden mußte, was der reifire Verstand jedes stichhaltigen Beweise» baar erkannte, war er vor dem Schimpf der Fahnenflucht und des Renegatenthums zurückgeschreckt und hatte Schritt für Schritt seine gutgläubige Socialistenseele vor der ausdringenden Wahrheit vertheidigt, so befand er sich jetzt wie damals, von der Wahrheit besiegt, wohl, klar und frei. Freilich hieß sein 'Buch noch „Der Fall Seegräber"; aber es war nicht nur die Erörterung des einen Falles, seine Unter suchung erstreckte sich auf das ganze philosophische Gebäude, das die Theorie der Socialdemokratie trug, sowie auf den heutigen Stand, die Aussichten und die Berechtigung der weithin reichenden mächtigen Partei. Die Geistesarbeit der letzten Monate hatte ihn gelehrt, daß unter den Theoretikern des Socialismus heute große Verwirrung und bei den 'Ehrlichen eine gewisse Verzweiflung, wie bei den Be wohnern eines in allen Fugen krachenden Gebäudes herrschte. Was er in Angst vor eigener Forschung „Fahnenflucht" genannt hatte, war, genau besehen, der allgemeine Zustand Derer,' die da wußten und nicht logen . . . Die fundamentalen Maximen der mächtigen Denker, welche die socialistische Bewegung in Deutschland vor fünfzig Jahren eingeleitet Hatton, waren ab genutzt uns entsprechen den heutigen Verhältnissen Durchaus nicht. Waren sie von Anfang an auf die Beobachtung der Zustände zweier fremder Völker, der englischen und französischen Verhält nisse, begründet gewesen, so stimmten sie heute mit jenen nicht mehr, die sich ganz und gar verändert hatten; auf die Verhältnisse im Vaterland« hatten sie nie recht gepaßt und paßten heute schon gar nicht. 'Ein Princip nach dem anderen versagte, sowie man es genau in Untersuchung nahm. Es war mit dem „ehernen Lohngesetz" Niemand mehr bange zu machen; es war nichts mit der vielgerühmten „Krisentheorie" und schon ganz und gar nicht- mit der „Verelendung der Massen": denn der Kampf um die Steigerung der Arbeitserträgnisse, die kluge Fürsorge der Regie rungen, und vor Allem das allgemeine Wachsen deS Wohlstandes in Deutschland hatten das gerade Gegentheil bewirkt: Es ging dem Arbeiter nicht nur nicht schlechter, sondern unleugbar besser als je vordem, und er fühlte das, und wie die Arbeiter sich das aus ihrer eigenen Tasche beweisen konnten, so mußten auch die Führer nach und nach darauf verzichten, das Gegentheil Dessen, waS fick naturgemäß entwickelt hatte, künstlich Herstellen zu wollen und mit einem absichtlich erzeugten Massenelend, das sich eben nicht wie eine willkürliche Theorie construiren ließ, weiter zu agitiren. Da nun die Zahl der Besitzenden erwiesenermaßen immer zunahm, blieben die als unabwendbar und ungeheuerlich wirksam prophezeiten „Krisen" aus, und der in baldige Aussicht gestellte „Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellsckasts- ordnung" ließ hartnäckig auf sich warten. SS war nicht» mit dem vieloerheißenen „großen Kladderadatsch"; selbst die „Collecti- virung der Productionsmittel" war aus den Idealen der Theore tiker bereits ausgeschieden, und das Anstreben der „Diktatur des Proletariats" war sinnlos geworden; denn bei wachsendem Ver dienst und erhöhter Lebensweise war der Proletarier selber Klein bürger geworben, ein Bourgeois, der sich Bourgeoisgewohnheiten zulegte. Wohl that man noch dergleichen, als wäre Alle» noch so, wie es die Patriarchen und Propheten der Partei geweisfagt uns befohlen hatten; doch wußten die Einsichtigen ganz genau, daß auf den morschen Principien keine leistungsfähige Herrschaft auf- zurichtcn war, un) sie fürchteten thatsächlich nichts mehr, als eines unvorbereiteten Tages die politische Macht in die Hände gelegt zu erhalten. Die Führer, uno gerade sie tüchtigsten unter ihnen, erklärten rund heraus, sich und die Partei für unfähig, vie Leitung der Staatsgeschäfte zu übernehmen, und bezeichneten cs als das größte Unglück, das sie treffen könnte, wenn ihnen im Ernste die Herrschaft zufielt. Dafür mehrten sich die Reihen der Partei, besonders bei den Wahlen, durch die allezeit vorhandenen Unzufriedenen aller Stände und Berufselassen. Wem immer ein Groll auf Staats - rder Communalorgane erwachsen war, wer sich Uber den Steuer boten oder die Gesindeordnung geärgert batte, der Budiker, dem man die Nahrungsfälschung gelegt, der Schutzmann, den sein Leutnant angeranzt hatte, der Droschkenkutscher, dem sein Gaul umgestanden war, der Subaltcrnbeamte, der keine Gratifikation erhielt, der Kleingewerbler, dem der Großbetrieb den Verdienst schmälerte, wer sich aus religiösen Gründen irgendwie benach- iheiligt glaubte, und Vas ganze Heer der aus verschiedenen Gründen Uebelgelaunten verstärkte bei jeder Wahl die Stimmen - zahl der Socialdemokraten, von denen sie, mochten ihre Theorien krumm oder gerade sein, einfach annehmrn durften, daß sie bei nächster Gelegenheit schon dem Racker Staat die Hölle heiß machen würden. Vorübergehender Verdruß konnte königstreue deutsche Männer so weit verblenden, daß sie ihre Stimmzettel Candivaten zuwarfen, die schamlos genug waren, mit dem Brandmal der Vaterlandslosigkeit zu kokettiren. Dadurch wuchs die Partei nummerisch ins Ungeheure; aber sie degenerirte dabei, denn dieser ungeheure Zuwachs war kein proletarischer, sondern ein bürgerlicher, und wenn sie nun noch eine Partei war, so war es die der schlechthin Unzufriedenen, keine eigentlich proletarische Partei mehr, sondern «ine gemischt bürgerliche, wenn auch mit einem Haufen socialiftischrr Dogmen belastet, an die nur mehr die Dummen glaubten, die aber mit der thatsächlichen Entwickelung und den heutigen Zuständen unseres politischen und socialen Leben» unvereinbar waren.
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